SIR HENRY NEVILLE (1562-1615)

Die Neville-Theorie (Brenda James & William Rubinstein, The Truth Will Out, Los Angeles, 2005) - das ist Catch 22. Es kommt für eine Behauptung nicht darauf an, ob sie den Tatsachen entspricht, Hauptsache, sie wird mit soviel Überzeugung vorgetragen, dass man sie für eine Tatsache hält (siehe auch: Eine Fußnote). Der Trick ist: behalte die orthodoxe Chronologie als unumstößlich bei und suche nach einem Kandidaten mit einer Lebensspanne, die recht genau der von Shakespeare aus Stratford entspricht. Sir Henry Neville erfüllt diese Bedingung mit einer verwahrlosbaren Differenz von drei Jahren. Er hat noch einen anderen Trumpf: Er war ein enger Freund des Grafen von Southampton. Er war 1601 nicht an der Essex-Rebellion beteiligt, wusste aber davon und schwieg, was zu seiner Einkerkerung in den Tower führte, aus dem er kurz nach der Thronbesteigung Jakobs I. 1604 entlassen wurde. Weiterhin bereiste er als junger Mann gemeinsam mit Philip Sidney Italien. Aber wieviele andere bereisten Italien nicht ebenfalls. Irgendeine literarische Tätigkeit ist von ihm nicht bekannt. Die Behauptung, er habe den Beinamen Falstaff erhalten, beruht auf einem Brief der Gräfin von Southampton aus dem Jahr 1599, worin sie schreibt

„that Sir John Falstaf is by his Mrs Dame Pintpot made father of a godly milers thum [miller's thumb], a boy that's all head and very little body; but this is a secret."

Frau Pintpot verweist vermutlich auf 1 Henry IV, II.4.392, wo Falstaff zu der Wirtin Mistress Quickly sagt: „Peace, good pint-pot". Die Gräfin teilt mit, dass die Frau irgendeiner Person, der der Beiname Falstaff gegeben wird, einen Sohn wie ein „miller's thumb" geboren hat. Ein „miller's thumb" ist ein kleiner Süßwasserfisch mit einem unverhältnismäßig großen Kopf (Deutsch: Kaulkopf oder Rotzkopf). Auch der neugeborene Junge sei „ganz Kopf mit einem sehr kleinen Körper; aber dies bleibt ein Geheimnis. Henry Neville hatte 11 Kinder von Anne, geb. Killigrew. Fünf waren Söhne (siehe hier): Henry, geb. um 1586; William, geb. 1596; Edward, geb. 1602; Charles, geb. 1607; Richard, geb. 1608.

Oder handelte es sich um eine Fehlgeburt, die geheimgehalten wurde? Nichts wissen wir darüber, nichts beweisen die Autoren, sondern behaupten, da - dies nachweislich - Southampton und Neville gute Freunde seien, mit Falstaff Sir Henry Neville gemeint sein müsse. Trotz der Nebeligkeit dieser Identifizierung hat diese These Eingang in die englische Wikipediaseite zu Henry Neville gefunden.

Die orthodoxe Chronologie steht auch nach dem Bekenntnis ihres einstweilen letzten Baumeisters E. K. Chambers auf unsicherem Boden. James und Rubinstein schwören bei ihrer absoluten Richtigkeit. Nach ihrer Darstellung könne man genau den Zeitpunkt ermitteln, an dem Neville/Shakespeare von der fröhlichen Komödie zur düsteren Tragödie wechselte, nämlich nach der Essex-Rebellion 1601, als er sich im Tower wiederfand. Aber nach der orthodoxen Chronologie, von deren absoluter Richtigkeit beide Autoren felsenfest überzeugt sind, schrieb er auch noch 1602, immer noch im Tower, Die Lustigen Weiber von Windsor

Trotzdem erklärt Brenda James auf ihrer Webseite, dass, habe man einmal Neville als wahren Autor der Shakespearschen Werke erkannt, fiele alles „into place". Was eher ein Grund zur Beunruhigung sein soll. Wenn alles sofort ins rechte Lot oder Licht fällt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man etwas, möglicherweise vieles übersehen hat. Und dann muss man schon tönen, es falle alles „into place". Wie bei der nächsten Kandidatin.

© Robert Detobel 2011