Der Graf als Ochse

Wer ist Apis lapis? Neues Steinchen im Shakespeare-Puzzle

über ein neues Forschungsergebnis von Robert Detobel.

Richard Kämmerlings berichtete in der Frankfurter Allgemeine Zeitung,
(18.08.1999, Nr. 190, S. N5)

Er führte folgendes aus:

"Kriminalisten und Philologen haben vieles gemeinsam. Beide mögen gelegentlich wünschen, die Steine - die Wände des Tatorts oder die Gemäuer eines historischen Bauwerks - zum Sprechen bringen zu können. So aber sind sie bei aller Spurensicherung auf ihre Intuition angewiesen, um die Vergangenheit zu enträtseln. Über Thomas Nashe, den früh verstorbenen Zeitgenossen Shakespeares (1567 bis 1601), sind viele biographische Details bekannt, und dennoch gibt er der Literaturwissenschaft bis heute einige Rätsel auf. Unklar war zum Beispiel, wem die umfangreiche Widmung seiner Polemik "Strange Newes" (1593) galt. Nashe, heute vor allem bekannt als Verfasser des "Unfortunate Traveller", des ersten "Prosaromans" englischer Sprache, versetzt in dieser Schrift einmal mehr dem Dichter Gabriel Harvey einen literarischen Schwerthieb.
"Strange Newes" hebt an mit einer Widmung "an den ergiebigsten Liederdichter unserer Zeit und denkwürdige Geißel des Priscian, seinen wahren Freund Apis lapis". Im folgenden wird dieser Schriftsteller auch mit "M. William" angesprochen. Die Forschung hat sich bislang damit zufriedengegeben, den lateinischen Decknamen zu anglisieren und dann (apis gleich Biene und lapis gleich Stein) einen William Beeston als Adressaten auszumachen. Zwar sind Männer dieses Namens bezeugt, ein Christopher Beeston, zeitweilig Schauspieler in Shakespeares Truppe, hatte etwa einen Sohn namens William. Leider ist über Beeston sehr wenig bekannt, und die wenigen Fakten passen gar nicht zu den weiteren Ausführungen Nashes über den offenbar bedeutenden Dichter. Robert Detobel hat nun den Text der Widmung neu übersetzt und ausführlich kommentiert, um in einer wahrlich detektivischen Schlussreihe einen weit berühmteren Adressaten dingfest zu machen"

Die Originalarbeit, auf die Kämmerlings sich bezieht:

Robert Detobel, "Eine Widmung",
in: Neues Shakespeare Journal, Bd. 4, S. 72 ff.
Verlag Uwe Laugwitz, Buchholz 1999

Kämmerlings führte weiter aus:

"Dazu untersucht Detobel akribisch die Replik Gabriel Harveys "Pierces Supererogation", die sich - ebenfalls in rhetorisch verschlüsselter Form - nicht nur gegen Nashe selbst, sondern auch gegen dessen Freund Henry Chettle und einen ominösen Dritten richtet, der nur unter dem Namen "Vollochse" genannt wird. Der Ochse allerdings sei niemand anders als Edward de Vere, Graf von Oxford, der manchmal kurz "Ox" genannt wurde. Somit liegt es nahe, in dem als Theaterliebhaber und Liederdichter bekannten engen Vertrauten der Krone auch den Adressaten von Nashes Widmung zu sehen. Apis wäre dann nicht die Biene, sondern der altägyptische heilige Stier; lapis verweise auf das übliche Verfahren, Stiere mit Steinen zu kastrieren, also zum Ochsen zu machen.

Mit dieser Hypothese kann Detobel einige unverständliche Stellen in Nashes Widmung auflösen. Beispielsweise ist dort die Rede von einer Taverne "Zum blauen Eber". Blau ist die Farbe des Hauses Oxford, der Eber sein Wappentier. Ein weiteres Indiz liefert die Freundschaft von Apis lapis mit dem bislang nicht identifizierbaren "Meister Vaux of Lambeth". Nach Detobel handelt es sich hier um den mit Oxford bekannten Lord Vaux of Harrowden. Die Namensänderung sei ein böser Witz Nashes, der damit auf den Sitz des erzbischöflichen Gerichts in London, Lambeth Palace, anspielt, vor das der bekennende Katholik wohl des öfteren geladen worden sei. Nun wäre so ein gewaltiger philologischer Aufwand vergebliche Liebesmüh, wenn es Detobel nur darum ginge, die Bekanntschaft Nashes mit Edward de Vere zu belegen. Tatsächlich geht es aber um Shakespeare. Detobel ist Oxfordian, Anhänger jener qualifizierten Minderheit unter den Renaissanceforschern, die Shakespeare mit Edward de Vere, dem Grafen von Oxford, identifizieren und die Autorschaft des Stratforder Handwerkersohns nur für ein perfektes Tarnmanöver halten. Apis lapis bildet einen weiteren Mosaikstein im Indiziengebäude. Denn in einem zweiten Schritt kann Detobel plausibel machen, dass die Aufforderung Nashes an "M. William", ein Stück gegen Harvey zu verfassen, ihren Niederschlag in scherzhaften Szenen in "Love's Labour's Lost" gefunden haben. Shakespeares Don Armado sei, wie schon zuvor Sir Tophas aus John Lylys "Endimion", eine Karikatur des Dichters als pedantischer "miles gloriosus".

Bereits viel früher, 1578, hatte Harvey den Grafen von Oxford aufgefordert "die Feder wegzuwerfen" und "Speere zu schütteln". Auf sein Schmähgedicht "Three proper familiar letters" (1580), das sich ebenfalls gegen de Vere und seinen literarischen Ehrgeiz richtete, spielt Nashe an. Für den Oxfordian ist klar: Nachdem de Vere sich in der Zwischenzeit seinen Stratforder Strohmann zugelegt hat, kann er die alten Schmähungen nun ein weiteres Mal zurückzahlen, indem er Harvey auf der Bühne parodiert. Beide Schlussketten in dieser Argumentation sind für sich genommen stimmig: Wer die Folgerung, dass Shakespeare gar nicht Shakespeare war, für abwegig hält, muss nach der Schwachstelle fahnden. Die Antwort der Stratfordians wird nicht lange auf sich warten lassen."

Mit dieser letzten Einschätzung behielt Kämmerlings allerdings nicht recht. Eine Antwort blieb bis heute aus. Es ist die sonst auch geübte Praxis von Stratford: Neue wissenschaftliche Ergebnisse werde doch Ignorieren und Verschweigen bearbeitet.