Irrtümer in der Shakespeare-Forschung

I. Merk- und Denkwürdigkeiten und eine Notiz zu Hamlet 

Manchmal ist Freuds Zigarre einfach eine Zigarre und manchmal ist sie
keine Zigarre. Und René Magrittes Pfeife sieht zwar ganz so aus wie eine Pfeife, aber der Maler behauptet, es sei keine Pfeife, die er gemalt habe. Manchmal ist sie es vielleicht doch. Eine Regel, die man im Kopf behalten soll, wenn man sich mit der englischen Rechtsprechung der Frühen Neuzeit befasst, so man nicht Gefahr laufen will, selbst zur Pfeife zu werden. Der Tenor dieser kleinen Abhandlung in Folgen über die Interventionen der Lord Chamberlains in der Druckergilde wird sein, dass fast alle Literaturwissenschaftler, die sich auf diese Interventionen, Schreiben an die Druckergilde, berufen haben, zur Pfeife geworden sind, weil sie diese Regel nicht beachtet haben.

Ein Prozess oder kein Prozess?

Zu irgendeinem Zeitpunkt fand der folgende Prozess statt:

Sir John Peters wird von Sir Peter Johnson auf Herausgabe eines Grundstückes verklagt, da er es unrechtmäßig gepachtet habe. Ursprünglicher Pächter des Landes sei er selbst gewesen. Er sei jedoch von einem gewissen Sir William Richards unrechtmäßig aus seinem Besitz verdrängt worden. Erst danach habe Sir John Peters das Land gepachtet, aber es ist klar, dass Sir Johnson den älteren und damit rechtskräftigeren Titel besitze. Sir John Peters streitet dieses vehement ab und hält dagegen, dass er das Land aufgrund eines „warrant" von Richard Williams erhalten habe. Richard Williams ist bei der Verhandlung anwesend. Das Wort „warrant", eine Garantie, steht hier nicht zufällig. Mit einem „warrant" wurde bei Übereignungen dem Käufer versichert, dass falls sich später herausstellen sollte, das Land könne gar nicht veräußert werden, weil es kraft Gesetz nur im Erbgang vermacht werden darf (der sogenannte „entailed estate"), der Verkäufer zusichert, dem Käufer ein anderes Grundstück zu übereignen; oder der „warrant" konnte auch darin bestehen, dass der Erbe selber erklärt, mit der Veräußerung einverstanden zu sein. Damit behauptet Sir John Peters, das Land sei veräußerlich und unterliege nicht mehr dem Statute de Donis Conditionalibus (1290), dem „Gesetz zu den bedingten Schenkungen oder Übereignungen", das die Veräußerbarkeit von Grundbesitz im Interesse des gesetzlichen Erben (meist der älteste Sohn) stark eingeschränkt hatte. Aus den jetzt folgenden dramatischen Ereignissen werden wir ersehen, dass Sir John Peters lügt.

Jetzt bittet der Kläger Sir Peter Johnson das Gericht, ob er sich draußen vor dem Gerichtssaal mit dem Garantiegeber Richard Williams unterhalten darf. „To imparl", hieß das. Es war ein Überbleibsel aus der Zeit, als die Plädoyers noch ausschließlich mündlich erfolgten. Auch das ist ein wenig merkwürdig, denn diese Zeiten waren längst vorbei. Dabei brauchen wir nicht stehenbleiben. Wichtig ist, dass nich nur der Beklagte Sir John Peters lügt, sondern auch der Kläger Sir Peter Johnson falsch spielt. Oder vielleicht ist es der Garantiegeber Richard Williams. Nach einer Weile betritt Sir Peter Johnson den Gerichtssaal. Allein. Richard Williams ist verschwunden. Hat ihn Sir Peter Johnson erschlagen? Oder bestochen? Oder hat Richard Williams einen alten Groll gegen Sir John Peters gehegt und ihn deshalb heimtückisch hereingelegt? Auf jeden Fall verliert Sir John Peters den Prozess, das Land geht in den Besitz von Sir Peter Johnson über.  Das Gericht entschädigt Sir John Peters, indem es Richard Williams verurteilt, Sir John Peters ein Grundstück im gleichen Wert zu schenken. Das ist nobel, wird aber nicht viel nutzen, denn Richard Williams besitzt kein Grundstück.

Läse man einen Bericht über einen solchen Prozess - und es fanden viele solche Prozesse statt -, würde man sich vermutlich am Kopf kratzen und sich Fragen stellen müssen. Man muss es nicht, denn man kann in Werken über die englische Rechtsgeschichte unter dem Begriff „common recovery" nachschlagen. „Common recovery" heißt soviel wie „gemeinsame Beitreibung". Es handelte sich um einen als echt geführten fiktiven Prozess, mit dem das Statute de Donis Conditionalibus umgangen wurde. Dem Wesen nach handelt es sich um eine Transaktion. In Wirklichkeit braucht der Beklagte Sir John Peters Bargeld und will Sir Peter Johnson ein Grundstück verkaufen. Er kann es aber nicht, weil das besagte Gesetz es nicht erlaubt. Wenn er aber durch einen Urteilsspruch sein Recht verwirkt, ist das kein Verkauf mehr und wird von Sir Peter Johnson das Bargeld bekommen. Der Garantiegeber Richard Williams lebt übrigens noch. Denn er wird auch als Garantiegeber dabei sein, wenn vor dem gleichen Gericht später wieder ein solcher Prozess geführt wird. Er ist immer im Gericht anwesend, denn er ist der Gerichtsausrufer, der „crier of the court". 

Der „crier of the court" spielte oft den Gewährsmann, den „voucher". In den meisten Fällen schloss eine „conditional gift", „donatio conditionalis", „bedingte Schenkung" noch weitere Erbberechtigte ein. Um auch deren Anspruch zu tilgen, waren dann „double vouchers", „Triple vouchers" usw. notwendig.

Es war nicht die einzige Art eines fiktiven Prozesses mit dem Ziel, ein lästiges Parlamentsgesetz, ein „Statute",  zu umgehen. Auch die „fine" (hier nicht als „Bußgeld" zu verstehen, sondern im Sinne von „final", „endgültig", Finalis Concordia lautete die amtliche Bezeichnung, war ein Scheinprozess, der angewendet werden konnte, um die erbrechtliche Bindung von Land zu durchbrechen. Eine andere Möglichkeit war das Eingehen einer Verpflichtung vor einem Handelsgericht (das damalige Handelsrecht hatte sich außerhalb des Common Law entwickelt, war dennoch gültiges Recht: die manchmal sehr zuversichtlich geäußerte Ansicht, nur das Common Law sei gesetzlich bindend, ist etwas naiv). Die beiden wichtigsten Handelsgesetze waren das Statute Merchant (Händlergesetz) und das Statute Staple (das Handelsrecht in Städten, von denen aus „staple goods", „Stapelware": Wolle, Getreide, Metalle, Holz, usw. exportiert wurden). Geführt wurden dort die Gerichtsverhandlungen anhand nicht von den Schuldverschreibungen, sondern von Anerkenntnissen dieser Schuldverschreibungen, der sogenannten „recognizances" (etwas detaillierter ausgeführt unter http://www.elizabethanauthors.com/Part-2-Ch-1,2,3.pdf)

All diese Begriffe verwendet Hamlet in der Totengräberszene (V.1):

There's another. Why may not that be the skull of a lawyer? Where be his quiddits now, his quillets, his cases, his tenures, and his tricks? Why does he suffer this rude knave now to knock him about the sconce with a dirty shovel, and will not tell him of his action of battery? Hum! This fellow might be in's time a great buyer of land, with his statutes, his recognizances, his fines, his double vouchers, his recoveries. Is this the fine of his fines, and the recovery of his recoveries, to have his fine pate full of fine dirt? Will his vouchers vouch him no more of his purchases, and double ones too, than the length and breadth of a pair of indentures? The very conveyances of his lands will scarcely lie in this box; and must th' inheritor himself have no more, ha? (V.i.96-110).

August Wilhelm Schlegel übersetzt:

Da ist wieder einer. Warum könnte dies nicht der Schädel eines Rechtsgelehrten sein? Wo sind nun seine Klauseln, seine Praktiken, seine Fälle und seine Kniffe? Warum leidet er nun, daß dieser grobe Flegel ihn mit einer schmutzigen Schaufel um den Hirnkasten schlägt, und droht nicht, ihn wegen Tätlichkeiten zu belangen? Hum! Dieser Geselle war vielleicht zu seiner Zeit ein großer Käufer von Ländereien, mit seinen Hypotheken, seinen Grundzinsen, seinen Kaufbriefen, seinen Gewährsmännern, seinen gerichtlichen Auflassungen. Werden ihm seine Gewährsmänner nichts mehr von seinen verkauften Gütern gewähren als die Länge und Breite von ein paar Kontrakten? Sogar die Übertragungsurkunden seiner Ländereien könnten kaum in diesem Kasten liegen: und soll der Eigentümer selbst nicht mehr Raum haben? He?

Lexikalisch richtig übersetzt ist das nicht. Es wäre wohl auch unklug gewesen zu versuchen, alle Wortspiele getreu im Deutschen wiederzugeben. Aber es gehen wichtige Informationen verloren. Vor allem wichtige biografische Informationen. Wir beziehen uns deshalb auf den englischen Text. Denn Hamlets Gedanken könnten geradewegs aus dem Leben Edward de Veres gegriffen sein - und sind es wohl auch. So sollte zum Beispiel der letzte Satz lauten: „Und sollte der Erbe („inheritor") selbst nicht mehr haben", nicht mehr Land als der Größe eines Grabes. Der „Eigentümer" kann hier schwerlich gemeint sein, denn der Eigentümer ist der große Käufer von Land, der Rechtsanwalt („lawyer"), dessen Schädel Hamlet betrachtet. Wir haben gesehen, dass mehrere von Hamlet benutzten Ausdrücke: „statutes", „recognizances", „fines", „double vouchers", „recoveries" Rechtstermini aus Gerichtsverfahren darstellen, deren Zweck es war, erbrechtliche Beschränkungen von Landverkauf zu umgehen und den Erben damit um seine Grundbesitzerbschaft zu bringen. Der Gedanken an den Erben, dem nichts übrig bleibt, kommt hier als Hintergedanke. Edward de Vere hatte die meisten seiner ererbten Grundbesitzungen verkauft, durch „Statute Staple", „Statute Merchant" und „recognizances; durch „common recoveries" und „double vouchers"; durch „fines. Es blieb für seinen Erben nicht mehr viel übrig. Hamlets Worte eignen sich als Rückblick auf Edward de Veres Leben.

Auch in anderer Hinsicht enthält dieser Akt V einige Anklänge an Edward de Veres Leben. Den Ausdruck „se offendendo" kommentieren viele als eine komische Verballhornung eines Clowns. Das Wort ist jedoch sehr sinnvoll. Das englische Recht kennt nur den Ausdruck „se defendendo", „sich selbst verteidigen", Tötung aus Notwehr also. Es war mit der Begründung des „se defendendo", dass Edward de Vere als Jugendlicher von der Tötung des Thomas Brynknell freigesprochen worden war.

„Se offendendo", auch wenn es diesen Begriff im englischen Recht nicht gab, bedeutet somit „sui cidere", Selbstötung, Freitod. Und das war es, was Ophelia, über die der Totengräber spricht, begangen hatte.

Schließlich: Es ist seit Langem bemerkt worden, dass die Stelle:

It must be se offendendo, it cannot be else. For here lies the point; if I drown myself wittingly, it argues an act, and an act hath three branches - it is to act, to do, to perform; argal, she drowned herself wittingly...

Give me leave. Here lies the water - good. Here stands the man - good. If the man go to this water and drown himself, it is, will he nill he, he goes, mark you that. But if the water come to him and drown him, he drowns not himself. Argal, he that is not guilty of his own death shortens not his own life.

teils fast wörtlich dem Prozess Hales vs Petit entnommen ist. Sir James Hales, Richter am Court of Exchequer, hatte sich im April 1554 in einem Fluss nahe Canterbury ertränkt. Die beweglichen Güter von Selbstmördern wurden, falls nicht auf geistige Umnachtung erkannt wurde, von der Krone konfisziert. Die Witwe Hales verlor ihr Grundstück (das, weil die Pacht auf eine gewisse Anzahl Jahre befristet war, nach dem englischen Gesetz als bewegliches Gut galt), weil ihr Titel nur gleichzeitig mit dem Beschlagnahmerecht der Krone in Wirkung trat. Edward de Veres Vorkehrungen kurz vor seinem Tod könnten so verstanden werden, dass er die Lehren aus dem paradigmatischen Fall Hales gezogen hätte. Er übertrug alle beweglichen Güter im Rahmen einer Treuhandvereinbarung auf seine Ehefrau. Nehmen wir an, Edward de Vere hätte vorgehabt, Selbstmord zu begehen. Um sicher zu gehen, dass der Anspruch seiner Frau auf die beweglichen Güter („chattels") vor dem der Krone wirksam wurde, wäre es genau das, was er hätte tun sollen (siehe „Beging Shakespeare Selbstmord" in Neues Shake-speare Journal, Band IX, 2004, S. 83-144). Hätte er Selbstmord begangen und die beweglichen Güter, wie üblich, in seinem Testament vermacht, so wäre der Anspruch der Krone gleichzeitig mit der seiner Ehefrau in Wirkung getreten.

Er hat kein Testament gemacht. Hamlet war sein Testament. Das Stück (die gute Fassung) wurde ja kurz nach seinem Tod in Druck gegeben.

In einem Bericht über eine Globe-Konferenz (28.11.2009, "Shakespeare: From Rowe to Shapiro") zitiert Richard Malim James Shapiro:

Of course there must be some shards of his life in the works, but we do not know where or why they are included.
 Shapiro has no confidence in even the ones suggested by Wells or Weiss."
"Selbstverständlich müssen in seinem Werk irgendwelche Splitter seines Lebens zu finden sein, aber wir wissen nicht, wo und weshalb sie Eingang finden.
Shapiro traut selbst denjenigen nicht, die von Wells und Weiss vorgebracht werden."
Originalbericht von Malim (Englisch)

Nun, hier sind einige aus dem fünften Akt von Hamlet.

© R. Detobel


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