Shakespeare und Italien

Aus Karl Elze, „Shakespeare's muthmassliche Reisen",

 Shakespeare-Jahrbuch 1873, S. 58 ff.

<< Romeo und Julie sind keineswegs „eingefleischte Engländer", und es kann nicht geleugnet werden, dass Shakespeare beispielsweise im Kaufmann von Venedig die örtliche Färbung sorgfältig beobachtet und wunderbar getroffen hat. Es liegt ein unnachahmlicher, entschieden italienischer Hauch und Duft über diesem Drama, der sich freilich leichter fühlen als erklären und zergliedern lässt. Alles ist darin so treu, so frisch, so naturwahr, dass es in dieser Hinsicht unmöglich zu übertreffen sein dürfte. Byron, der bekanntlich eigene Anschauung und eigenes Erlebniss als unerlässlich für den Dichter betrachtete und nicht ohne sie zu schreiben vermochte, hat selbst nach einem mehrjährigen Aufenthalte in Venedig diesen Eindruck unmittelbarster Naturwahrheit kaum zu erreichen vermocht. Shakespeare giebt uns mit unvergleichlicher Kunst leise Andeutungen und Winke, anscheinend unbedeutende Einzelheiten, welche Gedankenreihen in uns anregen, unsere Gefühle in eine bestimmte Bahn lenken und unserer Phantasie die Richtung nach einem bestimmten Ziele geben. Durch diese Mittel versetzt er uns, ohne dass wir es gewahr werden, vollständig in eine italienische Atmosphäre und läasst uns im fünften Akte die Zauber der italienischen Nächte geniessen, wie es an Ort und Stelle nicht lebendiger der Fall sein könnte. Er führt uns in das Börsengewühl auf dem Rialto und zeigt uns in der Ferne die Gondel, in welcher Jessica mit ihrem Liebsten davonschwimmt. Wer Shakespeare's Kunst und Schönheit in dieser Hinsicht ganz erkennen und würdigen will, der möge eine Vergleichung zwischen dem Kaufmann von Venedig und B. Jonson's Volpone anstellen, welcher ja gleichfalls in Venedig spielt. Jonson legt eine tiefgehende Kenntniss der italienischen Sprache, italienischer und insbesondere venetianischer Einrichtungen, Gebräuche und Oertlichkeiten an den Tag; er trägt die Lokalfarbe so zu sagen faustdick auf, aber es ist überall die Arbeit des Stubengelehrten, welcher darauf ausgeht, seine aus Büchern ad hoc zusammengestoppelte Gelehrsamkeit mit Selbstgefälligkeit auszukramen. Man merkt überall die Absicht - und wird verstimmt. Jonson glaubt seine Personen dadurch zu ächten Italienern zu machen, dass er sie recht viel von den Einrichtungen, Sitten und Oertlichkeiten ihres Landes, wo möglich überall in italienischen Ausdrücken sprechen lässt. Da hören wir im bunten Durcheinander reden von Avocatori, Mercatori, Commendatori, Notario, von der Piazza, San Mark, Zan Fritada [? Sic!]*, sforzato, ciarlitani, scartoccios, the mal caduco, vertigine in the head, moscadelli ... ; da werden uns alle italienischen Dichter namentlich vorgeführt: Petrarca, Tasso, Dante, Guarini, Ariost, Aretin und Cieco de Hadria - „ich habe sie alle gelesen", sagt (in des Dichters Namen?) Lady Politick Would-be... Es ist das so zu sagen die negative Seite der Lokalfarbe, dass der Dichter nichts einmischt, was die Illusion des Hörers oder Lesers bezüglich der Oertlichkeit stört.  Jonson's ganzes Verfahren ist ein rein äusserliches, wobei sich der Dichter in den Philologen auflöst, und es ist merkwürdig, wie er dabei auf Verständnis und Theilnahme seitens des Publikums rechnen konnte;... Wie ganz anders verfährt dagegen Shakespeare! Er lässt seine Personen äusserlich immerhin hier und da Engländer bleiben, obwohl auch das im Kaufmann von Venedig kaum bemerkbar ist; dagegen aber haucht er ihnen italienische Seelen ein, italienische Leidenschaft, südliche Lebenslust und Glut. Während Shakespeare Kostüm und Scenerie nur andeutend behandelt, erweitert Jonson besonders in den Scenen, wo seine englischen Reisenden auftreten, nicht unbeträchtlich unsere Kenntniss des damaligen Reiseverkehrs...

So sieht Jonson's Lokalfarbe im Vergleich zur Shakespear'schen aus und man darf wohl sagen, dass es für seine Poesie hier wie überall besser gewesen wäre, wenn er nicht mehr Griechisch und Lateinisch - einschliesslich des Italienischen - besessen hätte als ein Freund Shakespeare...

Ausser dem Volpone bietet sich noch ein Stück an zur Vergleichung dar, das allseitiger Gerechtigkeit halber nicht übergangen werden darf, das ist Webster's „The White Devil, or, Vittoria Corombona" (zuerst 1612 erschienen) , obgleich dasselbe nicht in Venedig, sondern in Rom und im letzten Akte, wie es scheint, in Padua spielt... Dem Stücke fehlt überhaupt de poetische Duft, insbesondere der lokale, der im Kaufmann so bezaubernd wirkt. Es ist eine rohe, chronikenhafte Haupt- und Staatsaktion voller Greuel und Gemeinheit...

Nach dem Gesagten darf man sich wohl die Frage vorlegen: Welches der genannten drei Dramen giebt uns, die darin enthaltene Lokalfarbe als Maassstab angelegt, am ehesten den Eindruck, dass der Verfasser an Ort und Stelle gewesen ist und aus eigener Anschauung geschrieben hat? Webster kann kaum in Betracht kommen: er steht unter dem Gesichtskreise, der hierbei angenommen; mag er in Italien gewesen sein oder nicht, das Geheimniss der poetischen Lokalfarbe ist im ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Jonson mag thun, was er will, je mehr er ins Zeug geht, desto weniger täuscht er uns, desto klarer erkennen wir, dass es sich bei ihm um nichts weniger als um eigene lebendige Anschauung, sondern um die trockene Verstandesarbeit des Bücherwurms handelt. Shakespeare allein bringt in uns den Eindruck und Glauben hervor, als sei seine Dichtung dem eigenen Erlebnisse entsprungen, als sei er selbst, gleich Lorenzo und Jessica, in einer Gondel geschwommen, als sei er mit Shylock und Antonio auf dem Rialto gewandelt und als habe e sich in einem italienischen Armida-Garten wie Portia und ihr Gefolge ans Sternenschein, Orangenduft und Musik berauscht...

Mag die dichterische Phantasie noch so lebhaft und schöpfungskräftig, das innee Anschauungsvermögen noch so hoch entwickelt sein, eins ist unbestreitbar, nämlich dass sie Niemandem thatsächliches Wissen verleihen, sondern dass dies vielmehr nur durch Erfahrung oder Studium erworben werden kann. „Shakespeare, bemerkt Dr. Johnson ganz richtig, however favoured by nature, could impart only what he had learned." Gelänge es also, bei Shakespeare im Kaufmann oder anderswo auf Italien bezügliche positive Kenntnisse nachzuweisen, die er nur auf einem dieser beiden Wege erlangt haben könnte, und sodann darzuthun, dass er sie nicht dem Studium verdankt, so würde der Beweis für seine Reise nach Italien erbracht sein. >> 

* Zan Fritada ist der histrionische Eigenname für einen Clown in der Commedia dell'Arte.

 Gibt es solche Beispiele, die Shakespeare höchst wahrscheinlich nicht dem Studium, sondern nur der eigenen Anschauung verdankt haben kann? Es gib eine Fülle von Beispielen, insbesondere im Kaufmann von Venedig und Othello. Nur einige sollen hier genannt werden.

Kaufmann von Venedig

I.

Im nämlichen Aufsatz gibt Karl Elze auf Seite 64-65 selbst ein Beispiel aus Akt III, Szene 4:

    Now, Balthasar,
As I have ever found thee honest-true,
So let me find thee still. Take this same letter,
And use thou all th' endeavour of a man
In speed to Padua; see thou render this
Into my cousin's hands, Doctor Bellario;
And look what notes and garments he doth give thee,
Bring them, I pray thee, with imagin'd speed
Unto the tranect, to the common ferry
Which trades to Venice. Waste no time in words,
But get thee gone; I shall be there before thee.

Elze schreibt:

„Das Unding „tranect", das in sämmtlichen Quartos und Folios steht und das sogar die Cambridge Editors beibehalten haben, beweist, dass Abschreiber und Setzer keine Kenntniss von diesem Worte und noch weniger von der Sache besassen. Auch das von Theobald richtig hergestellte „traject" ist kein eingebürgertes englisches Wort, denn sonst würde der Dichter nicht die Apposition „ to the common ferry" hinzugefügt haben, die doch nur seinen Zuhörern und Lesern die Bedeutung klar machen soll. Welcher Besucher Venedig's erkennt hier nicht sofort das venetianische Traghetto (tragetto)? ... schon durch dieses Eine Wort sieht man Shakespeare's ganze Reise. Denn woher hat der Dichter diese Kenntnis des ächt venetianischen Traghetto erlangt?... Man könnte auf Cesare Vecellio (Degli abiti antichi etc. 1590) als Quelle muthmassen, allein wir haben nicht die leiseste Andeutung, dass Shakespeare dies Werk dies Werk kannte; und auch wenn dies der Fall gewesen sein und Shakespeare hinlänglich Italienisch verstanden haben sollte, um es zu lesen, so fand er doch darin nur Kostümbilder mit dürftigen Beschreibungen derselben und kein Wort von Traghetto. Bliebe also nur die Annahme mündlicher Mittheilung."

II.

Die gleiche Szene enthält noch zwei weitere Hinweise. Zum einen sagt Portia:

I have toward heaven breath'd a secret vow
To live in prayer and contemplation,
Only attended by Nerissa here,
Until her husband and my lord's return.
There is a monastery two miles off,
And there we will abide.  

Portia will sich demnach mit Nerissa in ein Kloster zurückziehen, das zwei Meilen von Belmont entfernt ist:

Zum anderen sagt sie ganz am Ende dieser Szene:

When I am in my coach, which stays for us
At the park gate; and therefore haste away,
For we must measure twenty miles to-day.

Sie muss von Belmont nach Padua fahren, eine Distanz von 20 Meilen.

Theodor Elze schreibt dazu (Shakespeare Jahrbuch, Band 13, 1877, S. 142-5):

<< Es versteht sich von selbst, dasz im 'Kaufmann von Venedig' der Schauplatz der Haupthandlung der alten Novelle, eben Venedig, nicht aufgegeben werden konnte. Dagegen entsprach die ganz unbestimmte, fabelhafte Lage von Belmonte, die allenfalls der halb märchenhaften Erzählung genügen konnte, den Anforderungen des Dramas, namentlich des Shakespeare'schen Dramas keinesweges. Hiefür bedürfte es statt eines phantastischen Nebelbildes einer wirklichen und wenn auch nicht nothwendiger Weise erkennbaren, doch individuell charakterisirten Lokalität, und diese muszte in gröszere Nähe von Venedig gerückt werden. Dazu boten sich dem Dichter, auch wenn er und sein Publikum die Lage Venedigs nur ganz oberflächlich kannten, blosz zwei Stellen aus der Umgegend der Dogenstadt zur Auswahl dar, die eine in der Richtung nach Treviso, die andere in der Richtung nach Padua. In beiden Richtungen, 'sul terraglio' d.i. gegen Treviso, und 'sulla riviera', d.i. am Ufer der Brenta gegen Padua, war am Ende des 16. Jahrhunderts - wie Giacomo Franco in seinen Habiti delle donne Veneziane [Wohnsitze der venezianischen Damen], Venedig 1610 (in Facsimile reproducirt von Münster's Nachfolger in Venedig 1877) erzählt  - die Gegend so reich mit glänzenden, gartenumgebenen Palästen und Villen besäet, dasz Padua und Treviso mit Venedig nur eine einzige Stadt zu bilden schienen. Die Brentagegend nach Padua zu gewährte dem Dichter den doppelten Vorzug vor derjenigen nach Treviso, dasz dort zugleich eine Wasser- und eine Landstrasze sich vorfanden (auf welch letzterer man schneller als auf der ersteren nach Venedig gelangte) und dasz im Hintergrunde desselben sich die sehr willkommene Aussicht auf die altberühmte Universitätsstadt Padua eröffnete, eine Stadt und Gegend, welche offenbar auch Shakespeare bekannter war, als diejenige von Treviso, dessen Name nicht einmal in seinen Dichtungen genannt wird.

Karl Elze hat bereits in seinen  'Abhandlungen zu Shakespeare' nachgewiesen, dasz der reichen Portia paradiesisscher Wohnsitz Belmont bei Erwägung aller einzelnen, hin und wieder sich im Drama findenden Angaben nirgend anders gedacht werden kann, als an den Ufern der Brenta. In der Mitte zwischen der damals gewöhnlichen Überfahrt ('traject, traghetto; common ferry') bei Fusina vom Festland nach Venedig einerseits, und Padua andrerseits, findet sich in der von Shakespeare angegebenen Entfernung von Venedig (20 Meilen, englische wie italienische, die jenen ziemlich genau entsprechen) der Ort Dolo, in dessen Umgebung von la Mira bis Strà und Bovolenta zu beiden Seiten der Brenta die groszen venezianischen Adelsfamilien Badoer, Bembo, Contarini, Mocenigo, Priuli, Tiepolo, Tron, Valier) Revedin, Cavalli, Zannelli u.a.  ihre fürstlichen Landsitze hatten und zum Theil noch haben, deren einer füglich als Vorbild von Belmont gelten kann.

Dies ist zunächst alles, was sich aus den Angaben des Drama's über die Lage von Belmont schlieszen läszt. Aber aus dieser Verlegung des Belmonte der Novelle an die reizenden Ufer der Brenta folgte zugleich die Nothwendigkeit einer Änderung des Vorwandes, mit welchem die Abwesenheit der Herrin von der Dienerschaft bemäntelt wurde.  Bei der geringen Entfernung der Portia'schen Villa Belmont von Venedig nämlich ergab sich natürlich eine viel kürzere Abwesenheit Portia's von Haus, für welche unmöglich eine Badereise vorgeschützt werden konnte. Selbst die Angabe eines auch nur kurzen Besuchs in einem der nächsten Badeorte [wie in der Quelle, Ser Giovannis Il Pecorone] , etwa in den schönen Bädern zu Abano, Montegrotto oder Battaglia in den Euganeischen Hügeln, hätte unter den obwaltenden Umständen und Lokalverhältnissen zu wenig Wahrscheinlichkeit gehabt. Dem ernstern Sinne Portia's und ihrer Lage würde überhaupt der Vorwand einer heitern Vergnügungsfahrt wenig entsprochen haben,  daher wählte der Dichter einen ihrem Charakter, den Lokalverhältnissen und den Zeitanschauungen zugleich Rechnung tragenden Ausweg und verwandelte die Badereise der Novelle in einen zeitweiligen Klosteraufenthalt zum Zwecke frommer Andachtsübung. Klöster konnte es ja damals in Italien überall geben, und es gab deren genug.

There is a monastery two miles off' (III.4). Es gab zu der Zeit auch wirklich ein Frauenkloster in der Nähe der vom Dichter für Belmont gewählte Lokalität. Etwa drei englische (oder italienische) Meilen von Strà liegt landeinwärts am rechten Ufer der Brenta der Ort Saonara. Hier bestand im sechzehnten Jahrhundert ein Benedictinerinnenkloster, dessen Bewohnerinnen zwar 1558 mit den Nonnen des gleichen Ordens zu Sta Anna in Padua vereinigt wurden, dessen Klostergebäude jedoch bis in unser Jahrhundert als solche bekannt und erst zu Menschengedenken von einer Gräfin Cittadella-Vigodarzere angekauft und niedergerissen wurden.

Es kam hier nur darauf an, das auffallend genaue Zusammentreffen der von Shakespeare gemachten Lokalangaben über die Lage Belmonts (zwischen Padua und Fusina, 20 englische oder italienische Meilen von Venedig und 2 Meilen von einem Frauenkloster entfernt) mit der damaligen und noch jetzt erkennbaren Wirklichkeit zu constatiren, nicht es zu erklären. Aber wenn auch der Name 'Brenta' selbst von Shakespeare nicht genannt wird, so kann doch von einem Mangel lokaler Färbung, wenigstens im 'Kaufmann von Venedig', nicht die Rede sein. >>

Othello

I.

In I.1 spricht Jago zu Roderigo:

Lead to the Sagittary the raised search,
And there will I be with him. So farewell. 

August Wilhelm Schlegel übersetzt:

Führt jene Suchenden zum „Schützen" hin:
Dort werde ich bei ihm sein. Und so lebt wohl!

Gesucht wird nach Othello und Desdemona. Dor halten sich die beiden auf, offensichtlich, denn in I.2 wird Othello gefunden, verlässt sein Haus, wo er Desdemona zurücklässt und später, in I.3,  sagt, man soll sie dort holen:

Send for the lady to the Sagittary,
And let her speak of me before her father.
If you do find me foul in her report,
The trust, the office I do hold of you,
Not only take away, but let your sentence
Even fall upon my life.

Bei Schlegel:

Zum „Schützen" sendet, ruft das Fräulein her,
Und vor dem Vater mag sie von mir zeugen,
Und werd ich falsch erfunden durch ihr Wort:
Nicht nur Vertraun und Amt, das ihr mir gebt,
Mögt Ihr mir nehmen, ja es treff eur Spruch
Mein Leben selbst.

Über diesen „Sagittary" ist viel gerätselt worden. Weil Othello Admiral der venezianischen Flote ist, wurde angenommen, er würde in oder nahe dem Arsenal wohnen, wo eine Bogenschützenstatue gestanden haben könnte. Optiert wurde auch für eine Taverne, die dieses Zeichen führt.

Bis Violet M. Jeffery das vorschlug, was wohl die Lösung ist („Shakespeare's Venice", Modern Language Review, Vol. XXVII, 1932, S. 24-35). „Denn die 'Sagittary' ist eine der kennzeichnendsten calli in Venedig. Es handelt sich um keine andere als die Frezzarìa, eine enge dunkle Straße, die bei der Salizzada [oder „Salizada", das venezianische Wort für „Straße"] San Moisè gleich hinter der Piazza San Marco beginnt und dann in einem rechten Winkel abbiegt bis zur Ponte dei Barcaroli nahe Campo San Fantino. Die Frezzarìa wurde so genannt, weil die Pfeilmacher dort ihre Läden hatten... Shakespeares Wiedergabe des Straßennamens ist höchst interessant. [John] Florio übersetzt 'Frezzarìa oder Frecciarìa' als einen Ort, an dem Bolzen oder Pfeile gemacht werden... In Shakespeares Zeit konnte das Wort Pfeil im Italienischen in zweierlei Weisen bezeichnet werden, einmal als frezza, zum andern als sagitta. Das englische Suffix „ary" entspricht dem italienischen Suffix „arìa". ... Für das Wort frezza, das germanischen Ursprungs ist, setzte Shakespeare das vom Lateinischen abgeleitete sagitta ein. Das Wort „frezzary" hätte für englische Ohren keine Bedeutung gehabt." (S.26-7)

Es ist angebracht, den Schluss von Jefferys Artikel im Original zu zitieren: „It is a far cry from Stratford meadows, from London river and London town, to Venice and the lagoon. Can such accurate allusions to the 'Sagittary,' to the 'common ferry,' together with the vivid detailed picture of Venice, be solely the fruit of intuitive knowledge? Or did Shakespeare advisedly and with full experience when, in Love's Labour's Lost, he quoted the travellers who say of Venice ,

Venetia, Venetia,
Chi non  ti vede, non ti pretia? "

II.

In I.3 sagt ein Senator:

                         This cannot be,
By no assay of reason; 'tis a pageant
To keep us in false gaze. When we consider
The importancy of Cyprus to the Turk,
And let ourselves again but understand
That as it more concerns the Turk than Rhodes,
So may he with more facile question bear it,
For that it stands not in such warlike brace,
But altogether lacks the abilities
That Rhodes is dress'd in. If we make thought of this,
We must not think the Turk is so unskillful
 To leave that latest which concerns him first,

Der Senator kann nicht glauben, was ihm der Matrose berichtet, dass nämlich die Osmanen Zypern, das als ihr primäres Eroberungsziel galt, einstweilen aufgegeben hätten, um sich die viel besser befestigte Insel Rhodus zu wenden. Dies könne nur ein Ablenkungsmanöver („pageant") sein, meint der Senator. Und gleich darauf behält der Senator recht. Die Osmanen haben nur Kurs auf Rhodus genommen, um sich dort mit einem anderen Meeresheer zu vereinigen, bevor sie Zypern angreifen.

Theodor Elze („Italienische Skizzen zu Shakespeare, 2", Shakespeare Jahrbuch , Band 14, 1878, S. 170): „Wichtiger ist die Bemerkung, daß es im Jahr 1570 allerdings vorgekommen sei, was Othello I, 3 erzählt wird, daß nämlich eine türkische Flotte gegen Cypern segelt, dann sich plötzlich gegen Rhodus wandte, hier mit einem zweiten Geschwader sich vereinigte und nun den Weg gegen Cypern fortsetzte".

Eine solche Nachricht (Zypern wurde 1571 von den Osmanen erobert) war 1575, als Edward de Vere in Venedig weilte, noch ziemlich frisch. Auch wenn dies nicht bedeutet, dass Othello Ende der 1570er Jahre geschrieben würde, schöpfte der Autor hier wahrscheinlich aus seinen Erinnerungen, die sich auf die 1570er Jahre bezogen. 1604, als Shakespeare angeblich den Othello schrieb, war die „news" keine „news" mehr, da über dreißig Jahre alt, und dürfte in England kein Thema mehr gewesen sein, weder unter den Aristokraten, noch unter den Schauspielern, noch in den Tavernen.

III.

Ein anderer Forscher, der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in den Shakespeare Jahrbüchern mit großer Akribie Scheibchen für Scheibchen die Behauptung widerlegt hat, Shakespeare hätte keine genauen geogrphische Kenntnisse über Italien, ist Gregor Sarrazin. Hier soll nur ein Beispiel aus The Two Gentlemen of Verona genügen („Kleinere Mitteilungen", Shakespeare Jahrbuch, Band 46, 1910, S.114-17).

<< In einer in Mailand spielenden Szene antwortet (Akt IV, Sz. II, L. 85) Proteus auf Thurios Frage:

Where meet we?
At Saint Gregory's Well.

Bisher galt die Lokalangabe als freies Phantasieprodukt. Ich hatte indessen in meiner Schrift «Aus Shakespeares Meisterwerkstatt» S. 37 darauf hingewiesen, daß die Ortsbezeichnung genau damaligen Mailänder Ortsverhältnissen entspricht. Denn, wie aus den dort angeführten Stellen in topographischen Schilderungen, Reiseberichten und Chroniken hervorgeht, eine Sehenswürdigkeit Mailands war damals das von einem Kanal mit fließenden «heilsamen» Wasser umgebene Hospital, welches als «San Gregorio» bezeichnet wurde; und unmittelbar neben diesem Kanal zog sich (und zieht sich noch jetzt) eine prächtige Straße entlang, welche früher (im 18. Jahrhundert) von den Bürgern vorzugsweise als Spaziergang, also gewiß auch als Stelldichein benutzt wurde ... Die früheste, aus Shakespeares Zeit stammende Erwähnung dieses Hospitals finde ich in Schotts Itinerarium, a. 1600, wo es indessen aus Versehen - abweichend von allen anderen Quellen - als «Sancti Georgii (statt Sancti Gregorii) diversorium peste affectorum» bezeichnet ist...

Der Name «St. Gregory», San Gregorio ist nun durchaus nicht etwa ein alltäglicher. In Oberitalien wenigstens ist er als topographische Bezeichnung gnz ungewöhnlich... Mailand scheint die einzige Stadt gewesen zu sein, die ein namhaftes Bauwerk besaß, welches nach diesem Heiligen genannt war.>> 

The Two Gentlemen of Verona wird orthodox auf ca. 1594 datiert. Shakespeare muss daher:

  1. Eine noch frühere Version von Schotts Itinerarium als die von 1600 gesehen haben.
  2. Davon gehört haben, von Reisenden.
  3. Mit seiner genialen Einbildungskraft nicht nur St. Gregory's Well, sondern auch die ziemlich genauen Abstände von Dolo (Belmont) nach Padua und von Belmont zum Nonnenkloster erfasst haben.

Wer hier noch zweifelt und  glaubt, Shakespeare habe dies aus seiner Erfahrung als Italienreisender heraus geschrieben, braucht vermutlich - neuerdings - einen Psychiater.

© R. Detobel 2010