TEIL III

Frankfurt, Rosenmontag 2011

Im antiken Athen gab es neben Tragödie und Komödie eine dritte Gattung: das Satyrspiel. Angepasst an hiesige Gepflogenheiten, folgt im dritten Teil ein karnavalistischer Ausblick auf Kandidaten, die bisher noch nicht genannt worden sind, deren Unwahrscheinlichkeit jedoch nicht zu ihrem Ausschluss berechtigen. Eines Tages könnte einer von ihnen auftauchen. Im Folgenden wird ihre Kandidatur von drei verschiedenen Narren präsentiert: Narrauf, Narrab und Narrein. Narraus muss draußen bleiben. Der Kandidat von Narrauf ist:

SIR HENRY WOTTON (1568-1639)

Er war ein englischer Diplomat. 1588 schrieb er ein Bühnenstück Tancredo, das verlorengegangen ist. Das Stück ist wahrscheinlich die erste Fassung von Cardenio. Wotton hatte es ganz vergessen, bis er sich 1613 wieder daran erinnerte. 1589 reiste er ins Ausland, um sich auf den diplomatischen Dienst vorzubereiten. Die Reise dauerte sechs Jahre. Wotton, der mit John Donne befreundet war und selber Gedichte schrieb, hatte reichlich Zeit, nach Spanien zu reisen und dort Miguel de Cervantes zu besuchen, der in dieser Zeit an seinem Don Quixote schrieb. Es ist dann eine durchaus plausible Annahme, dass er Einsicht in Cervantes' Manuskript und die Geschichte von Cardenio und Dorothea hatte und später sein Stück Tancredo umschrieb. Cardenio und Tancredo haben sechs Buchstaben gemeinsam, so dass man Cardenio als Anagramm von Tancredo betrachten kann. Er hatte auch die Zeit, nach Italien zu reisen und dort alle Städte zu besuchen, die in Shakespeares Stücken vorkommen, und alle in Italien spielenden Shakespeare-Stücke zu schreiben, da bekanntlich ein Diplomat in der Regel wenig mehr zu tun hat, als Diplomat zu sein, und Wotton, da er sich lediglich vorbereitete auf die diplomatische Laufbahn, noch weniger zu tun hatte. Mit irgendwas muss er sich in dieser Zeit beschäftigt haben. Seit seiner Rückkehr nach England stand er dem Kreis um den Grafen von Essex nahe. Der Graf von Southampton war Essex' engster Freund und folglich auch ein enger Freund Wottons. Für Southampton schrieb Wotton in dieser Zeit die Sonette. Als die Essex-Rebellion 1601 scheiterte, setzte er sich nach Frankreich ab und reiste von dort nach Venedig weiter, das, wie wir aus Shakespeares Stücken wissen, immer schon eine große Anziehungskraft auf ihn ausgeübt hatte. Kein Aristokrat ist soviel gereist wie Sir Henry Wotton, außer Shakespeare eben. 1602 war er in Florenz, wo er von einem Komplott gegen Jakob VI. von Schottland erfuhr. Um diese Zeit schrieb er je eine Tragödie und Komödie. Die Tragödie ist selbstverständlich Macbeth, die Komödie selbstverständlich das teilweise in Florenz spielende All's Well that Ends Well. Ende gut, alles gut. Warum? Wotton unterrichtete Jakob über das Komplott, so dass alles gut endete. Als Dank wurde er von diesem, als er Jakob I. von England geworden war, zum Ritter geschlagen. Jakob I. bot ihm den Botschafterposten in Madrid oder Paris an, doch Wotton entschied sich für Shakespeares italienische Lieblingsstadt Venedig. 1611 fiel er eine Zeitlang in Ungnade und in dieser stürmischen Zeit schrieb er The Tempest, womit er sich für den Rest seines Lebens von der Bühne verabschiedete.

Der Kandidat von Narrab.

SIR ARTHUR GORGES (1569-1625)

Sir Arthur Gorges war ein angesehener Dichter und Übersetzer. Er war eng mit Edmund Spenser befreundet. Gorges gehörte zum Kreis um den Grafen von Oxford, Lord Henry Howard und Charles Arundel, der mit dem Katholizismus sympathisierte. 1580 beschuldigte Arundel den Grafen von Oxford, die Absicht zu haben, Gorges zu ermorden. Hier haben wir einen eindeutigen Beweis für meine These. Die Tatwaffe! Es dürfte jedermann klar sein, dass Oxford neidisch auf Gorges war, weil er am Werk Shakespeares schrieb, was Oxford selber zu tun begehrte. Mit dieser Erkenntnis schlage ich einen ebenso bedeutsamen Nagel in die Theorie, Oxford hätte Shakespeares Werke geschrieben, wie der Genius von Jonathan Bate 1997 in The Genius of Shakespeare mit seinem Nachweis, Shakespeare hätte noch 1613 Teile von Cardenio geschrieben.

Der Kandidat von Narrein.

SIR THOMAS OVERBURY (1581-1613)

Und das Cobbe-Porträt ist doch echt! Was immer Frau Hildegard Hammerschmidt-Hummel behaupten mag. Was auch immer Fachleute sagen mögen, die es für ein Porträt von Sir Thomas Overbury halten.

Poes Erzählung „Der entwendete Brief" handelt von einem für die französische Königin belastenden Brief, der von einem Minister gestohlen worden ist. Die Königin beauftragt einen Polizeinspektor herauszufinden, wo der Minister den Brief versteckt hat. Der Inspektor ist ein Techno-Bürokrat. Er lässt alle Wände der Wohnung des Ministers nach Hohlräumen abklopfen, den ganzen Boden entfernen, alle Stühle und Tische auseinanderlegen, den Minister unterwegs überfallen und bis auf die nackte Haut filzen. Alles vergeblich. Der Inspektor kennt sein Fach. Er kennt nur eines nicht: Fantasie. Die hat der Privatdetektiv C. Auguste Dupin. Dupin setzt bei der richtigen Erkenntnis an, dass der Minister Fantasie hat und weiß, dass der Inspektor keine hat und dass daher der Minister den Brief an einer Stelle hingelegt hat, die außerhalb des gedanklichen Fassungsvermögens des Inspektors liegt, vielleicht auch weil es der Vorstellung des Inspektors über die eigene Größe zuwiderläuft, einen Brief aufzufinden, der gar nicht versteckt ist: Der Brief liegt nämlich ganz offen, vor aller Augen sichtbar auf dem Kaminsims.

Stanley Wells hat durchaus recht, wenn er darauf beharrt, das Cobbe-Porträt stelle Shakespeare dar. Aber weil er sich auf die bürokratische Position des Inspektors versteift, völlig fantasielos ist, entgeht ihm der wahre Tatsachenzusammenhang, den einzurenken ich erst geboren werden musste: Sir Thomas Overbury ist Shakespeare.

Kaum zu glauben, dass die Shakespeareforschung diese im hellsten Tageslicht auf dem Kaminsims liegende Erkenntnis bisher völlig übersehen hat.

Soweit die Narren. Fehlt noch die Narration, die rationalisierende. Fehlen noch einige Redewendungen wie „es ist offensichtlich", „es kann nicht daran gezweifelt werden ", usw.