SHAKESPEARES NAMENSGEBUNG - WIESO CLAUDIUS?

Warum nennt Shakespeare den König Claudius? In der Amlethus-Sage des Saxo Grammaticus innerhalb der Gesta Danorum heißt der Bruder und Mörder Fengon. Shakespeare ändert den Namen in Claudius.

Theodore Lidz' Erklärung

1975 veröffentlichte der amerikanische Psychoanalytiker Theodore Lidz sein Buch Hamlet's Enemy; Madness and Myth in Hamlet (Hamlets Feind. Mythos und Manie in Shakespeares Drama, übersetzt von Lutz-W. Wolff, Frankfurt am Main 1980). Lidz befindet: „Auch Nero war auf einen Claudius und dessen Beziehung zu seiner Mutter eifersüchtig... Aber Claudius paßt aus einem anderen Grund zur Handlung des Hamlet. Er wurde zu einem Zeitpunkt geboren, als potentielle Thronerben reihenweise von ehrgeizigen Verwandten umgebracht wurden. Er überlebte, weil er als schwachsinnig galt und weil man ihn für einen Krüppel ansah; der Name Claudius hat eine konkrete Bedeutung: »der Lahme«." (S. 169)

In diesen Angaben fehlt ein entscheidendes Moment: die Sachbeziehung zwischen dem römischen Kaiser und dem König im Drama. Für die Namen Polonius und Corambis haben wir eine solche Sachbeziehung vermittels der historischen Persönlichkeit des Lord Burghley nachweisen können. Lord Burghley war der pater patriae des elisabethanischen Staates und unter diesem Gesichtspunkt mit Julius Caesar vergleichbar, dem pater patriae des römischen Kaiserreiches. In Shakespeares Julius Caesar bezeichnet sich dieser selbst als „Nordstern", „Polarstern", „pole" im Englischen. Der Name Corambis weist einen doppelten Bezug zu Lord Burghleys Wahlspruch und seiner Funktion als oberster Richter des Mündelgerichts („Court of Wards") auf. Die historischen Adelshäuser Rosenkranz und Gyldenstjerne waren Pfeiler der dänischen absoluten Monarchie, und als deren Sprachrohr entpuppen sich die beiden im Stück; sie sind zudem die vollkommen gesichtslosen Höflinge, die in ihrem Anpassungseifer einander zum Verwechseln ähnlich geworden sind. Der König Claudius in Shakespeares Stück ist jedoch nicht lahm, stellt sich nicht schwachsinnig, während andererseits der römische Kaiser nicht durch Brudermord auf den Thron gelangt ist.

Was auf Anhieb als eine fruchtbarere Perspektive erscheint, ist die Stellung, die Claudius zwischen zwei römischen Adoleszentenkaisern einnimmt. Vor Claudius regierte Gaius Caesar, besser bekannt als Caligula (37-41 u.Z), nach ihm Nero (54-68) Claudius war der Onkel des ersteren, Adoptivvater des letzteren.

Caligula

Caligula („Stiefelchen"), der als Fünfundzwanzigjähriger Kaiser wurde, war eine ebenso verwirrende wie verwirrte Persönlichkeit. Von ihm kann auch das gesagt werden, was Polonius von Hamlet sagt: „Wenn's auch Wahnsinn ist, so hat es doch Methode". Caligula nutzte seine kaiserliche Machtfülle, um den Narren zu spielen.

Seine Narrenstreiche entbehrten weder des Witzes noch des Sinnes. Und Caligula fühlte sich anscheinend auch zum Künstler berufen. Über die Verführerfigur Johannes, der ebenfalls ein ästhetisches Dasein anstrebte, schreibt Søren Kierkegaard: „Er hat etwas von einer exacerbatio cerebri, für welche die Wirklichkeit nicht genügend Inzitament besaß, oder doch allenfalls nur für Momente." (Das Tagebuch des Verführers, übersetzt von Heinrich Fauteck, München 1963, S.m8). Möglicherweise hat Kierkegaard, der Caligulas Leben kannte, das Wort „Inzitament" dorther bezogen. Auf jeden Fall gibt sein Satz den Blick frei auf ein grundlegendes Merkmal von Caligulas Charakter. Kaum ein Wesen hat Caligula mehr geschätzt und verehrt als sein Pferd, dem er einen überaus luxuriös ausgestatteten eigenen Palast baute und mit dem er gelegentlich auch konversierte. Das Pferd hieß: Incitatus.

Wäre Caligula nicht Kaiser geworden, Rom hätte vielleicht einen großen Künstler in ihm gehabt.

Seine unumschränkte Machtstellung als Kaiser ermöglichte es Caligula aber, seine Phantasien als Ereignis, als „event", zu verdinglichen. Und so fühlte er keine Not, sie in künstlerischer Gestaltung zu sublimieren. Dass er eine gewisse künstlerische Berufung in sich verspürte, zeigt sich daran, dass er den Stil des Philosophen Seneca als „Sand ohne Kalk" kritisierte und ein regelmäßiger Besucher des Theaters war, wo er gelegentlich die Schaupieler unterbrach und von den Zuschauerrängen her an ihrer Stelle vortrug.

Die Bühne hat er selbst wohl nicht betreten. Diese Barriere übersprang er nicht. Das blieb Nero vorbehalten.

Caligula war auch ein begabter Narr. Eine Person, die ihm nicht gefiel, schickte er mit einem Brief zum König von Ägypten mit dem Auftrag, der König sollte den darin geschriebenen Befehl an dem Manne vollstrecken. Dieser befürchtete, einen Uriasbrief zu überbringen, doch der Befehl lautete: „Dem Manne, den ich zu Dir sende, tue weder Gutes noch Böses". (Sueton, Leben der Caesaren, übersetzt und herausgegeben von André Lambert, München 1980, S. 197). Bei einem Feldzug gegen die Briten ließ er die Soldaten nicht übersetzen, sondern am Nordseestrand Seemuscheln sammeln, was er als einen historischen Sieg pries: „Das ist die Kriegsbeute aus dem Ozean, die wir dem Kapitol und dem Palatin schulden!" (Ebenda, S. 192)

Etwas vom Narren Caligula finden wir auch in Hamlet.

Doch Caligula konnte auch hemmungslos grausam sein. Sein Bedürfnis nach „Inzitament" trat auch bei Folterungen und Hinrichtungen zu Tage. „Triff so, dass er fühlt, wie er stirbt!", soll er dem Henker verordnet haben. Manchmal soll er auch versucht haben, sich selbst in die Qualen des Gefolterten hineinzufühlen.

Caligulas grausamem Scherz kommt Hamlet nahe, wenn er auf Claudius' Frage nach Polonius' Leiche antwortet, dieser sei beim Nachtmahl, „Nicht wo er speist, sondern wo er gespeist wird. Ein gewisser Reichstag [Englisch: „diet"] politischer Würmer [Englisch: „worms"] hat sich eben an ihn gemacht. So'n Wurm ist Euch der einzige Kaiser, was die Tafel betrifft. Wir mästen alle andern Kreaturen, um uns zu mästen, und uns selbst mästen wir für Maden." (IV.3). Aus diesen Worten spricht ein hasserfüllter politischer Nihilismus, der sich unter den gegebenen historischen Bedingungen primär gegen die patriarchalische Ordnung richtet. Auch darin ist eine gewisse Ähnlichkeit mit Caligula erkennbar, der die Symbolfiguren der patriarchalischen Gewalt in Rom, die patres oder Senatoren, zu demütigen pflegte, unter anderem indem er sie wie Sklaven halbnackt neben seinem Speisetisch zu stehen oder sie neben seinem Wagen her zu rennen hieß. Etwas vom Hass des Kind-bleiben-Wollenden auf die Erwachsenenwelt sprießt aus dieser Haltung hervor und etwas von der kindlichen Liebe zum Spiel. Wie auch bei Nero.

Nero

In Hamlet können wir gewisse Züge des Narr-Kindes Caligula erkennen. Und ebenso des Künstlers Nero. „Welch einen Künstler verliert die Welt in mir", so ungefähr werden Neros letzte Worte vor seinem Selbstmord überliefert. „Welch einen Künstler gewänne die Welt an mir", so könnte man Hamlets Worte nach dem Schauspiel auf den Punkt bringen: „Sollte nicht dies und ein Wald von Federbüschen (wenn meine sonstige Anwartschaft in die Pilze geht), nebst ein paar gepufften Rosen auf meinen gekerbten Schuhen mir zu einem Platz in einer Schauspielergesellschaft verhelfen?" (III.2).

Die Königin indes ist über Hamlets Spiel aufs schwerste verärgert und bestellt ihn zu sich. Nicht von ungefähr kommt Hamlet gleich danach Nero in den Sinn: „Nie dränge / Sich Neros Seel in diesen festen Busen! /Grausam, nicht unnatürlich laß mich sein; / Nur reden will ich Dolche, nicht brauchen." Hier, nicht in Neros inzestuöser Beziehung zu seiner Mutter Agrippina, ist die Übereinstimmung mit Hamlet zu verorten.

Es genügte eigentlich, Buch XIV von Tacitus' Annalen zu lesen. Nero, der Künstler, wollte nie auf das Spiel verzichten. Für ihn war das Leben ein Schauspiel und nur ästhetisch wert gelebt zu werden. Man kann vermuten, dass Agrippina Gefallen daran fand, solange er Kind war, dass ihre Augen gestrahlt hatten, wie es Claudius später Laertes von Königin Gertrud schildern wird: „Seine Mutter, die Königin, lebt von seinem Blick." (IV.7) Aber als Nero Kaiser geworden war, verurteilte sie seinen Hang zum Künstlerleben, stimmte darin nur zu, solange er dieser Neigung im Privaten und nicht vor den Augen der Öffentlichkeit frönte. Nero ließ sie beseitigen. Noch die ersten Mordversuche, die misslangen, wurden mittels einer theatralischen Maschinerie ausgeführt. Als Agrippina erschlagen worden war, berichtet Tacitus, verlor Nero alle Hemmungen und tat, was vor ihm nicht einmal Caligula gewagt hatte und in Rom als unvereinbar mit dem Lebenswandel der Oberschicht galt: Er trat von nun an ohne Einschränkungen vor der Öffentlichkeit auf und ließ sich überall im Reich als Künstler feiern.

Eine Galtonsche Mischphotographie und der Name Claudius

Auch Hamlet liebt das Spiel. „The play's the thing" (II.2). Das Spiel ist das Ding, das Gewissen des Königs zu fangen. Es ist ebensosehr Hamlets Ding-an-sich. Das Schauspiel bildet das geometrische Zentrum des Stückes (III.2).

In der Traumdeutung führt Freud zur Veranschaulichung der Verdichtung die Galtonsche Mischphotographie an, die zustande kommt, indem man mehrere Fotos übereinander schichtet, um die gemeinsamen Merkmale hervortreten zu lassen. Eine solche Mischphotographie können wir einerseits von Caligula und Hamlet erstellen, die als gemeinsames Merkmal das narrenhaft Künstlerische, die Begeisterung für das Theater, und anderseits von Nero und Hamlet, die als gemeinsames Merkmal vor allem das Spiel und wiederum die als Theater erlebte Welt des Künstlers hervortreten lässt.

Claudius war der Onkel Caligulas und Zielscheibe dessen Spottes. In Shakespeares Tragödie ist Claudius der Onkel Hamlets. Und wie der historische Claudius Nero als Sohn adoptierte und zu seinem Nachfolger bestimmte, so in Shakespeares Stück König Claudius Hamlet.

© Robert Detobel 2010