Teil 5 Hamlet: ein Werk - zwei Ausgaben21 Fragen und 21 Antworten

Jetzt können wir zuversichtlich annehmen, dass das erste Hamlet-Quarto von 1603 auf der Grundlage eines Theatermanuskripts gedruckt wurde, das eine zur Aufführung auf der öffentlichen Bühne auf fast die Hälfte gekürzte und textlich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vom Autor selbst überarbeitete Fassung darstellt, denn dazu ist der Text dieses Quartos an zu vielen Stellen zu hausbacken. Gleiches dürfte übrigens für weitere Shakespeare-Texte zutreffen.

Aber ist die Frage der Publikationsgeschichte für die Verfasserschaftsfrage überhaupt relevant? In mehr als nur einer Hinsicht ist die Publikationsgeschichte überhaupt entscheidend für die Verfasserschaftsfrage. Das kann im Rahmen eines Webseitebeitrages nicht in Einzelheiten begründet werden. Die Shakespeareforschung ist hier vieles schuldig geblieben. Heutzutage kann man in Bezug auf die Publikationsgeschichte nicht mehr von Forschung reden: Eine Forschung, die sich von offenen Fragen abwendet und sich mit einem problembefrachteten status quo zufrieden gibt, hat sich in einem Nabelschautempel verschanzt, um bei einem Bankett von Gemeinplätzen sich selbst zu feiern.

Die Form, in der hier das Publikationsproblem behandelt wird, ist die des IFAQ, „Infrequently asked questions" mit Antworten. Die Antworten werden im Wesentlichen aus mehr oder weniger nackten Ergebnissen bestehen. Mehr ist nicht möglich. An anderer Stelle - so lautet die Entschuldigung - ist die ausführliche Begründung geleistet worden, was in einer Zeit, in der die Maxime „lieber ignorant und bekannt als versiert und ignoriert" Triumphe zu feiern scheint, einer Einladung zur Nichtbeachtung gleichkommen mag.

FRAGE 1: WIE KONNTE ES 1603 ZUM DRUCK VON HAMLET KOMMEN?

Eigentlich hätte es dazu nach dem Regelwerk der Druckergilde  gar nicht kommen dürfen, ja können. Zumindest, da steckt die Crux, nach dem bisherigen Verständnis dieses Regelwerks nicht. Es ist nötig, sich die Anmeldung zum Druck am 26. Juli 1602 anzuschauen (modernisierte Rechtschreibung und Grammatik):

„James Roberts. Entred for his copy under the hands of master Pasfield and master Waterson warden A book called the Revenge of Hamlet Prince of Denmark as it was lately acted by the Lord Chamberlain's servants".

Den Vorgang hat man sich so vorzustellen: Der Drucker James Roberts besitzt ein Manuskript von Hamlet, legt dies zunächst einem bischöflichen Zensor vor, der es abzeichnet. Der Zensor heißt in diesem Fall Passfield. Damit ist das Imprimatur erteilt. Dann geht er zur Druckergilde und legt das abgezeichnete Manuskript einem der beiden Geschäftsführer („wardens" wurden sie genannt) der Druckergilde („Stationers' Company") vor. Sein Name ist Waterson (Vorname Simon). Damit ist Roberts das Verlagsrecht erteilt worden. Er kann das Stück nun drucken und kein anderes Mitglied kann ihm das Verlagsrecht streitig machen.

FRAGE 2: WAS WÜRDE GESCHEHEN, WENN EIN ANDERER VERLEGER HAMLET DRUCKEN LIESSE?

Dieser Verleger hätte gegen einen für die Ordnung der Druckergilde fundamentalen Grundsatz verstoßen und würde unweigerlich bestraft. Denn das Verlagsrecht an einem Werk gehörte demjenigen, der es als Erster bei der Gilde zum Druck anmeldete. Das war James Roberts. Die Verleger des ersten Hamlet-Quartos waren aber John Trundle und Nicholas Ling. James Roberts könnte natürlich das Verlagsrecht an sie abgetreten und sich auf den Druck beschränkt haben. Das tat er 1604, aber nicht 1603. 1603 war der Drucker Valentine Simmes.

FRAGE 3: WURDEN TRUNDLE UND LING WEGEN VERLETZUNG DES VERLAGSRECHTS VON ROBERTS BESTRAFT?

Nein.

FRAGE 4: IST ES SICHER, DASS TRUNDLE UND LING NICHT BESTRAFT WURDEN?

Sehr sicher, denn die gut erhaltenen ausführlichen Aufzeichnungen der Druckergilde erwähnen nichts davon. Andere Fälle werden erwähnt. In einigen wenigen Fällen wird dem Übeltäter gar Einsperrung ins gildeeigene Gefängnis angedroht. Es gibt noch einen weiteren zwingenden Grund. Siehe unten.

FRAGE 5: WIESO WURDEN TRUNDLE UND LING NICHT BESTRAFT?

Weil sie nach dem Regelwerk der Druckergilde rechtens gehandelt hatten.

FRAGE 6: WIESO RECHTENS, WENN SIE GEGEN EINEN FUNDAMENTALEN GRUNDSATZ VERSTIESSEN?

Weil wie fast jede Regel auch diese eine Ausnahme hatte.

FRAGE 6: WAS WAR DIESE AUSNAHME?

Die Ausnahme war eine Verordnung der Druckergilde aus dem Jahr 1588.

FRAGE 7: WAS SCHREIBT DIESE VERORDNUNG VOR?

Die Verordnung sieht vor, dass, wenn der Inhaber des Verlagsrechts zu lange zögert, ein von ihm gedrucktes Werk neu zu drucken, die beiden jährlich neu zu wählenden Geschäftsführer („wardens") der Druckergilde diesen Verleger auffordern sollten, mit dem Neudruck zu beginnen. Hat er nach sechs Monaten dazu immer noch keine Anstalten gemacht, können die Wardens einem anderen Mitglied der Druckergilde die Genehmigung erteilen, eine Auflage dieses Werkes zu drucken. Der Inhaber des Verlagsrechts erhält einen Anteil am Erlös dieser Auflage. Die Höhe dieses Anteils bestimmen die Wardens.

FRAGE 8: GALT DIES NUR FÜR NEUDRUCKE ODER AUCH FÜR ERSTDRUCKE WIE HAMLET?

Es galt auch für Erstdrucke. Zwar sind diese in der Verordnung nicht explizit erwähnt, doch auch im Mittelalter galt bereits, dass ein Gesetz oder eine Rechtsvorschrift nach der Absicht des Gesetzgebers auszulegen ist. Die Verordnung hatte für die Mitglieder der Druckergilde Gesetzescharakter. Die Verordnung wurde in einer Zeit großer Unruhe in der Druckergilde erlassen. Die Unruhe entzündete sich daran, dass einige Verleger von der Krone Privilegien für Werke erhalten hatten, für die eine große Nachfrage bestand (zum Beispiel Schulbücher und bestimmte religiöse Werke). Die Verordnung sollte verhindern, dass solche privilegierten Verleger andere, nicht privilegierte Werke anhäuften und, wenn diese vergriffen waren, den Neudruck hinauszögerten. Die Absicht des Gesetzgebers, der Druckergilde, war also klar. Das Horten von Verlagsrechten war auch durch das Hinauszögern von Erstdrucken gegeben. Die Druckergilde hätte ihre eigene Absicht unterlaufen, wenn auch nicht Erstdrucke einbezogen worden wären.

FRAGE 9: WARUM DRUCKTE ROBERTS ERST 1604 UND NICHT 1603 UND WIESO UNTERSCHIED SICH DIE FASSUNG VON 1604 SO WESENTLICH VON DER AUS DEM JAHR 1603?

Weil John Trundle offenbar ein Theatermanuskript ergattert hatte, eben jene gekürzte Fassung zur Aufführung auf der öffentlichen Bühne, während James Roberts das Manuskript erhalten hatte, das Shakespeare für den Druck vorgesehen hatte.

FRAGE 10: WIE KANN MAN WISSEN, DASS JAMES ROBERTS DAS MANUSKRIPT DES AUTORS BESASS ODER ZUMINDEST BEI DER ANMELDUNG ZUM DRUCK AM 26. JULI 1602 BESESSEN HATTE?

Man kann es der Titelseite des von Nicholas Ling verlegten und von Roberts gedruckten Quarto von 1604 (Q2) entnehmen. Roberts legte im Juli 1602 ein Manuskript vor, das nicht mehr existiert, aber wohl die längste Fassung von Hamlet darstellte. Die einschlägige Anmerkung auf der Titelseite lautet:

„Newly imprinted and enlarged to almost as much again as it was, according to the true and perfect copy".

"Neu gedruckt und wieder erweitert zu dem, wie es war gemäß der wahren und vollständigen Fassung".

Das heißt: Q2 ist immer noch ein wenig kürzer als die Fassung, die Roberts 1602 dem Zensor vorlegte und bei der Druckergilde anmeldete. Und Q2 ist doppelt so lange wie Q1 und länger als die Version in der Folioausgabe von 1623.

FRAGE 11: WAS BEDEUTET „TRUE AND PERFECT COPY"?

Aus anderen Fällen weiß man, dass „true" auf das authentische Manuskript verweist. Das authentische Manuskript ist die vom Autor für den Druck genehmigte Fassung. „Perfect" verweist auf die Vollständigkeit der Fassung. Von anderen Autoren (u. a. Ben Jonson, John Webster) erfährt man, dass die Stücke nicht gedruckt wurden, wie sie aufgeführt worden waren (und wohl auch umgekehrt: nicht aufgeführt, wie sie gedruckt worden waren). Der gedruckte Text war oft merklich länger, wie im Falle von Hamlet, aber zum Beispiel auch von Ben Jonsons Bühnenstücken Every man Out of His Humour oder Sejanus. Diese gedruckte Fassung, die vollständiger war als die gespielte, war „the perfect copy". Jonson versicherte seinen Lesern allerdings nicht, dass es sich auch um die „true copy" handelte. Es wäre ja auch völlig überflüssig gewesen, denn er edierte diese Werke selbst. Es wäre etwas allzu befremdend gewesen, wenn er ein Stück in den Druck gab, dem Leser auch noch mitzuteilen, dass es sich um die „true copy" handelte, nämlich die Fassung, die er, Jonson, zum Druck vorgesehen hatte.

FRAGE 12: WARUM ENTHÄLT DIE TITELSEITE DES HAMLET-QUARTOS VON 1604 DANN DEN VERMERK „ACCORDING TO THE TRUE AND PERFECT COPY"?

„Perfect copy", weil das Quarto von 1603 eine stark gekürzte Spielfassung war. „True copy", weil das Quarto von 1603 dazu eine ziemlich überarbeitete Spielfassung war, und zwar nicht vom Autor geändert, sondern vermutlich von den Schauspielern, die den Text an das Verständnis ihres Publikums angepasst hatten.

FRAGE 13: KOMMT DIESER AUSDRUCK „TRUE AND PERFECT COPY" AUSSER BEI SHAKESPEARE AUCH SONST NOCH VOR?

Ja, unter anderem bei der postumen Folioausgabe der Werke von Francis Beaumont und John Fletcher im Jahr 1647 (Beaumont starb 1616, Fletcher 1625). Dort gibt der Verleger Moseley ziemlich ausführlich an, was unter „true and perfect copy" zu verstehen ist (modernisierte Schreibung):

„One thing I must answer before it be objected; 'tis this: When these Comedies and Tragedies were presented on the Stage, the Actors omitted some Scenes and passages  (with the Authour's consent) as occasion led them; and when private friends desired a copy, they then (and justly to) transcribed what they acted. But now you have both all that was acted,  and all that was not; even the perfect full Originals without the least mutilation; so that were the Authors living (and sure they can never die) they themselves would challenge neither more nor less then what is here published; this volume being now so complete and finished, that the reader must expect no future alterations. "

„Etwas muss ich beantworten, bevor es eingewendet wird; und zwar dies: Wenn diese Komödien und Tragödien auf der Bühne gezeigt wurden, ließen die Schauspieler gewisse Szenen aus (mit Zustimmung des Autors), wie es die Umstände ergaben; und als private Freunde ein Exemplar wünschten, schrieben sie - zu Recht - das über, was sie gespielt hatten. Aber jetzt haben Sie hier alles, was gespielt und was nicht gespielt wurde; eben die perfekten vollständigen Originale ohne die geringste Entstellung; so dass lebten die Autoren noch, und gewiss können sie nie sterben, sie selbst nichts mehr und nichts weniger verlangen würden, als das, was hier veröffentlicht wird; dieser Band ist jetz derart vollständig und fertig, dass der Leser keine künftigen Änderungen erwarten muss."

„Perfect" ist genau definiert als „vollständig", mehr als das, was auf der Bühne gezeigt wurde; „true" ist in dem Wort „Originale" enthalten. Wenn ein Verleger versicherte, das Werk sei nach dem Original des Autors gedruckt wurde, oder nach einem Manuskript in der Handschrift des Autors, so bedeutete das das gleiche wie „true", „authentisch".

FRAGE 14: KANN MAN DER  AUSSAGE DES VERLEGERS MOSELEY TRAUEN?

Nicht unbedingt. Die Versicherung eines Verlegers, es handelte sich um ein Original bzw. um eine „true copy", war ein Verkaufsargument, zumal nach dem Tod des Verfassers. So finden wir auf ein Werk von Beaumont & Fletcher, A King and No King, das 1625 erscheint und vermutlich zum Gedenken an den in diesem Jahr verstorbenen John Fletcher (Beaumont war bereits 1616 gestorben) neu verlegt wurde, den Ausdruck „according to the true copy". Das Werk war einige Jahre zuvor ohne diesen Vermerk in einer nicht längeren und nicht nennswert geänderten Fassung erschienen.

FRAGE 15: BEDEUTET DIES, DASS AUCH SHAKESPEARE GESTORBEN WAR, ALS HAMLET 1604 ERSCHIEN?

Mit Sicherheit findet sich der Ausdruck auf der Titelseite von A King and No King, weil Fletcher gestorben war. Wie auch auf mehreren anderen Titelseiten. Möglicherweise auch auf der Titelseite von Hamlet, weil Shakespeare beim Erscheinen gestorben war. Sicher sein kann man nicht. Denn der Ausdruck „true copy" wurde auch verwendet, wenn ein Autor nicht als Herausgeber seiner eigenen Werke in Erscheinung zu treten wünschte.

Mit Sicherheit kann man also sagen: Shakespeare edierte Hamlet nicht selbst oder wünschte auf jeden Fall nicht, als Herausgeber in Erscheinung zu treten.

Mit Sicherheit kann man auch sagen: Das Manuskript, das Roberts zum Druck anmeldete, war das Manuskript Shakespeares.

FRAGE 16: WIESO VERLEGTE NICHT JAMES ROBERTS Q2, SONDERN NICHOLAS LING, DER DOCH DAS UNAUTHENTISCHE Q1 MITVERLEGT HATTE?

Eine ausgezeichnete Frage, die außer durch die Produktion einer „story" nie befriedigend beantwortet worden ist.

FRAGE 17: WARUM IST DIE BISHER NICHT BEFRIEDIGEND BEANTWORTET WORDEN?

Vielleicht, weil man zu früh zu fragen aufgehört hat. Sicher, weil man die Verordnung von 1588 nie mit Hamlet in Verbindung gebracht hat. Denn bringt man die ins Spiel, klärt sich fast alles auf.

Zunächst: Verlegen und Drucken waren zwei unterschiedliche Tätigkeiten. Sie konnten zusammenfallen. Roberts hätte Hamlet verlegen können. Er druckte es aber nur. Ling verlegte es. Obwohl Ling auch Q1 1603 verlegt hatte, genauer: mitvelegt hatte.

Roberts übernahm meist nicht selbst die Funktion des Verlegers, sondern suchte sich einen Partner als Verleger. Dieser Partner war oft Nicholas Ling. Auch das Verlagsrecht für Hamlet hat er zwischen 1602 und 1604 Ling übertragen. Aber übertrug er das vor oder nach dem Erscheinen von Q1? Es spielt keine Rolle. Spielen wir beide Möglichkeiten durch.

NACH DEM ERSCHEINEN VON Q1.

Roberts hat also noch das Verlagsrecht. Aber er nimmt es nicht sofort wahr. Er wartet lange. In der Zwischenzeit hat John Trundle ein Theatermanuskript von Hamlet in die Hände bekommen und will es drucken. Roberts wird von den Wardens der Druckergilde aufgefordert, Hamlet zu drucken. Er weigert sich. Oder, auch das ist möglich, er besitzt das Manuskript nicht mehr, weil er es dem Autor zurückgegeben hat. Oder er weigert sich, weil er auf die Genehmigung des Autors wartet. Also kann John Trundle eine Auflage des Stückes anhand des Theatermanuskripts drucken.

VOR DEM ERSCHEINEN VON Q1.

Dass Roberts das Verlagsrecht bereits seinem Partner Ling vor dem Ercheinen von Q1 übertragen hatte, ist die sehr viel wahrscheinlichere Variante. Es ist jetzt Ling, der aufgefordert wird, das Stück in den Druck zu geben. Ling kann jedoch nicht. Entweder hat er das Manuskript nicht oder er ist durch Roberts' Zusage an den Autor gebunden, Hamlet jetzt noch nicht zu drucken. Er hat jetzt zwei Möglichkeiten: 1) Er lässt Trundle das Stück allein verlegen und erhält einen von den Wardens bestimmten Anteil an den Einnahmen; 2) Er entscheidet sich, das Stück gemeinsam mit Trundle zu verlegen, und erhält dann einen halben Anteil, den die Wardens ihm wahrscheinlich nicht zuerkannt hätten.

Die zweite Lösung dürfte die bessere für Ling gewesen sein.

FRAGE 18: WARUM SOLLTE SHAKESPEARE GEWÜNSCHT HABEN, DASS HAMLET 1603 NOCH NICHT GEDRUCKT WURDE?

Eine mögliche Antwort ist, dass er es noch weiter bearbeiten wollte. Meine eigene Option ist: Hamlet sollte nach seinem Tod als eine Art geistigen Testaments erscheinen.

In den vorigen Beiträgen haben wir gesehen, dass Edward de Veres Briefe nun doch ernste Indizien dafür bieten, dass Hamlet autobiografische Anspielungen enthält. Sogar Harold Bloom hat geäußert, dass Shakespeare sich in Hamlet selbst dargestellt habe. Konkret ist er bei dieser Behauptung allerdings nicht geworden. Wie auch? In den voraufgegangenen Beiträgen sind einige konkrete Hinweise erbracht worden.

FRAGE 19: WÄRE ES FÜR SHAKESPEARE DENN NICHT MÖGLICH GEWESEN, DEN DRUCK VON Q1 ZU VERHINDERN?

Es gab dazu eine Möglichkeit. Und diese hat er auch genutzt, jedoch nicht 1602 für Hamlet, sondern im Juli 1598 für The Merchant of Venice.

FRAGE 20: WIE DAS DENN?

Erst muss noch etwas vorausgeschickt werden. Die Verordnung von 1588, genauer Artikel 5 dieser Verordnung, war nicht in jedem Fall anwendbar. Sie war nur dann nicht anwendbar, wenn sich der Autor weigerte, sein Werk in Druck oder wieder in Druck zu geben. UND NUR DANN. Nur dann konnten die Wardens den Inhaber des Verlagsrechts nicht auffordern, das Werk innerhalb einer gewissen Frist zu drucken. Und nur dann konnten sie, wenn der Inhaber des Verlagsrechts, hier James Roberts, den Druck hinauszögerte, einem anderen Mitglied der Druckergilde nicht die Genehmigung erteilen, eine Auflage dieses Werkes zu verlegen.

Aber natürlich mussten die Wardens wissen, dass ein solches Veto des Autors vorlag. Nicht nur die amtierenden Wardens, sondern die später gewählten (denn sie wurden Ende Juni/ Anfang Juli jedes Jahr neu gewählt). Deshalb finden wir im Register der Druckergilde einige Einträge, in denen irgendein Vermerk oder Klausel erscheint, woraus hervorgeht, dass Artikel 5 keine Anwendung finden kann, entweder, indem der Vorbehalt des Autors direkt festgehalten ist, oder indem, wie im Eintrag des Merchant of Venice, die Anwendbarkeit dieses Artikels verneint wird.

FRAGE 21: WIE LAUTET DIE KLAUSEL FÜR MERCHANT OF VENICE?

Am 22. Juli 1598 findet sich folgender Eintrag (modernisierte Schreibung):

„James Roberts. Entered for his copy under the hands of both the wardens, a book of The Merchant of Venice or otherwise called the Jew of Venice. Provided that it be not printed by the said James Robertes; or any other whatsoever without licence first had from the Right honorable the lord Chamberlain."

Hier sind nun alle Vorkehrungen getroffen, um das zu verhindern, was 1603 im Falle von Hamlet geschah. Nehmen wir rein hypothetisch an, John Trundle hätte wieder ein Theatermanuskript in die Hände bekommen. Dieses Manuskript hätte vielleicht statt des Titels The Merchant of Venice den Titel The Jew of Venice getragen, da das Stück auch unter diesem Titel gespielt wurde (und zu vermuten steht, dass dieser Titel der geläufigere war). Die Wardens hätten vermuten können, dass es sich um zwei verschiedene Stücke handelte. Durch den Vermerk des zweiten Titels war dieser Möglichkeit vorgebeugt.

Die Klausel, die die Anwendbarkeit des Artikels 5 der Verordnung von 1588 ausschließt, lautet: „Vorausgesetzt, dass besagter James Roberts oder wer sonst immer, dass Stück nicht drucken kann ohne vorherige Genehmigung des Sehr Ehrenwerten Lordkämmerers."

Diese Klausel verneint nun die Anwenbarkeit des Artikels 5 der Verordnung von 1588. Denn die Wardens wissen: auch wenn Roberts nach so langer Zeit (das Stück wurde erst Ende 1600 gedruckt, von Roberts wiederum, der Verleger, dem Roberts erst im Oktober 1600 das Verlagsrecht übertragen hatte, war Lawrence Hayes) immer noch nicht gedruckt hat, können wir ihn dazu nicht auffordern; und es kann auch kein einziges anderes Mitglied der Druckergilde, wer auch immer, „any other whatsoever", kommen und beantragen, das Stück zu drucken, denn die Zustimmung des Lord Chamberlain steht noch aus. Der Lord Chamberlain hatte aber mit Artikel 5 der Verordnung nichts zu tun... es sei denn er war der Autor.

Dieser Lord Chamberlain ist Edward de Vere, 17. Earl of Oxford. Der Einwand, Oxford sei der Lord Great Chamberlain of England, der Lord Chamberlain im Jahr 1598 sei George Carey, 2. Baron Hunsdon, wird wahrscheinlich von Literaturwissenschaftlern entgegenhalten werden. Literaturwissenschaftler betreiben ja selten historisches Dokumentestudium. Sie brauchen deshalb gelegentlich einfach rezitierbare Faustregeln. Auch von dem einen oder anderen Historiker kann der Einwand zu hören sein. Von einem mit zeitgenössischen Dokumenten vertrauten Historiker wird er nicht zu hören sein. Denn wenn vom Lord Chamberlain die Rede ist, ist in der Tat zwar meist der Lordkämmerer des königlichen Haushalts gemeint; in sehr amtlichen Dokumenten wurde freilich auch der mit seinem vollständigen Titel genannt, der zu Zeiten Elisabeth' lautete: Lord Chamberlain of Her Majesty's House. Umgekehrt wird man auch Stellen finden können, wo auf den Lord Great Chamberlain of England (oder auf den Lordkämmerer eines anderen Haushalts der königlichen Familie, denn die Gattin und Kinder des Königs hatte einen eigenen Haushalt - was in Elisabeth' Regierungszeit natürlich nicht der Fall war) schlicht als Lord Chamberlain verwiesen wird.

Welcher Lord Chamberlain seine Zustimmung zum Druck geben musste, bräuchte die Wardens nicht zu interessieren. Sie brauchten nur zu wissen, dass er der Verfasser von The Merchant of Venice war, weshalb die Verordnung von 1588 keine Anwendung finden konnte.

Eine solche Klausel fehlte im Eintrag von Hamlet.

© Robert Detobel 2010