Muss Shakespeare unbedingt ein Aristokrat sein?

Irgendjemand muss ja Shakespeares Werke geschrieben haben. Vielleicht waren es auch mehrere. Aber wenn es nur einer oder hauptsächlich nur einer war, muss es unbedingt ein Aristokrat sein? Mit gleicher Berechtigung kann man die Frage andersherum stellen: Warum darf es unbedingt kein Aristokrat sein? Woher diese Aversion gegen die Aristokratie? Was bedeutet „Aristokratie" ursprünglich? Das Wort bedeutet „Herrschaft der Besten". Die Aristokratie glaubte von sich, etwas Besseres zu sein und folglich die politische Führung für sich in Anspruch nehmen zu können. In der Frühen Neuzeit leitete sie diesen Anspruch allerdings nicht mehr von ihrer militärischen Funktion ab. Die Zeit des Rittertums war vorüber. Die Aristokratie des 16., 17. und 18. Jahrhunderts war keine feudale Aristokratie mehr, es war eine höfische Aristokratie. Feudale Elemente vegetierten nur noch in der symbolischen Ordnung weiter. Diese höfische Aristokratie begründete ihren Führungsanspruch weniger durch Abstammung als durch eine bestimmte Verhaltensweise, mit der sie sich von den anderen Schichten abgrenzte und abhob. Und auch durch ihre Nähe zum absoluten Fürsten. Wer sich für etwas Besseres hält, der muss es auch zeigen, vor allem dadurch, dass er regelmäßiger Gast bei Hofe war. Möglicherweise hat sich daran heute weniger geändert, als wir annehmen. Karl-Theodor zu Guttenberg hält sich im typisch aristokratischen Gestus immer noch für den „zur politischen Führung bestimmten Besten" - und zeigt sich, nicht am Hofe des Fürsten natürlich, sondern am Hofe unserer Zeit: in den Medien. Wer sich in den Medien zeigt, der hält sich leicht für „etwas Besseres". Shakespeare nun „adelt" uns in einem anderen Sinne. Durch ihn kommunizieren wir mit Tiefsinn und ewigem Ruhm. Shakespeare hat wie Christus schon manche Nonne als Braut erweckt. Wenn nun die Aristokratie uns „unseren Shakespeare" nehmen will, ertönen die gleichen Pfuirufe, wie sie das Gutenberg-Interview begleitet haben.

Aber bei Shakespeare tritt uns doch weder ein Aristokrat, der sich etwas Besseres dünkt, noch ein „einfacher Mann" entgegen, sondern ein Individuum, einerlei ob Aristokrat oder einfacher Mann. Die Tatsache, dass man zur aristokratischen Schicht gehört, begründet ebensowenig ein Individuum als die Tatsache, dass man zu den niedrigeren Schichten gehört. Der Aristokrat war nur durch seine Klassenzugehörigkeit „etwas Besseres", nicht als Individuum. Als Individuum waren seine Freiheitsräume sogar enger eingegrenzt als die eines Angehörigen der niedrigeren Schichten. Er hatte sich nicht nur in seinem eigenen Interesse als „etwas Besseres" darzustellen, sondern auch im Interesse des Herrschaftsanspruches der Klasse, der er angehörte.

Im Interesse des Herrschaftsanspruches der Klasse, der er angehörte, hatte er auch ein anderes ideologisches Theorem der höfisch-aristokratischen Ideologie zu beachten: Nur der Dienst am Fürsten und am Gemeinwohl sollte Inhalt seines Tuns sein. Persönliche Neigungen wie etwa die Ausübung der Künste sollten seiner Privatsphäre vorbehalten bleiben. Weder sollte er dadurch Gewinn noch Ruhm anstreben. Genau das wird in der Widmung der ersten Gesamtausgabe, des First Folio, von Shakespeare behauptet. Darin gründet das aristokratische Verhalten, seine literarische Produktion nicht in Druck zu geben oder sich zumindest als indifferent gegenüber der Veröffentlichung seiner literarischen Werke zu gerieren. Darin ist Shakespeares Verhalten ganz und gar aristokratisch. „Shakespeare wusste genau, dass sich in jener Zeit niemand Hoffnung machen konnte, als eine hoch angesehene Persönlichkeit zu gelten, wenn er sich darauf einließ, mit irgendeinem Verleger oder Buchhändler ein Geschäft abzuschließen. Sir Philip Sidney gestatte nicht, dass auch nur eines seiner Werke zu seinen Lebzeiten in Druck erschien; Professor Pollard bemerkt in seiner bibliografischen Studie 'Shakespeare Folios and Quartos',  dass, hätte irgend jemand Sidney Geld für seine Defence of Poesie oder seine Astrophel and Stella angeboten, er ernsthaft in die Gefahr gekommen wäre, die Treppe hinuntergeworfen zu werden'. Unser Vorschlag, dass Shakespeare ähnliche Ansichten vertreten haben könnte, ist nur dann der Betrachtung wert, wenn wir annehmen, Shakespeare sei sowas wie ein Snob gewesen oder eher noch: ein natürlicher Aristokrat." Der das schreibt, ist kein Romantiker, sondern ein nüchterner Historiker des englischen Buchhandels (Frank Arthur Mumby, Publishing and Bookselling, London 1974, Erstauflage 1930, S. 80, Kapitel: „Shakespeare's publishers: A Shakespearean Problem").

Shakespeare soll ein Snob gewesen sein; oder vielmehr ein natürlicher Aristokrat? Das wäre wahrlich eine pikante Ironie, denn er wäre seitens gewisser Vertreter der Orthodoxie dem gleichen Vorwurf ausgesetzt wie globaliter die Zweifler an der Verfasserschaft des Mannes aus Stratford. Dennoch erweist sich Mumbys Diagnose auch noch in anderen Hinsichten als präzise. In seiner Widmung von Venus und Adonis an den Earl of Southampton schreibt Shakespeare, er habe das Gedicht während seiner Mußestunden geschrieben, in seiner Freizeit also. Er bedient damit ein aristokratisches Klischee der Zeit. Auch Hartmann von Aue schrieb angeblich nur Gedichte, wenn er mit seiner Zeit nichts Besseres anzufangen wusste. Das war Ende des 12. Jahrhunderts. Hartmann von Aue war ein „Dienstmann". Das feudale Treueverhältnis schrieb dem Dienstmann vor, sich ganz dem Dienst des Herrn zu widmen. Gedichte zu schreiben gehörte nicht dazu und sollte folglich der Freizeit vorbehalten bleiben. Diese Vorschrift hatte auch noch in der Frühen Neuzeit Bestand. Nur war der Herr, dem der Dienst zu leisten war, jetzt der Fürst, der Monarch. Der Aristokrat sollte aber auch jetzt noch literarische Tätigkeit seiner „Freizeit" vorbehalten. Die Versicherung, nur während der „Mußestunden" zu dichten, war gleichsam die Visitenkarte des Hofmannes. In der Widmung von Venus und Adonis gab Shakespeare diese aristokratische Visitenkarte ab.

In dieses Bild passt auch eine andere Tatsache, über die Forscher wie F. G. Fleay im 19. und G. E. Bentley im 20. Jahrhundert sich noch zu wundern wagten. Kein einziges Bühnenstück Shakespeares (abgesehen von der Gesamtausgabe 1623) wurde je einem Mäzen gewidmet; nur einem einzigen Bühnenstück, Troilus und Cressida 1609, ging ein Brief an die Leser vorab. Aber diesen Brief an die Leser schrieb nicht er selbst! Auch E. K. Chambers konnte ein gewisses Staunen über Shakespeares „Nonchalance" („detachment") gegenüber der Publikation seiner Bühnenstücke nicht verhehlen. Wenn er ein Aristokrat oder Snob war, braucht man nicht mehr staunen.

Die Frage ist vor dem richtigen soziohistorischen Hintergrund zu untersuchen. Dieser Hintergrund war nun einmal eine aristokratische Gesellschaft. Dies zur Kenntnis zu nehmen, ist kein Zeichen „aristokratischer Verklärung", sondern schlicht ein Gebot der Sachlichkeit jenseits aller Stimmungsmache.

© Robert Detobel 2012