PHILIP SIDNEYS UND BEN JONSONS THEATERKRITIK

Sir Philip Sidney wurde 1554 geboren,  war ab 1585 Gouverneur der als Bürgschaft für die englische Unterstützung der Niederlande im Krieg ggegen Spanien an England abgetretenen Stadt Vlissingen und fiel im Oktober 1586.  Seine Schrift Apology for Poetry war eine Antwort auf das Pamphlet gegen Poesie und Theater von Stephen Gosson, The School of Abuse,  das 1579 gedruckt wurde. Sidneys Schrift wurde 1595, elf Jahre nach seinem Tod, gedruckt. Sie muss zwischen 1580 und 1585 verfasst worden sein. Als Entstehungsjahr wird „ca. 1583" angenommen. Sidney verteidigt darin den Wert der Poesie gegen ihre puritanischen Gegner und verteilt, ohne Namen zu nennen, Zensuren für die englische Literatur seiner Zeit.

Ben Jonsons Bühnenstück Every Man in His Humour wird 1598 uraufgeführt. Es erscheint 1601 in einer Quarto-Ausgabe. 1616 erscheint es in einer etwas veränderten Fassung (italienisches Dekor und italienische Namen werden anglifiziert, Szeneneinteilung geändert) und mit einem Prolog versehen in der Folio-Ausgabe seiner Werke. In diesem Prolog kritisiert Jonson nach Ansicht vieler Forscher bestimmte Shakespeare-Stücke, unter anderen den Sturm und das Wintermärchen. Die Quarto-Ausgabe von 1601 enthält keinen Prolog. Wie im Beitrag „Rundum den Sturm" dargelegt, muss dieser Prolog jedoch 1601 bereits bekannt gewesen sein, da Thomas Dekker in seinem 1601 aufgeführten Stück Satiromastix darauf Bezug nimmt. Ob der Prolog 1601 bereits in der endgültigen Fassung vorlag, lässt sich nicht mehr ermitteln. Der Nachweis, dass Dekker auf diesen Prolog anspielt, ist verhältnismäßig einfach zu führen, da von Ben Jonson 1601 nur fünf Stücke bekannt und vier gedruckt worden waren. Dekker spielt auf die ersten Zeilen an.

Lag dieser Prolog 1601 bereits in der 1616er Fassung vor, bedeutete dies, dass Jonson seine Kritik am Sturm und Wintermärchen bereits 1598 formuliert hätte.  Sidneys Theaterkritik um 1583 nimmt jedoch Jonsons I. DIE TEXTE

Im Folgenden wird so verfahren. Die Texte Sidneys und Jonsons werden im Englischen hintereinander abgedruckt. In Jonsons Prolog werden jene Stellen, die man auf Shakespeare beziehen kann, fett geschrieben; ebenfalls fett geschrieben werden die entsprechenden Stellen bei Sidney. Die eigenen Kommentare erscheinen eingerückt in anderer Schrift.

SIR PHILIP SIDNEY

<< Our Tragedies and Comedies, not without cause cried out against, observing rules neither of honest civility, nor skilful Poetry. Excepting Gorboduc, (again I say of those that I have seen) which notwithstanding as it is full of stately speeches, and well-sounding phrases, climbing to the height of Seneca his style, and as full of notable morality, which it doth most delightfully teach, and so obtain the very end of Poesie. Yet in truth, it is very defective in the circumstances, which grieves me, because it might not remain as an exact model of all Tragedies. For it is faulty both in place and time, the two necessary companions of all corporal actions.

Gorboduc, eine 1561 aufgeführte Tragödie, verfasst von Thomas Norton und Thomas Sackville, dem späteren Lord Buckhurst, behandelt ein höchst politisches Thema der Zeit: die Thronnachfolge. Sidney lobt die poetische Qualität, tadelt jedoch die Nichteinhaltung der Einheit von Raum und Zeit.

For where the stage should alway represent but one place, and the uttermost time presupposed in it, should be both by Aristotle's  precept, and common reason, but one day; there is both many days and places, inartificially imagined. But if it be so in Gorboduc, how much more in all the rest, where you shall have Asia of the one side, and Africa of the other, and so many other under Kingdoms, that the Player when he comes in, must ever begin with telling where he is, or else the tale will not be conceived.

Ben Jonson wiederholt diese Kritik, wenn er den Chor anspricht, der die Soldaten übers Meer befördert.

Now you shall have three Ladies walke to gather flowers, and then we must believe the stage to be a garden. By and by we hear newes of shipwreck in the same place, then we are to blame if we accept it not for a rock. Upon the back of that, comes out a hideous monster with fire and smoke, and then the miserable beholders are bound to take it for a cave:

Einmal ist die Szene ein Garten, dann ereignet sich ein Schiffbruch und der Garten muss als Fels gesehen werden, dann kommt ein Monster mit Feuer und Rauch aus einer Höhle; all das immer auf ein und derselben Bühne. Es ist eine Kritik, die auf Shakespeares Sturm zielen könnte.

while in the mean time two Armies fly in, represented with four swords & bucklers, and then what hard hart will not receive it for a pitched field.

Zwei Armeen werden von einigen wenigen Kriegern dargestellt und suggerieren eine offene Schlacht. Es trifft ziemlich genau auf V.2 und V.3 von Cymbeline zu. Die Regieanweisung von V.2: „Feld zwischen dem römischen und britischen Lager [in Dorothea Tiecks Übersetzung V.1 zugeordnet].Von einer Seite kommen Lucius, Jachimo und das römische Heer; von der anderen Seite das britische Heer, Leonatus, Posthumus: darunter als gemeiner Krieger. Sie marschieren vorüber und gehen ab. Kriegsgetümmel. Im Gefecht kommen Jachimo und Posthumus zurück; dieser besiegt und entwaffnet den Jachimo und geht dann ab."

Now of time, they are much more liberal. For ordinary it is, that two young Princes fall in love, after many traverses she is got with child, delivered of a faire boy: he is lost, grows a man, falls in love, and is ready to get another child, and all this is in two hours space:

Im Wintermärchen ist das verlorene Kind kein Sohn, sondern die Tochter Perdita. Es vergehen sechszehn Jahre zwischen Akt III und Akt IV, sagt uns die als Chor auftretende Zeit. Shakespeare lässt die Zeit selbst, sich darüber hinwegsetzen:

                                                                      Drum verzeiht,
                        Mir und dem schnellen Flug, daß sechzehn Jahre
                        Ich überspring und nichts euch offenbare
                        Von dieser weiten Kluft, da meine Stärke
                        Gesetze stürzt, in einer Stunde auch Werke
                        Und Sitten pflanzt und tilgt.

which how absurd it is in sense, even sense may imagine: and Art has taught, and all ancient examples justified, and at this day the ordinary players in Italy will not err in. Yet will some bring in an example of Eunuch in Terence that contains matter of two days, yet far short of twenty years. True it is, and so was it to be played in two days, and so fitted to the time it set forth. And though Plautus have in one place done amiss, let us hit it with him, and not miss with him. >>

BEN JONSON

Prolog zu Every Man in His Humour

Though Need make many Poets, and some such
As Art and Nature have not better'd much;
Yet ours, for want, hath not so lov'd the Stage,
As he dare serve th'ill Customs of the Age,
Or purchase your delight at such a rate,
As, for it, he himself must justly hate:
To make a child now swaddled, to proceed
Man, and then shoot up in one beard and weed,
Past threescore years:

Diese Kritik trifft auf das Wintermärchen zu. „Kann man sich auf dem Gebiete, von dem wir sprechen, etwas Unsinnigeres denken, als wenn man im ersten Auftritt eines Stücks ein Kind in Windeln auf die Bühne bringt und es im zweiten schon als einen bärtigen Mann auftreten läßt?", fragt der Pfarrer in Kapitel 48 des Don Quixote.  Gabriele Jackson, der Herausgeber von Every Man in His Humour für die Yale-Reihe[1] meint hierin einen Beweis zu sehen, dass Jonson den Prolog nach dem Erscheinen von Thomas Sheltons Übersetzung des ersten Buches von Cervantes' Werk im Jahr 1612 geschrieben haben müsse. Aber im Wesentlichen sind solche Einwände bereits bei Sidney angesprochen. Sidney, wie später Ben Jonson, macht sich zum Anwalt einer im Jahr 1583 noch relativ jungen Konzeption: die Einheit von Zeit, Raum und Handlung, die ungenau als aristotelische Regeln bezeichnet werden, da die ersten beiden Einheiten erst zwischen etwa 550 und 1570 in Italien ausformuliert wurden.

or, with three rusty swords,
And help of some few foot-and-half-foot words,
Fight over York, and Lancasters long jars,

Vermutlich eine Anspielung auf den Heinrich III.-Zyklus und Richard III.

And in the Tyring house bring wounds to scars.
He rather prays, you will be pleas'd to see
One such to day, as other plays should be;
Where neither Chorus wafts you o're the seas,

Wohl eine Anspielung auf den Chor zu Beginn des 3.  und 5. Aktes von Heinrich V.

Akt III:

            So fliegt auf eingebildeten Fittichen
            Die rasche Szene mit nicht minder Eil
            Als der Gedanke. Stellt euch vor, ihr seht
            Am Hampton-Damm den wohlversehnen König
            Sein Königtum einschiffen, sein Geschwader
            Den jungen Tag mit seidnen Wimpeln fächeln...
            Spielt mit der Phantasie und seht in ihr
            Am hänfnen Tauwerk Schifferjungen klettern.

Akt V:

            Vergönnt, daß denen, welche die Geschichte
            Nicht lasen, ich sie deute! Wer sie kennt,
            Den bitte ich ziemlichst um Entschuldigung
            Für Zeit und Zahl und rechten Lauf der Dinge,
            Die hier in ihrem großen wahren Leben
            Nicht darzustellen sind. Den König bringen
            Wir nach Calais; dort sei er, dort gesehen,
            Hebt ihn auf den beflügelten Gedanken
            Die See hinüber!

Kann die Anspielung auf Heinrich V. 1598 geschrieben worden sein? Das Stück wurde zum ersten Mal 1600 gedruckt, allerdings ohne den Chor, auf den Jonson anspielt. Als Entstehungsjahr wird 1599 angenommen, weil der Chor vor Akt V auf die Militärexpedition des Jahres 1599 unter Führung des Grafen von Essex anzuspielen scheint. Es sind verschiedene Antworten möglich. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass Jonson die Anspielungen später einsetzte. Die Frage berührt unser zentrales Thema jedoch nicht. Die Themenstellung lautet: Könnte Sidney mit seiner Kritik im Jahr 1583 auf Shakespeares Cymbeline, Wintermärchen und Sturm angespielt haben? Dass Jonson in den nächsten Zeilen auf den Sturm anspielt, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Joseph Hunters These ist sehr plausibel, dass Jonson hier auf den „knarrenden Thron Junos" im Maskenspiel in IV.1 des Sturms anspielt (die Regieanweisung lautet: „Juno descends".

Nor creaking Throne comes down, the boys to please;
Nor nimble Squib is seen, to make afeard
The Gentlewomen; nor roul'd Bullet heard
To say, it Thunders; nor tempestuous Drum
Rumbles, to tell you when the Storm doth come;

But Deeds, and Language, such as men do use:
And Persons, such as Comœdy would chuse,
When she would shew an Image of the Times,
And sport with Humane Follies, not with Crimes.
Except, we make 'em such by loving still
Our popular Errors, when we know th' are ill.
I mean such Errors as you'll all confess
By laughing at them, they deserve no less:
Which when you heartily do, there's hope left, then,
You, that have so grac'd Monsters, may like Men.

"Monster" kann sich auf Caliban im Sturm beziehen und gleichzeitig auf Breno im Mucedorus, ein Stück, das vermutlich in den 1580er Jahren verfasst worden und 1610, um dieselbe Zeit wie der Sturm, wieder aufgeführt wurde.

II.  WEITERE ERLÄUTERUNGEN ZU SIDNEYS APOLOGY FOR POETRY

Wenn sich Ben Jonsons Prolog, einerlei ob er 1598 ganz, teilweise oder gar nicht geschrieben wurde, kritisch zu Shakespeares dramatischer Konzeption, äußert, so gilt gleiches für Sidneys Kritik, einerlei ob die Shakespeare-Stücke 1583 bereits geschrieben waren oder nicht. Nun ist es möglich, plausibel zu argumentieren, dass sich Sidneys Kritik gegen die dramatische Konzeption seines literarischen Rivalen, den Earl of Oxford, richtet. Man kann es dann für zufällig oder nicht zufällig halten, dass sich Sidneys Kritik an Oxford auf Shakespeare übertragen lässt.

Sidney erwähnt Oxford nicht; er erwähnt überhaupt keine Namen noch lebender Autoren. Das Bühnenstück Gorboduc wird zwar lobend erwähnt, seine Verfasser jedoch nicht. Nicht einmal sein Freund Edmund Spenser wird erwähnt, der 1579 unter dem Pseudonym Immerito den Shepherd's Calendar hatte drucken lassen. Gewidmet hatte er es... Philip Sidney. Sidney findet lobende Worte für das Werk, mischt ihnen allerdings auch ein Vorbehalt bei. „Die Eglogen im Sheperd's Calendar besitzen viel Poesie:  wirklich lesenswert, wenn ich mich nicht irre. Doch möchte ich  nicht die Ausrichtung des Stils an einer alten rustikalen Sprache bejahen, da weder Theokrit im Griechischen, noch Vergil im Lateinischen oder Sannazaro im Italienischen es so hielten."[2] Aber den Namen Spenser erwähnt er nicht. Warum verweigert Sidney seinem Freund Spenser das, was heute, im Zeitalter des lauten, oft vorlauten Marketings,  selbstverständlich wäre? Warum verweigert Sidney die ehrenhafte Erwähnung Spensers? Die Antwort gibt er einige Absätze vorher: Weil er es für gar keine Ehre, sondern im Gegenteil für eine Unehre hielt, öffentlich zu erwähnen, dass Spenser sein Werk zum Drucker gebracht hatte. Spenser hatte ja selbst ein Pseudonym, Immerito, gewählt. Bis sich Spenser, über ein Jahrzehnt später entschied, doch unter eigenem Namen zu veröffentlichen, wurde das Pseudonym respektiert.  Und, wie er einem anderen Freund gegenüber andeutet, entschied sich Spenser, als er seine Hoffnungen auf eine Karriere bei Hofe aufgegeben hatte. Sidney war ein Hofmann,  ein Aristokrat. Sidney klagt, dass Poesie gelobt, aber nicht belohnt wird. Als noch beklagenswerter betrachtet er das, was daraus folgt: „Woraus notwendigerweise folgt, dass gemeine Leute mit einem unterwürfigen Geist zu dichten beginnen, die es zufrieden sind, wenn der Drucker sie belohnt. Und wie von Epaminondas gesagt wird, dass er, indem er, der Tugendhafte,  dadurch, dass er selber dichtete, einem Tun, das vorhin als verwerflich galt, zu Ansehen brachte, so beflecken jene  dadurch, das sie ihre Dichtung namentlich unterschreiben, die anmutigste Poesie."[3] Über diejenigen, die versuchen mussten, von der Schriftstellerei zu leben, die Gemeinen, äußert sich Sidney gar nicht. Lob und Kritik richten sich ausschließlich gegen Hofdichter oder solche, die, wie Spenser am Anfang der 1580er Jahre, noch zu werden hofften; nur diese sind nach Sidneys Auffassung der Erwähnung wert.

Welche oder welche Hofdichter könnte Sidney mit seiner Kritik an den Verstößen gegen die Einheit von Raum und Zeit gemeint haben? Darüber kann uns ein anderes Werk Aufschluss geben, das ungefähr zur gleichen Zeit entstand.

III. THE ARTE OF ENGLISH POESIE

Das Werk über Stilkunde erschien 1589 anonym. Als Verfasser vermutet man George Puttenham. Anders als Sidney erklärt der Autor, dass er nur Beispiele von Hofdichtern bringen wird. „Courtly makers" nennt er diese Hofdichter. „Maker" ist ja die ursprüngliche Bedeutung von „Poet". Während Sidney einige Werke, aber keine Namen nennt, nennt dieser Autor Namen, aber keine Werke. Außer in einem Fall: Spenser, der umschrieben wird als „that other Gentleman who wrate the late shepheardes Callender", „dieser andere Gentleman, der jüngst den Shepherd's Calendar schrieb"[4]. Damit wissen wir, dass diese Zeilen nicht allzu lange nach 1579 niedergeschrieben worden sind.[5] Wie Sidney will auch der anonyme Verfasser Spenser nicht namentlich nennen. Wer bei Hofe reüssieren wollte, hatte sich der Praxis, für seine literarischen Erzeugnisse öffentlich einzutreten, zu enthalten. Das Wort „Gentleman" zeigt bei Puttenham keinen Titel an, sondern einen höfischen Lebensstil. Auch Edward de Vere wird als „Gentleman" bezeichnet. „And in her Maiesties time that now is are sprong up an other crew of Courtly makers Noble men and Gentlemen of her Maiesties owne servauntes, who have written excellently well as it would appeare if their doings could be found out and made publicke with the rest, of which number is first that noble Gentleman Edward Earle of Oxford. Thomas Lord of Bukhurst, whe he was young,..."[6] usw. In der Zeit der jetzigen Königin gibt es eine Reihe von Hofdichtern, die ausgezeichnet geschrieben hätten, wie man feststellen würde, wenn sie als Autoren öffentlich in Erscheinung träten. Der beste von ihnen sei der Earl of Oxford. Dann werden genannt : Thomas Sackville, Lord Buckhurst, als er noch jung war. Thomas Sackville wurde 1536 geboren und schrieb 1561 gemeinsam mit Thomas Norton die Tragödie Gorboduc. Norton war kein Hofdichter; er wird nicht genannt. Genannt werden noch u.a. Sir Philip Sidney, Edward Dyer, Fulke Greville und einige andere.

Nur vier Namen werden als Autoren von Bühnenstücken genannt, je zwei für Tragödie und Komödie. Für Tragödie: Lord Buckhurst, der Autor von Gorboduc, dem Stück, das Sidney als einziges nennt, und Master Edward Ferrys, ; für Komödie: der Earl of Oxford und Richard Edwards.[7] Edwards war allerdings 1566 gestorben. Edward Ferrys ist wahrscheinlich ein Irrtum. Wahrscheinlich handelt es sich um George Ferrers, Koautor und Herausgeber des Mirror of Magistrates, kein Bühnenstück, sondern eine Sammlung tragischer Geschichten über den Fall hochrangiger historischer Personen, die zum erstenmal 1557 erschienen. Es bleibt neben Lord Buckhurst - als er jung war, d.h. um 1560 - nur noch der Earl of Oxford übrig,

Da sich Philip Sidney ebenfalls auf Hofdichter beschränkt, ist die Annahme, seine Kritik am Theater beziehe  sich auf Oxford, mehr als eine Spekulation.

Und wir müssen schließen, dass Sidneys Kritik an Oxford Ben Jonsons Kritik an Shakespeare spiegelt!

IV. EINE ANDERE PERSPEKTIVE - CYMBELINE ALS EXPERIMENT

Shakespeares Stück Cymbeline gibt Rätsel auf. Kompositorisch muss man es wahrscheinlich als Fehlschlag bezeichnen. Aber natürlich würde sich die Perspektive ändern, wenn man es nicht ans Ende von Shakespeares Schaffensperiode, sondern an den Anfang stellt. In ihrer Studie Shakespeare & the Greek Romance[8] weist Carol Gesner nach, dass genau wie für Sidneys Romanze Arcadia die Romanze Aethiopica des Heliodoros eine Quelle für Shakespeares Stück ist. Das Stück enthält eine Reihe von Topoi, die alle in der Aethiopica zu finden sind: die Wette zwischen Posthumus und Jachimo, Imogens Wanderungen, die verlorenen Erben Guiderius und Arviragus, die Einbeziehung historischer Ereignisse in romantisierter Wiedergabe, und weitere Elemente. Gesner schließt, dass Cymbeline vermutlich Shakespeares Versuch darstelle, eine Romanzevorlage, Heliodoros' Aethiopica, in ein Drama für die Bühne zu schreiben. Als ein Experiment also, das man eher am Anfang seiner Laufbahn als am Ende erwarten würde und das er nicht mehr wiederholte. 

Stellt man die anderen Romanzen ebenfalls an den Anfang, so fallen diese Stücke nicht nur in die 1580er Jahre, die Blütezeit solcher Stücke, sondern man erhielte auch eine logische Erklärung für das was Nicolaus Delius für den Stil und Wolfgang Clemen für die Bildersprache festgestellt haben: dass in Shakespeares Romanzen - den mutmaßlichen späten Stücken -  Merkmale der frühen Komödien zurückkehren.

Oder man vergleiche etwa die Eifersuchtsromanze Wintermärchen mit der Eifersuchtstragödie Othello. Während Othellos Eifersucht zwar von Jago geschürt wird, aber doch auch in ihm selbst schlummert, scheint sie über Leontes ohne erkennbare psychologische Motivation fast wie ein Naturereignis hereinzubrechen. Für gewöhnlich wird man Leontes als eine Schöpfung des frühen und Othello als Schöpfung des gereiften Genies vorstellen.

© Robert Detobel, 2011


[1] Jonson, Ben, Every Man in His Humour, edited by Gabriele Bernhard Jackson, New Haven and London, 1969, S. 221.
[2] Sidney, Philip, „Apology for Poetry" in Critical Elizabethan Essays, edited by G. Gregory Smith, 2 Bände, Oxford, 1904, Band I, S. 196.
[3] Ebenda, S. 194.
[4] The Arte of English Poesie by George Puttenham, edited by Gladys Doidge Willcock and Alice Walker, Cambridge, 1936, S. 63.
[5] Da Sidney als „Sir" bezeichnet wird und im Januar 1583 Ritter geschlagen wurde, muss man ein Datum danach annehmen.
[6] The Arte.  S. 61.
[7] Ebenda, S. 63.
[8] Gesner, Carol, Shakespeare & the Greek Romance - A Study of the Origins, Lexington, 1970, S. 90-115.