ROGER MANNERS, 5. EARL OF RUTLAND (1576-1612)

Die Kandidatur Rutlands ruht auf zwei Säulen: die eine ist eine Italienreise, die andere ein Besuch am dänischen Hof in Helsingör. Da er aber am 6. Oktober 1576 geboren wurde und Shakespeares Venus and Adonis im April 1593 zum Druck angemeldet wurde, müsste er das Werk mit sechzehneinhalb Jahren fertiggeschrieben haben. Rutland war ein Freund Southamptons, jedoch um drei Jahre jünger, während der Verfasser der Sonette offensichtlich bedeutend älter als der junge Freund ist. Der russische Forscher Piotr Porohowschnikow (Shakespeare unmasked, 1940), ein Rutlandianer, schreibt deshalb die Epyllien Venus and Adonis und The Rape of Lucrece Francis Bacon und die Sonnets dem Earl of Oxford zu. Darüber, dass die Sonette sich zum Teil an die beiden Epyllien anlehnen, zerbricht er sich den Kopf nicht.

Es scheint, als sei die Rutland-Theorie in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden. Kurz nacheinander vertraten sie 1906 Peter Alvor (Das Neue Shakespeare-Evangelium) und 1907 Carl Bleibtreu (Der wahre Shakespeare). Der belgische Literaturprofessor Célestin Demblon baute sie zehn Jahre später weiter aus.

Da mindestens zehn bis elf Shakespeare-Stücke in Italien spielen (die römischen Stücke nicht mitgerechnet) und der Verfasser dieser Stücke nebst Italienischkenntnissen auch Ortskenntnisse besaß, die wohl kaum vom Hörensagen herrühren können, ist eine ausgedehnte Italienreise im Prinzip ein gutes Argument für die Verfasserschaft. Eine Italienreise haben jedoch viele englische Adelige unternommen, so dass man, geht man von diesem Datum aus, gleich ein Heereslager möglicher Verfasser in die Schlacht schicken kann. Dieses Heereslager ist noch längst nicht geleert, und es muss vermutet werden, dass sich in Zukunft von dort noch einige neue Kandidaten melden werden. Die Frage lautet dann: Inwiefern kann aus den Informationen, die wir über Rutlands Italienreise besitzen, eine glaubwürdige Brücke zu den in Italien spielenden Stücken Shakespeares geschlagen werden?

Die Antwort fällt vernichtend aus. Rutland fing im März 1596 mit dem Studium in Padua an. Vor dem Sommer 1597 war er wieder in England und nahm an der Azoren-Expedition unter Führung des Earl of Essex teil. Er wird sicher das nahe gelegene Venedig von Padua aus besucht haben, vielleicht auch andere Städte. Aber The Merchant of Venice ist in der orthodoxen Chronologie - wohl eher zu spät - auf das Jahr 1596 datiert, Romeo and Juliet auf 1595, The Taming of the Shrew wurde 1594 als The Taming of A Shrew gedruckt, Two Gentlemen of Verona ist noch früher entstanden. M. a. W.: Rutland müsste seine Ortskenntnisse Italiens bereits besessen haben, bevor er überhaupt einen Fuß auf italienischen Boden gesetzt hätte. Das ist von den Vertretern der Rutland-Theorie nie in Betracht gezogen worden (und wird auch von John Michell in Who wrote Shakespeare? beim gutgemeinten Versuch zur Neutralität völlig außer Acht gelassen).

Und Blick fürs Ganze lässt Michell auch bei der zweiten „Säule" vermissen, den Besuch Rutlands in Helsingör, wo er unkommentiert ein Argument von Claud Sykes anführt, das auf den ersten Blick eisern scheint und deshalb hier in passender Länge zitiert wird:

„In dem Jahr zwischen dem Erscheinen von Q1 [1603] und der zweiten Ausgabe von Hamlet (Q2) [Ende 1604] hat Shakespeare viel Neues über Helsingör und den dänischen Hof erfahren..."

„Die Eröffnungsszene von Hamlet scheint darauf hinzudeuten, daß Shakespeare nach der Niederschrift der ersten Fassung Schloß Kronborg in Helsingör besuchte. In Q1 gibt es keine Szenenanweisung, aber in in Q2 heißt es von dem Platz, wo die Posten Wache stehen und der Geist erscheint: »Eine Terrasse vor dem Schloß.« Nach Claud Sykes ist diese mit Zinnen eingefaßte, gepflasterte Terrasse vor dem Schloß Kronborg noch heute vorhanden. Posten stehen dort Wache und im Volksmund heißt sie »Geisterweg«."

„Dem Verfasser von Q1 war offenbar nicht klar, daß es in Dänemark keine Berge gibt, denn am Ende der ersten Szene läßt er Horatio sagen:

                        But look, the morn in russet mantle clad,
                        Walks over yonder mountain top.
                        Doch seht, der Morgen, in einem Purpurmantel gekleidet,
                        wandert über die Bergspitze dort drüben.

In Helsingör, auf der Terrasse stehend, muß Shakespeare seinen Fehler erkannt haben. Aber er sah auch, wie er ihn beheben konnte. Nach Sonnenaufgang und auf die schwedische Küste blickend wird er auf der anderen, der östlichen Seite des Sunds eine große Erhebung, den Karlkulle, bemerkt haben. Und so sagt Horatio in Q2 zutreffender:

                        But look, the dawn in russet mantle clad,
                        Walks o'er the dew on yon high eastern hill.
                        Doch seht, der Morgen, angetan mit Purpur,
                        Betritt den Tau des hohen Hügels dort.

„Nun sollte es möglich sein, den Verfasser des Hamlet zu identifizieren, jenen Mann, der die ursprüngliche Fassung Q1 für die Ausgabe Q2 von 1604 umschrieb." (S. 290-1)

Wir brauchen gar nicht die Frage zu prüfen, ob Hamlet vielleicht nicht viel früher geschrieben würde. Wir brauchen auch gar nicht die Frage zu prüfen, ob Q1 vielleicht nicht ein für die Aufführung vor dem breiten Publikum im Globe-Theater, unter Umständen nicht einmal vom Autor selbst gekürzte und sprachlich vereinfachte Fassung ist. Hamlet wurde am 26. Juli 1602 zum Druck angemeldet, nachdem es vorher von einem Zensor (Master Zachariah Passfield) geprüft worden war. Nennen wir das Manuskript, das vom Zensor geprüft worden war Q0. Q2 und Q0 waren nicht identisch. Q0 muss noch etwas länger gewesen sein. Wie die Titelseite von Q2 1604 belegt. „Newly imprinted and enlarged to almost as much againe at it was, according to the true and perfect Coppie." „Neu gedruckt und erweitert zu fast ebensoviel, wie es gemäß dem authentischen und vollständigen Manuskript war." Vor dem 26. Juli 1602 schon war! Q1 stellt nicht die 1603 geschriebene erste Fassung dar, der Autor erweiterte und änderte nach 1603 nichts. Wie im Fall der Italienreise wusste Rutland aus eigener Anschauung Genaues, noch bevor er es sich angeschaut hatte.

Für Rutland spricht nichts, außer seinen Fürsprechern.

© Robert Detobel 2011