CHRISTOPHER MARLOWE (1564-1593)

Bei Marlowe liegen die Dinge einerseits ähnlich, anderseits völlig entgegengesetzt als bei Bacon.

Entgegengesetzt, weil Marlowe, Ende Mai 1593 unter auch heute noch mysteriösen Umständen ermordet, 1623 wirklich tot war. Zwar existiert ein amtlicher Bericht des Leichenbeschauers über den Hergang seiner Ermordung, aber dieser Bericht enthält auch nach Ansicht eines Nicht-Marlowianers wie Charles Nicholl (The Reckoning - The Murder of Christopher Marlowe, London, 1993) einige Ungereimtheiten. Die Marlowianer gehen davon aus, dass Marlowes Tod von hoher Hand inszeniert worden sei, um den im Ruf eines Atheisten stehenden Schriftstellers und verdienstvollen Spitzel des elisabethanischen Staates vor Folter und Hinrichtung zu schützen. Anstelle seiner Leiche habe man die des puritanischen Predigers John Penry beerdigt, dessen Hinrichtung eigens zu diesem Zweck verschoben worden sein soll. Der zeitgenössischen Hinweise auf Marlowes Tod gibt es zahlreiche, zumal von Schriftstellerkollegen und seinen (postumen) Verlegern. George Peele schreibt einen Nachruf; sein Freund Thomas Nashe erwähnt seinen Tod zweimal; die Verleger Edward Blount, der Marlowes Übersetzung von Hero und Leander 1598 herausgibt, und Thomas Thorpe, der seine Übersetzung eines Teils von Lukians epischem Gedicht über den Bürgerkrieg zwischen Julius Caesar und Pompejus 1600 veröffentlicht, und andere erwähnen seinen Tod. Wurden sie alle getäuscht? Oder täuschten selber? Und wenn er überlebt und Shakespeares Werk geschrieben haben sollte, in welcher Gestalt, wie vermummt betritt er wieder englischen Boden? Gute Szenarien haben die Marlowianer uns geliefert. Annähernd überzeugende leider nicht. Sehr wahrscheinlich, man muss es neidlos anerkennen, bietet die Marlowe-Kandidatur von allen Kandidaturen den besten Stoff für einen spannenden Thriller. Ein Roman (Wilbur Ziegler, It Was Marlowe: A Story of the Secret of Three Centuries) hatte 1895 die Marlowe-Theorie eingeläutet, über den Roman ist die Theorie bisher nicht hinausgelangt.

Was auf den ersten Blick für Marlowe zu sprechen scheint, spricht zugleich auch gegen ihn. Spuren Marlowes dürften in Shakespeares Stücken vorhanden sein: in Heinrich VI, Teil I, II und III und möglicherweise auch in Richard III. Teil III von Heinrich VI. hatte bereits Edmond Malone (1741-1812) Marlowe zugewiesen, allerdings nicht die Foliofassung, sondern die Quarto-Ausgabe, die 1595 unter dem Titel The True Tragedy of Richard Duke of York, and the death of good King Henry the Sixth, with the whole contention between the two Houses Lancaster and York. Zwischen der Quarto-Ausgabe und dem dritten Teil von Heinrich VI. in der Folio-Ausgabe bestehen zahlreiche Übereinstimmungen, aber ebenso bedeutende Unterschiede. In der Quarto-Ausgabe fehlen zum Beispiel die für Shakespeare so typischen introspektiven Monologe, die in Marlowe-Stücken wie Tamburlaine und The Jew of Malta ebenfalls fehlen. Der folgende Vergleich mag vielleicht einen Eindruck vermitteln der Verschiedenheit in Stil und psychologischer Tiefe zwischen Marlowe, dessen hyperaktive Helden dem Gegner sozusagen gleich an die Gurgel gehen, und Shakespeare:

Marlowe in True Tragedy:

I will not stand aloof and bid you fight,
But with my sword press in the thickest throngs,
And single Edward from his strongest guard,
And hand in hand enforce him for to yield,
Or leave my body as witness for my thoughts. (Akt V, Szene 4)

Diese zupackenden Worte spricht Heinrichs VI. Sohn Edward, der, wäre er seinem Vater auf den Thron gefolgt, als Edward IV. regiert hätte.

In Marlowes Edward II. spricht ein anderes Königskind, Edward III.:

Think not that I am frighted with thy words,
My father's murdered through thy treachery,
And thou shalt die, and on his mournful hearse,
Thy hateful and accursed head shall lie,
To witness to the world that by thy means,
His kingly body was too soon interred. (Akt V, Szene 6)

An der entsprechenden Stelle, ebenfalls Akt V, Szene 4) im dritten Teil von Heinrich VI. spricht Prinz Edward:

                I speak not this as doubting any here;
                For did I but suspect a fearful man,
                He should have leave to go away betimes,
                Lest in our need he might infect another
                And make him of the like spirit to himself.
                If any such be here- as God forbid!-
                Let him depart before we need his help.

Einerseits ist die Marlowe-Theorie der Bacon-Theorie nicht unähnlich. Es könne kaum sein, dass zur gleichen Zeit zwei so große Dichter wie Shakespeare und Marlowe gelebt hätten; folglich müssen Marlowe und Shakespeare identisch gewesen sein. Mehr noch als die enormen faktischen Hindernisse, welche die Marlowianer aus dem Weg räumen müssen, macht die Art, wie sie die Hindernisse aus dem Weg räumen, ihre Theorie unglaubwürdig. Man könnte das Verfahren als „semantisches Doping" bezeichnen: einem einzelnen aus dem Kontext gerissenen Wort werden Bedeutungsstimulanzien injiziert. Ein solches Beispiel ist auf dieser Webseite analysiert worden:

© Robert Detobel 2011