Die römischen Sagen stellen im Wesentlichen Variationen auf ein Thema dar: die väterliche Gewalt. Der Konsul Titus Manlius verurteilt seinen Sohn zum Tode, weil er im Krieg gegen die Latiner seinen Befehl, sich nicht auf einen individuellen Zweikampf einzulassen, sondern sich in die kollektive Schlachtordnung einzureihen, missachtet hat. Im Gründermythos der römischen Republik lässt Lucius Junius Brutus seine beiden Söhne hinrichten, weil sie versucht haben, die Königsgewalt wiederherzustellen. Die dänische Amlethus-Sage ist mit der römischen Brutus-Sage verwandt. Brutus und Amlethus bedeuten dasselbe: der Stumpfsinnige, der Blöde oder Wahnsinnige. Brutus wie Amlethus stellen sich wahnsinnig, um der Rache ihres Onkels zu entgehen. Auch der dänische Sagenzyklus des Saxo Grammaticus steht im Zeichen des Vaters, wenngleich in sehr anderer Weise. Hier erfolgt die Erzählung in der Matrix einer Initiation der Adoleszenten zum Krieger. In diesem Initiationsritus ist fast immer der Vater ermordet worden. Anders als in der römischen Sage tritt der Vater nicht in Erscheinung, sondern es werden die Adoleszenten emotional auf die Rache für den toten Vater eingeschworen. Amlethus bildet innerhalb dieses Zyklus eine Ausnahme, weil er zuerst durch den vorgetäuschten Wahnsinn den Argwohn seines Onkels abwenden muss. Deshalb fehlt der kriegerische Initiationsritus in dieser Sage. Amlethus ist nicht in der üblichen Weise zum Krieger initiiert worden. Shakespeares Hamlet ebenfalls nicht.
Hamlet, der nicht initiierte Unkriegerische
Dass Hamlet nicht dem Bild des zum Mann Initiierten entspricht, klingt schon aus den mahnenden Worten des Geistes durch, dass, wenn er die Wahrheit vernähme, sie ihm „die verworrnen krausen Locken trennte / Und sträubten jedes einzelne Haar empor" (I.4). Hamlet selbst macht sich den Vorwurf der Verweichlichung in II.2: „Und ich, / Ein blöder, schwachgemuter Schurke, schleiche / Wie Hans der Träumer meiner Sache fremd, / Und kann nichts sagen, nicht für einen König, / An dessen Eigentum und teurem Leben / Verdammter Raub geschah. Bin ich 'ne Memme?" Und er setzt die Kaskade der Selbstvorwürfe fort... um dann doch zu seinem eigenen Element zurückzukehren: dem Spiel. Und weiterhin in IV.4, als er das vorbeiziehende Heer des Fortinbras beobachtet.
Fortinbras
Ob nun Fortinbras wie im zweiten Quarto und in der Folioausgabe oder Fortenbrasse wie im ersten Quarto, die Bedeutung des Namens ist augenfällig: fort-en-bras, stark-in-den-Armen. Ob Shakespeare bei dieser Namensgebung vom „germanischen Herkules" in Saxos Gesta Danorum, Starkadr, hat inspirieren lassen, sei dahingestellt. Auf jeden Fall beklagt Hamlet, Claudius sei so wenig mit seinem Vater vergleichbar wie er selbst mit Herkules (II.29).
Physische Stärke in extremen Situationen zu erwerben war das Hauptziel der nordgermanischen Initiationsriten: Im rauschhaften Kampf soll der Jungkrieger einen Bären töten und sich dessen Kraft einverleiben, indem er Bärenblut trinkt; das Wort „Berserker" geht vielleicht darauf zurück, dass sich der initiierte germanische Adoleszent auch ein Gewand aus Bärenhaut anlegte, wie sich Herakles oder Herkules das Fell des getöteten Löwen überstreifte.
Laertes
Auch Laertes, der andere adoleszente Kontrahent Hamlets, ist völlig in seine gesellschaftlich definierte Männerrolle eingewachsen. Wie Fortinbras ist er zupackend und sofort bereit (IV. 5), seinen getöteten Vater an Claudius, den er zunächst für den Mörder hält, zu rächen.
Laertes ist, wie Fortinbras, ein erfolgreich männlich Initiierter. Der mythologische Urgrund der Geschlechterrollen ist bei Shakespeare stets präsent. Wenn in V.1 in einer meines Erachtens symbolschweren Szene Laertes in Ophelias Grab springt und Hamlet ihm hinterherspringt, benutzt Hamlet eine Bildsprache, die auf die extremen Aufgaben innerhalb eines Initiationsritus verweisen:
Beim Element, sag, was du tun willst:
Willst weinen? fechten? fassen? dich zerreißen?
Willst Essig trinken? Krokodile essen?
Ich tus - Kommst du zum Winseln her?
Das Element „bras" im Namen Fortibras, „Arm", heißt im Lateinischen „bracchium", was jedoch speziell Unterarm bedeutet. „Oberarm" heißt im Lateinischen „lacertus", ein Wort, das dem Namen Laertes nahe kommt.
Wir können demnach von einer binären Namensgebung ausgehen, wie wir ihr auch bald für die Namen Jago und Roderigo in Othello begegnen werden.
Shakespeares Namensgebungen sind ein integrierender Bestandteil seines poetischen Denkens. Sich auf sie einzulassen ist sehr wahrscheinlich Erkenntnis versprechender als die verjahrmarktende Pseudophilosophie bleicher Schöngeister.
© Robert Detobel 2010