SHAKESPEARES NAMENSGEBUNG - HORATIO

Horatio ist von der Universität Wittenberg nach Helsingör gekommen. Dort, in der geistigen Hochburg des protestantischen Humanismus, haben auch Rosencrantz und Guilderstern und Hamlet studiert. Ihr Werdegang ist jeweils ein anderer. Rosencrantz und Guilderstern sind den Weg des höfischen Humanismus gegangen, der sie vom Mittelweg in die anpasslerische Mittelmäßigkeit geführt hat. Hamlet, die Künstlernatur, wird mit der Aufgabe konfrontiert, seinen ermordeten Vater zu rächen. Horatio hat sich offenbar der Philosophie verschrieben; er verkörpert den humanistischen Gelehrten, der sich am Hof abseits der Intrigen bewegt. Hamlets Worten in III.2 kann man entnehmen, dass Horatios Weltanschauung eine stoische ist:

„Seit meine Seele Herrin war / Von ihrer Wahl und Menschen unterschied, / Hat sie dich auserkoren. Denn du warst, / Als littst du nicht, indem du alles littest; / Ein Mann, der Stöß und Gaben vom Geschick / Mit gleichem Dank genommen: und gesegnet, / Wes Blut und Urteil sich so gut vermischt, / Daß er zur Pfeife nicht Fortunen dient, / Den Ton zu spielen, den ihr Finger greift. / Gebt mir den Mann, den seine Leidenschaft / Nicht macht zum Sklaven, und ich will ihn hegen / Im Herzensgrund, ja in des Herzens Herzen, / Wie ich dich hege."

Shakespeare hat die Person des Horatio nicht nur eingeführt, um Hamlet ein Gegenüber zu schaffen, dem er seine innersten Gedanken anvertrauen könne. Das gewiss auch. Doch darüber hinaus vertritt Horatio ein bildunggeschichtliches Schicksal der dritten Art: das des humanistischen Gelehrten in Kontrast zum gesellschaftlichen Opportunismus von Rosencrantz und Guildenstern, aber auch im Unterschied zu Hamlets Ideal der ästhetischen Selbstverwirklichung mit ihrem Drang zum Spiel, zum Schauspiel insbesondere, in dem man eben alles oder doch vieles sein und die Phantasie ausleben kann („ich könnte in eine Nußschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermeßlichem Gebiete halten").

Warum gibt ihm Shakespeare diesen Namen?

Am Ende des Stückes verbietet der sterbende Hamlet Horatio in einem stoischen Akt („Ich bin ein alter Römer, nicht ein Däne", sagt Horatio) vom Giftkelch zu trinken, und erteilt ihm sein Vermächtnis:

                        O Gott!- Welch ein verletzter Name, Freund,
                        Bleibt alles so verhüllt, wird nach mir leben.
                        Wenn du mich je in deinem Herzen trugst,
                        Verbanne noch dich von der Seligkeit,
                        Und atm in dieser herben Welt mit Müh,
                        Um mein Geschick zu melden. -

Horace Vere

Horace Vere, ein Vetter Edward de Veres, später Baron von Tilbury, lebte von 1565 bis 1635. Es war John Thomas Looney, der 1920 die Hypothese aufstellte, Edward de Vere habe seinen Vetter beauftragt, die erste Folioausgabe von Shakespeares Werken zu besorgen. Über reine Spekulation ist diese Vermutung bisher nicht hinausgekommen. Horace Vere hatte sehr wahrscheinlich Kontakt zu Ben Jonson, der ihm ein Epigramm widmete. Ben Jonsons Epigramm enthält jedoch wenig mehr als geistreiche Wortspiele auf die Namen „Vere" und „Horace" (Horaz). Man muss aber Ben Jonsons Verse schon mächtig auf die semantische Folterbank spannen, will man von dort her zur Bestätigung von Looneys Hypothese gelangen. George Chapman widmete Horace Vere ein etwas längeres Gedicht. Doch darin werden nur dessen militärische Fähigkeiten gelobt. Und so verlockend es für die These  der Verfasserschaft Edward de Veres sein mag, in einem schwungvollen interpretativen Husarenritt Horatio mit seinem Vetter Horace gleichzusetzen, es lässt sich nicht leugnen, dass der Feldherr Horace Vere eben doch einem Husaren näher kommt als dem stoischen Gelehrten, der sich als „alter Römer" bezeichnet.

Ben Jonson

Horaz war Ben Jonsons Dichterideal. Von seinen Zeitgenossen wurde Jonson mitunter als Horaz bezeichnet (Thomas Dekker im satirischen Bühnenstück Satiromastix, Henry Chettle in England's Mourning Garment, u. a.). Die These hat ebenfalls etwas Bestrickendes, wenn man annimt, Jonson sei an der Herausgabe von Shakespeares Erstem Folio beteiligt und gar der Hauptbeteiligte gewesen - was recht wahrscheinlich ist. Urheber dieser These ist Richard Kennedy, der sie allerdings meines Wissens nie über die Grenzen eines privaten E-Mail-Forums verbreitet hat.

Horaz

Alles in allem scheint der römische Dichter Horaz (65 v.Chr. bis 8 v. Chr.) als Pate der Namensgebung die besten Referenzen mitzubringen. Zwar gilt er als Epikureer, doch das, was Hamlet in III.2 zu Horatio sagt, könnte man auch als epikureische Seelenruhe, als Ataraxie, verstehen. Hinzu kommt, dass Horaz nach der Niederlage von Brutus und Cassius, zu deren Partei er gehörte, verarmt war und wie Horatio „keine Rent als seinen muntern Geist, um sich zu nähren und zu kleiden" (III.2) hatte und zwangsläufig abseits des politischen Geschehens in Rom stand.

Zudem - es scheint weit hergeholt, doch Shakespeare, wahrscheinlich sehr zum Verdruss der Philologen, scheute sich nicht vor fernherigen Assoziationen - leitet sich der Name Horaz von den „horae", den Schutzgöttinnen ab. In Hesiods Theogonie waren die drei Horen Dike (Gerechtigkeit), Eirene (Frieden) und Eunomia (gutes Gesetz).  

Gerechtigkeit für Hamlets verwundeten Namen sollte Horatio erwirken.

Votum

Drei Interpretationen stehen zur Abstimmung. Mein Votum geht zum alten epikureischen Römer Horaz in der Hoffnung, mit der Mehrheit abgestimmt zu haben.

© Robert Detobel 2010