Eine neue These aus der Vermutungs-Ecke:
„Shakespeare hat seine Büste selber in Auftrag gegeben.“

Wie hat er das getan?

Antwort: „Auf die übliche Weise: durch Vermutung!“
Diese Antwort gab  Mark Twain schon vor 100 Jahren (siehe Spektrum Shakespeare, Bd. 4, S. 36).  Seitdem hat sich nichts geändert.

 

Die Shakespeare-Büste in Stratford soll ein authentisches Abbild sein, wie jetzt behauptet wird.

Der Guardian veröffentlichte am 19. März 2021 eine große Reportage über die jüngsten Forschungen von Lena Cowen Orlin, Professorin für Englisch an der Georgetown University (Hochschule der Jesuiten in Washington, D.C.), die nun behauptet, dass die Büste von Shakespeare in der Trinity Church in Stratford-on-Avon zeigt, wie der Bard tatsächlich aussah. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass Shakespeare das Denkmal in Auftrag gegeben hat“ (that Shakespeare commissioned the monument).
U. a. brachte auch die FAZ diese Meldung pünktlich zum 26. April.

Man konnte gespannt sein! War da vielleicht eine siebte von Shakespeares bisher lediglich bekannten sechs Unterschriften auf einem bisher unbekannten Kontrakt gefunden worden?
Aber wer konnte so dumm sein, das zu erwarten! Weder gib es eine Unterschrift noch einen Kontrakt, es gibt gar nichts, außer Vermutungen. “It is highly likely”.

 

Mark Twain schrieb schon 1909 von der „Es-ist-anzunehmen“-Profession: „Wir dürfen annehmen“, „es gibt keinen Grund zu zweifeln“, „… daher ist unsere Annahme gerechtfertigt“ usw.

 

Bisher nahmen die meisten Forscher an, dass der Bildhauer Gerard Johnson die Büste angefertigt hatte, und dass das Gesicht der Büste kein authentisches Portrait war. Sie wurde irgendwann nach Shaksperes Tod (1616) angebracht. Laut Professor Orlin war es jedoch anders: Es war nicht Gerard Johnson, sondern sein Bruder Nicholas Johnson. Er war auch kein Bildhauer, sondern ein Grabmalbauer.

Leider wird nicht klar, ob Prof. Orlin dafür Dokumente fand oder ihren Schluss aus anderen Gründen gezogen hat. Es ist immerhin auffällig, dass es sich in der Kirche von Stratford-on-Avon um eine Skulptur mit einer Gedenktafel an der Wand handelt und nicht um ein Grabmal. (dazu: „Ein Denkmal – aber nicht sein Grab“, Spektrum Shakespeare, Band 6. S. 21ff.)

Prof. Orlin sagt, Nicholas Johnson habe 1615 in der Trinity Church in Strarford an einem anderen Denkmal gearbeitet. Sie argumentiert daher: „Er wäre ein Jahr vor Shakespeares Tod in Stratford gewesen. Aber auch wenn nicht, seine [Londoner] Werkstatt war gleich um die Ecke vom Globe-Theater. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er Shakespeares Gesicht gesehen hätte.“

 

Mark Twain: „Da diese Dinge stattgefunden haben könnten, haben wir jedes Recht anzunehmen, dass sie auch stattgefunden haben.“

 

Ferner glaubt Orlin auch, dass die Büste und die Inschrift auf der Gedenktafel („Stay Passenger ...“) vor Shakespeares Tod erstellt wurde.
Interessanterweise gibt Orlin an, dass die Figur die Robe eines Studenten der Universität Oxford (undergraduate: Student mit Bachelorabschluss) trägt.
Das ist sehr erstaunlich, da Shakspere keine Verbindungen zu den Universitäten von Oxford und Cambridge hatte.
Für Orlin deutet die (auf Grund der Robe vermutete?) Verbindung „jetzt auf eine kollegiale Vereinigung hin, von der wir nichts wissen (!).“
 

Mark Twain: „Wir haben alles Recht anzunehmen, dass es diese Verbindung gab“.

 

Orlin weist ferner darauf hin, dass in einigen Kapellen des Oxford-Colleges in Denkmälern von Personen manchmal ein Kissen dargestellt wird.
Das Kissen dient dort allerdings als Unterlage für ein Buch, meistens für die Bibel.

Auf dem Kissen im Stratford-Denkmal liegt jedoch kein Buch, sondern ein leeres (!) Blatt Papier. Das Kissen soll dort also als eine Art Schreibunterlage (!) dienen. Bemerkenswert ist auch, dass die Spitze der Schreibfeder das Papier nicht berührt. (Haben wir das Recht anzunehmen, dass hier gar nichts geschrieben wird?)
 William Dugdales Zeichnung von 1634 ist vor den ersten Veränderungen entstanden.

Orlin geht nicht auf die Fragen ein, warum die heutige Fassung der Büste so ganz anders aussieht als die frühen Skizzen von William Dugdale und anderen im 17. Jahrhundert, ob die ursprünglich Figur einen Wollsack hielt, aber keinen Federkiel und kein Blatt Papier.

Es ist durch Dokumente belegt, dass das Denkmal bei mindestens acht Gelegenheiten zwischen 1649 und 1861 restauriert, verändert, verschönert, neu gestrichen und in verschiedener Hinsicht verändert wurde. (Spektrum Shakespeare, Band 6, S. 21). Orlin geht darauf nicht ein.

Orlin selbst ist Mitglied des Shakespeare Birthplace Trust. Sie hat auch ein Buch geschrieben, The Private Life of William Shakespeare, das diesen Sommer von der Oxford University Press veröffentlicht wird.

 

Alexander Waugh verschwendete wenig Zeit, um die Behauptungen von Professor Orlin zu entlarven (SOF-Newsletter, Spring 2021).
In Bezug auf die Frage, ob Shakspere die Büste selbst in Auftrag gegeben hat, sagt Waugh: „Wir können ds ziemlich leicht abweisen.“ Die lateinische Inschrift oben auf der Gedenktafel spielt auf die Grabstätte von Francis Beaumont an sowie auf die von Edmund Spenser und Geoffrey Chaucer. Dies in auffallender Ähnlichkeit mit der Erwähnung der Grabstätten dieser drei Dichter in Ben Jonsons Widmungsgedicht (To draw no envy…) in der First Folio von 1623 (dazu: „Ein Denkmal – aber nicht sein Grab“, Spektrum Shakespeare, Band 6. S. 21ff.).

Da Francis Beaumont im März 1616 nur wenige Wochen vor Shakspere starb, ist eine Beauftragung mit der Kenntnis, dass Beamont verstorben war, ausgeschlossen. Es war viel zu spät für eine Planung, Entwürfe, Beauftragung und Ausführung der umfangreichen Steinmetzarbeiten.

„Warum“, fragt Waugh, „hätte Shakspere eine Büste von sich selbst mit dem kleinem Kinnbart und einem Schnurrbart in Auftrag geben, einer Mode, die erst zwanzig oder dreißig Jahre später auftrat?“

Orlin  behauptet, Nicholas Johnson habe Shakepere 1615 in Stratford getroffen, und dieser habe das Denkmal selber in Auftrag gegeben.

Viel naheliegender ist jedoch ein ganz anderer Zusammenhang: Die Inschrift hat einen engen Bezug zur First Folio, die erst 1623 veröffentlicht wurde, die aber bei der Erstellung des Denkmals bekannt gewesen sein muss. Es wurde ein Steinmetz in London beauftragt, der schon einmal in Stratford tätig gewesen war und die dortige Kirche und ihre Räumlichkeiten kannte.

 

Mark Twain: „Vielleicht war er tot, als er den Auftrag erteilte. Aber das ist nur eine Vermutung. Wir haben nur Indizien. Beweise nach interner Logik.“

                                                                                                                                                               Spektrum Shakespeare, Bd. 4, S. 37, leicht abgewandelt