WILLIAM SHAKSPERE (1564-1616)

Die Reihe der Kandidaten hat mit William Shakespeare von Stratford-upon-Avon anzufangen, denn, schreibt Professor Thomas Metscher in der „Jungen Welt" vom 24.02.2010:

„Von allen bekannten Kandidaten, so viel kann gesagt werden, ist der Mann aus Stratford, der von 1564 bis 1616 lebte und die größte Zeit seines Lebens in London verbrachte, immer noch die beste Wahl. Zumal er die Grundvoraussetzung erfüllt, die an den Verfasser dieser Dramen zu stellen ist: Er war ein mit allen Wassern gewaschener Mann des Theaters: Schauspieler, Regisseur, Stückeschreiber und vermutlich auch so etwas wie ein Intendant. Denn nur ein Praktiker des Theaters hat diese Stücke, die mit der Erfahrung des Theaters gesättigt sind, aufschreiben können. Kein tanzender Aristokrat, und sei er noch so wölfisch, hätte das vermocht."

Die Methode, die man zur Erschließung des Zuganges „zu einem unbefangenen Umgang mit Shakespeare" anzuwenden hat, wird auch beschrieben:

„Es ist der Kontakt mit den überlieferten Werken, sonst nichts - der direkte Zugang zu den Texten selbst: ihre genaue Lektüre, gestellt in die Zeit, in der sie entstanden, verstanden von einem Punkt in der Gegenwart, von dem aus, mit Walter Benjamin zu reden, der Tigersprung in die Vergangenheit erfolgt."

Der Tigersprung? Nach einer Konversation mit Bernd Brackmann über die Vorzüge des Esels, glaube ich eher daran, dass uns der Eselsritt in die Vergangenheit den unbefangenen Umgang mit Shakespeare, dem der besten Wahl selbstverständlich, ermöglichen wird. Denn darin waren Bernd und ich uns einig: Wenn überhaupt ein Tier das Recht hat, als Wappentier der Forschung auserkoren zu werden, so ist es der Esel und nicht der Tiger. Der Esel geht nicht nur langsam, sondern bleibt sogar stehen, wenn er sich seiner Sache nicht sicher ist. Ist dies Stehenbleiben, wenn man nicht ganz sicher ist, auch nicht eine Grundvoraussetzung der Forschung? Außerdem: Der Esel frisst Disteln. Ist dies Verhalten, stachelige Gewächse zu entfernen, nicht auch eine Grundvoraussetzung der Forschung? Und der Esel schreit „ja" und das lang und laut, aber nicht oft, was beweist, dass er lange nachgedacht hat, bevor er „ja" schreit. Ist auch das nicht eine Grundvoraussetzung der Forschung?

Beginnen wir mit unserem Eselsritt. Wir werden schnell bemerken, was im Tigersprung übersprungen wird. Der Dichter soll „die größte Zeit seines Lebens in London" verbracht haben. „Ja", ohne dort in all den Jahren eine Anschrift hinterlassen zu haben. Denn die beiden Male, in denen er nachweislich für längere Zeit (einige Monate wahrscheinlich im Herbst 1598 und Winter 1598/99, etwas länger als ein Jahr in den Jahren 1603 und 1604) einquartiert war, besaß er keinen festen Wohnsitz. Bereits im Februar 1598 ist er amtlich als Einwohner von Stratford erfasst. Und von da an wird er in allen amtlichen Dokumenten als Bürger von Stratford bezeichnet, wo er... was tit? Etwa sich mit der „Erfahrung des Theaters sättigen"? Sich mit allen Theaterwassern waschen? Ja, schreit Professor Metscher, nicht aber unser Esel. Der bleibt stehen. Das schlaue Tier traut dieser Stelle nicht. Zugegeben, es gibt bis 1623 sehr wenige Dokumente über die Auftritte als Schauspieler. Aber einige liefert uns Ben Jonson 1616 in der Folioausgabe seiner Werke. Ja, schreit Professor Metscher. Nicht unser Esel. der bleibt wieder stehen. Und denkt nach. Was sagen uns Ben Jonsons Listen? Zwischen 1598 und 1611 sind 6 seiner Stücke von Shakespeares Ensemble aufgeführt worden. In schöner Regelmäßigkeit erscheinen ganz oben auf der Liste die Namen Richard Burbage, John Hemmings und Henry Condell. Sie stehen oben auf der Liste, weil die die wichtigsten Teilhaber sind. In unschöner Unregelmäßigkeit findet sich der Name des „mit allen Theaterwassern" gewaschenen William Shakespeare, nämlich nur zweimal, nach 1603 kein einziges Mal mehr. War Shakespeare wirklich „sowas wie ein Intendant"? Ja, im fantasievollen Tigersprung des Professors. Burbage, Hemmings, Condell: Es sind auch die Namen, die 1610 in der Klageschrift Robert Keysars auftauchen. Wer war Keysar? Der war wirklich so etwas wie ein Intendant, ein Theaterunternehmer. Keysar verklagt Shakespeares Schauspieltruppe im Zusammenhang mit der Übernahme des Blackfriars-Theaters. Robert Keysar scheint den Intendanten und Hauptteilhaber Shakespeare entweder nicht gekannt oder für so unbedeutend gehalten zu haben, dass er ihn nur unter „and others" erwähnt. Wer waren die namenlosen anderen in Keysars Klageschrift? Es waren Thomas Evans, ein Strohmann Henry Evans, der gemeinsam mit John Lyly in den 1580er Jahren auch eine Art Intendant war (hinter dem der Graf von Oxford stand, der „wölfisch" tanzende "Adlige" - macht den historischen Materialisten vermutlich lustig). Und der andere Andere, den Keysar entweder nicht kannte oder als nicht namentlich erwähnenswert betrachtete? Ja, das war der „Intendant" Shakespeare. Die Zahlungsempfänger von Shakespeares Ensemble für Aufführungen bei Hofe sind Jahr für Jahr belegt. Der Name Shakespeare taucht einmal auf, 1595. nachher kein einziges Mal mehr. Die Manageraufgaben lagen offensichtlich bei John Hemmings.

Nun hat Professor Metscher schon fünfmal „ja" geschrien. Unser Esel noch kein einziges Mal. Der pflegt lange nachzudenken, bevor er „ja" schreit.

Und dann schreibt Professor Metscher, wir wüssten über Shakespeares Leben nichts, was in einem „substantiellen Sinne" für das Werk Bedeutung haben könnte. Und wenn wir nun aus dem Werk einiges ableiten können, was für das Leben substantiell „im substantiellen Sinne" bedeutsam ist - zum Beispiel Shakespeares Vertrautheit mit Italien?

Und wenn wir nun über das Leben ziemlich viel wissen, zu viel das dem Esel auffällt und dem Tiger verspringt? Zum Beispiel, dass William Shakespeare nie seine Unterschrift zu leisten beliebte weil er kaum bis nicht das Schreiben beherrschte, nicht einmal des eigenen Namens? Merkwürdig, sehr merkwürdig, wenn so etwas, das wir nun doch wissen, einem historischen Materialisten nicht „im substantiellen Sinne" gegen die Verfasserschaft des bestmöglichen aller Kandidaten sprechend dünkt.

© Robert Detobel 2011