Warum der Graf von Oxford?

I.

In dem 1589 anonym erschienenen Stilkunde-Handbuch The Art of English Poesie wird der Earl of Oxford sowohl als der beste Hofdichter wie auch als der beste Verfasser von Komödien bezeichnet. Dass von ihm nur als der beste Komödienschreiber berichtet wird, nicht auch Tragödienschreiber, hat nicht allzuviel zu bedeuten. Es könnte allerdings bedeuten, dass Oxford bis dahin noch nicht als Verfasser von Tragödien hervorgetreten war. Wann ist „bis dahin"? Nicht das Erscheinungsjahr 1589 ist hier zurückzuhalten, sondern der Zeitpunkt der Abfassung von The Art of English Poesie. Über diesen Zeitpunkt sind wir ziemlich genau unterrichtet. 1579 hatte Edmund Spenser unter dem Pseudonym Immerito The Shepherd's Calendar veröffentlicht. In The Art of English Poesie wird The Shepherd's Calendar erwähnt, nicht jedoch der Autor, auch nicht sein Pseudonym Immerito, geschweige der Name Spenser. Es wird auf ihn verwiesen als „that gentleman that lately wrote The Shepherd's Calendar", also der „Gentleman, der neulich The Shepherd's Calendar geschrieben hat". 1580 scheint eine plausible Zeitangabe zu sein. Dass Francis Meres 1598 ebenfalls Oxford als den besten für Komödie bezeichnet, hat noch weniger zu bedeuten, weil Meres in seinem „Comparative Discourse" schlichtweg sehr vieles aus The Art of English Poesie fast wortwörtlich übernommen hat.

Auch William Webbe bezeichnet 1586 Oxford in Discourse of English Poetry als den besten Hofdichter. Wenn wir unter den aristokratischen Dichtern nach dem möglichen Shakespeare suchen, liegt es nahe, zuerst an Oxford zu denken.

II.

In Spensers The Shepherd's Calendar ist in der Oktober-Ekloge von einem Dichter mit dem Schäfernamen Cuddie die Rede. In dem einleitenden Argument erfahren wir, dass „IN Cuddie is set out the perfecte paterne of a Poete, whishe finding no maintenaunce of his state and studies, complayneth of the contempte of Poetrie" ("In Cuddie wird das perfekte Modell eines Dichters dargestellt, der, da er keinen Unterhalt für seinen Stand und seine Studien erhält, sich über die Missachtung der Poesie beklagt.") Über fehlende Unterstützung hatte sich Oxford in seinem Brief vom 3. Januar 1576 beklagt, wenn auch nicht ausdrücklich gesagt wird, dass er diese Unterstützung für seine Poesie erwartete; aber auf jeden Fall erwartete er sie für seinen Stand. Dass es sich bei Cuddie um Oxford handelt, wird dann aber klar, als Spenser Cuddie Worte sagen lässt, die Oxford 1576 ähnlich in seinem Vorwort zu Thomas Bedingfields Übersetzung von Girolamo Cardanos De Consolatio geschrieben hatte.  

Außerdem gibt der Kommentator E. K. als Cuddies Emblem an „Agitante calescimus illo". Die vollständige Zeile lautet „Est Deus in nobis, agitante calescimus illo" („Es ist ein Gott in uns, bei dessen Wirken wir erglühen"). Der Satz stammt aus Ovids Fasti. Cuddie/Oxford hatte 1579 seinen Wahlspruch Ovid entlehnt. Shakespeare wird als Motto für Venus and Adonis 1593 auch zwei Zeilen Ovids wählen. Francis Meres wid 1598 schreiben, dass Ovids Seele in Shakespeare weiterlebe. Auch dies ein Grund, Oxfords Kandidatur an erster Stelle in Betracht zu ziehen.

III.

Henry Chettle spricht 1603 in seiner Schrift England's Mourning Garment zum Tode der Königin von einem gewissen Melicertus. Der Name wird im Zusammenhang mit den Vorbereitungen auf den Krieg gegen Spanien in den Niederlanden erwähnt, 1585/86 also. Es handelt sich offenbar um einen Dichter-Hofmann, der „smooth tongued" ist. Chettle verwendet den Namen ein zweites Mal, diesmal als „silver tongued" und auf das Jahr 1603 bezogen. Es handelt sich eindeutig um Shakespeare. Siehe: "Eine bahnbrechende Entdeckung"

IV.

Thomas Nashe lobt 1596 ebenfalls einen Hofmann-Dichter, den er als „unseren Mäzen („patron"), unseren Phoebus, unseren ersten Orpheus oder Quintessenz der dichterischen Kreativität" preist, Lob, „unserer erste Orpheus", das man für Shakespeare erwarten würde. Aus dem Kontext ist zu erkennen, dass es sich nur um Oxford handeln kann.

V.

Es gibt mehrere Überschneidungen zwischen den wenigen unter Oxfords Namen bekannten Gedichten und den Stücken Shakespeares, u. a.  Henry VI, 2/3, Richard II, Romeo and Juliet, Merchant of Venice. Siehe zum Beispiel:
"Waht Thing is Love". 

VI.

Und dann sind da noch die biografischen Korrespondenzen, in den Stücken und eindringlicher noch in den Sonetten; die Vertrautheit mit Italien und seiner Renaissance usw. Hier ging es nur darum zu zeigen: Oxford hat in den zeitgenössischen Zeugnissen Spuren als Dichter hinterlassen, die auf Shakespeare zeigen.

© Robert Detobel 2012