ZUSAMMENFASSUNG VON CHRISTOFER PAULS ARTIKEL "THE PRINCE TUDOR DILEMMA: HIP THESIS; HYPOTHESIS OR OLD WIFES TALE

In The Oxfordian, Vol. V, October 2002, S. 47-69, hat sich Christopher Paul ausführlich mit Paul Streitz' Buch, Oxford, Son of Queen Elizabeth I, New York: Oxford Institute Press, 2002, befasst. Der Verlag Oxford Institute Press ist Streitz' eigener Verlag. Streitz hat als fachnächste Referenzen die Produktion zweier Musicals vorzuweisen: „Madison Avenue" und „Oh, Johnny".  Mit seinem Buch verbleibt er weiter im Showgeschäft.

Christopher Paul weist auf die zwei Spielarten der Prince-Tudor-Theorie, kurz PT-Theorie, einst auch Tudor-Rose-Theorie genannt, hin. In der einfachen Version ist der Earl of Oxford der Liebhaber bzw. „geheime" oder „verhinderte" Gatte der Königin; der Earl of Southampton, der Freund von Shakespeares Sonetten, ist ihr gemeinsamer Sohn. In der ödipal „upgraded" Version ist Oxford zudem selber der Sohn der Königin. Zur Unterscheidung wird im Folgenden von PT1 und PT2 gesprochen. Für PT1 wird behauptet, dass diese Theorie die einzige wäre, die das Geheimnis von Shakespeares Sonetten zu entschlüsseln vermöchte.

Paul weist weiter darauf hin, dass ihre oxfordianischen Anhänger diese Theorie im Grunde von den Baconianern (den Anhängern der Ansicht, dass Francis Bacon der Autor,von Shapkespeare Weken sei; diese These entstand am Ende des 19.Jahhunderts) übernommen haben. Sie wurde 1910 vom Baconianer Alfred Dodd aufgestellt (The Personal Poems of Francis Bacon, (our Shake-speare), Son of Queen Elizabeth, London 1986). Bacons Vater wäre Robert Dudley, Earl of Leicester, gewesen, dem heimlichen Ehepartner der Königin. Es war der britische Oxfordianer Percy Allen, der 1933 diese These auf Oxford übertrug. Die Quadratur der These stammt von Paul Streitz, der damit den ödipalen Kreis schließt. Und vielleicht gleichzeitig gleich den Kreis mitquadriert hat.

Streitz ist kein bescheidener Mann; auch die Bescheidenheit des Forschers ist ihm gänzlich fremd: er gleicht das Forscherdefizit durch Forschheitüberschuss aus, sozusagen die fehlende „knowledge" durch „noiseledge". Nach seiner Auffassung habe niemand vor ihm alle bekannten Fakten gebührend berücksichtigt und zusammengetragen. Vor ihm habe niemand die über Königin Elisabeth zirkulierenden Gerüchte „mit dem notwendigen Eifer und der gebührenden Genauigkeit" untersucht.  „Gerüchte" heißt im Wesentlichen „Gerüchte" über „uneheliche geheime" Kinder der Königin.

Unbestritten ist, dass der Lord Admiral Thomas Seymour im Jahre 1548 nach dem Tod seiner Frau Catherine Parr, der letzten Frau Heinrichs VIII., der fünfzehnjährigen Prinzessin Elizabeth Avancen gemacht hat und sie wohl auch zu heiraten suchte. Mit Catherine Parr hatte Seymour eine Tochter namens Mary, die zweijährig starb, 1550 also. Aha, denkt sich Streitz, 1550 ist auch das angebliche Geburtsjahr des Earl of Oxford. Ergo, waren Mary Seymour und der Earl of Oxford in Wirklichkeit Zwillinge Thomas Seymours und der künftigen Königin Elisabeth I. Müssen sie auch, wenn Oxford der Sohn aus der angeblichen Liebesbeziehung der Prinzessin Elisabeth und Thomas Seymour sein sollte, da beide 1548 gezeugt und 1549 geboren. Logisch. Auch noch logisch, dass die Zwillinge Ned und Mary dem John de Vere, 16. Earl of Oxford, untergeschoben wären? Wie mag er das wohl begründen? Streitz beruft sich auf einen Brief, in dem Prinzessin Elisabeth Seymours Ansinnen zurückweist, aber dieser Brief, meint Streitz, könnte sehr wohl von Königin Catherine frisiert worden sein. Alles, was nicht in Streitz' Vision einfügt, ist seines Erachtens frisiert und hat darauf gewartet, vom Großen Historiker Paul Streitz  dechiffriert oder „defrisiert" zu werden. Doch wie erbringt er diesen Nachweis?

Christopher Paul gibt die Antworten: Indem er verkehrt liest oder einfach den vollen Inhalt des Dokumentes nicht zur Kenntnis nimmt. Edward de Vere hatte tatsächlich eine jüngere Schwester namens Mary. Sie war vier Jahre jünger als er, was sehr gut belegt ist. 1552 verfasst John de Vere, 16. Earl of Oxford, ein Testament, in dem von einer Tochter Mary nicht die Rede ist; in seinem 1562 geänderten Testament ist von ihr die Rede. Spannend ist die Frage, wie Streitz denn seine Behauptung begründet, beide seien 1549 geborene Zwillinge der Prinzessin Elisabeth. Er verweist auf ein Dokument aus dem Jahr 1563, in dem beide seinem Verständnis nach als 14 Jahre alt ausgewiesen seien. Tatsächlich wird auf die Geschwister verwiesen als „minorem quatordecem annorum", also: beide sind jünger als 14 Jahre, was ja stimmt. Edward war 13 und Mary 9 Jahre alt. Und die anderen Dokumente? Einfach Fälschungen, behauptet Streitz.

Christopher Paul führt auch eine Reihe von Dokumenten an, die belegen, dass Mary Seymour 1550 zweijährig gestorben sein muss. Für Streitz auch dies wiederum Fälschung. Es war ja ein Klacks für die Herrschenden, solche Dokumente zu fälschen. Mit seiner These endloser Fälschungen nähert sich Streitz dem Witz des Mannes, der behauptet, er habe Urlaub in der Sahara gemacht und sich dort die Zeit mit Holzfällen vertrieben. Auf den Einwand, es gäbe doch keine Bäume in der Sahara, erwidert er: „Nicht mehr, nachdem ich da war". Nach Streitz' Kahlschlag gibt es kaum noch echte Stammbaüme in der Tudorwüste - außer denen, die er in sein Deutungsschema zwängen kann.

Gleiches gilt für den Grafen von Southhampton.  Christopher Paul führt mehrere Dokumente an, die belegen, dass Southampton 1573 geboren wurde und Mary Brown sehr wohl seine Mutter ist: ein Brief des Freundes, des Grafen von Essex, ein anderer von Lord Henry Howard. Streitz zufolge spielten alle das Spiel mit. Der PT1-Theorie zufolge kann er jedoch erst 1574 geboren sein, da nur in diesem Jahr eine genügend große Lücke in Königin Elisabeth' Agenda klafft, in der sie hätte entbinden können.

Nur eine spielte offenbar nicht mit: „Mutter" Elisabeth I.  selbst. Christopher Paul hätte auch dieses Dokument (das er kennt) anführen können.[1] Es handelt sich um einen Brief, in dem die „unechte" Mutter Mary die „echte" Mutter Elisabeth um Gnade für ihren Sohn anfleht, nachdem er im Februar 1601 wegen seiner Beteiligung an der Rebellion seines Intimfreundes, des Grafen von Essex, zu Tode verurteilt worden war. Nach  G.P.V. Akrigg (Shakespeare and the Earl of Southampton, London, 1968, S. 129) gibt es mehrere Indizien, dass Southampton Elisabeth I. zuwider war. Der Brief beginnt: "Gott im Himmel weiß, dass ich kaum meine Hand ruhig halten kann, um zu schreiben, und mein Herz kaum ruhig halten kann, um zu wissen, wie ich schreiben soll, nur dass ich weiß, was ich schreiben soll, nämlich Gnade zu erflehen für meinen armen Sohn." Sie fügte hinzu, dass ihr Sohn sich nie zu einer solchen Tat hätte hinreißen lassen, hätte die Königin nicht so unerbittlich ihre Verachtung für ihn gezeigt und ihm nicht jedwede Gunst hartnäckig verweigert. Wie gut doch die beiden Damen es verstanden, die von Streitz aufgedeckten „wahren" Verhältnisse zu verschleiern.  Akrigg ist Historiker - aber vielleicht spielt der auch nur das Verwirrspiel mit.

Eine abschließende Anmerkung noch.  PT-Theoretiker  zweifeln auch die Echtheit einer Urkunde an, die das Datum vom 30. Januar 1575, unmittelbar vor Oxfords Abreise nach Italien, trägt. Oxford trifft darin Vorkehrungen, damit, sollte er während der Reise sterben, die männliche Linie des Hauses de Vere fortgesetzt werde. Deshalb setzt er als Erben die Söhne Geoffreys, des Bruders seines Vaters, ein. Das passt nicht ins PT-Bild. PT-Theoretiker lehnen das Dokument als irrelevant ab und berufen sich dabei auf eine Feststellung, die Professor Alan Nelson seinerzeit auf seiner Webseite traf (in seiner Biografie Monstrous Adversary wird sie nicht wiederholt): „Das Fehlen von Unterschriften zusammen mit dem Vorhandensein von Pergamentstreifen, an denen offenbar nie Siegel befestigt wurden, legen den Schluss nahe, dass die amtliche Beurkundung nie vollzogen wurde." Christopher Paul weist auf die Beglaubigungsformel hin, die besagt, dass die Parteien „interchangeably put their seal", scheint aber doch Nelsons Bemerkung nicht ganz abzutun. Dass heute das Siegel an alten Urkunden fehlt ist aber nichts Ungewöhnliches. In Thomas Middletons Bühnenstück The Phoenix, Akt II, Szene 2, findet sich folgende Stelle:

Fidelio: Take the seal off, captain.

                                   Captain: It goes on hardly, and comes off easily.

Das Siegel ließ sich nicht einfach an der Urkunde befestigen, löste sich aber leicht vom Pergamentstreifen, durch den es mit der Urkunde verbunden war. In einer von R.B. Pugh herausgegebenen Urkundensammlung aus der Zeit vor 1623 (Wiltshire Archaelogical and Natural History Society Records Branch, Vol. III. Calendar of Antrobus Deeds before 1623, edited by R.B. Pugh, Guildford, Surrey: Biddles Ltd., Devizes 1947, second reprint 1971)  findet sich regelmäßig eine Angabe dieser Art: " Tag [Pergamentstreifen]; seal: missing".

Das Anbringen des Siegels war lange Zeit als Beglaubigung ausreichend, auch wenn gegen Ende des Jahrhunderts Anbringung des Siegels plus Unterschrift üblich geworden waren. Natürlich war, anders als Nelson auf seiner Webseite vermeinte, die Urkunde vom 30. Januar 1575 ordnungsgemäß beglaubigt. Aber PT-Theoretiker greifen nach jedem Strohhalm, der helfen könnte, einen Backstein für ihr Theoriegebäude zu formen. Selbst Streitz, der sonst oft als ein moderner Amphion agiert. Amphion baute bekanntlich die Stadtmauern Thebens, indem er die Steine durch sein Leierspiel zusammenfügte. Streitz versucht dasselbe für sein Theoriebauwerk und benutzt dafür seine Finger, darauf zu pfeifen und daraus zu saugen. Er kommt schließlich aus der Musical-Branche.

©Robert Detobel, 2011


[1] Wahrscheinlicher ist, dass er es erwähnt hat, es aber dem Editionsfallbeil zum Opfer gefallen ist.