GRUPPENTHEORIE

Delia Bacon war die erste, die 1857 in The Philosophy of the Plays of Shakespeare Unfolded eine Gruppentheorie vertrat. Sie ist dabei sehr wahrscheinlich von dem 1589 anonym erschienenen Poetikessay The Art of English Poesie ausgegangen. Man vergleiche die Zusammensetzung der von ihr vermuteten Gruppe mit der Stelle in dem besagten Essay.

Bei Delia Bacon sind es: Francis Bacon, Walter Ralegh, Edmund Spenser, Philip Sidney, Thomas Sackville, Henry Paget, Edward de Vere, 17. Earl of Oxford.

Der Name Paget macht stutzig: Lord Henry Paget starb 1568. Man weiß außer der Erwähnung in The Art of English Poesie nichts über seine literarische Tätigkeit. Dort lesen wir auf Seite 61:

„And in her Majesty's time that now is are sprong up another crew of Courtly makers Noble men and Gentlemen of her Majesty's own servants, who have written excellently well as it would appear if their doings could be found out and made public with the rest, of which number is first that noble Gentleman Edward Earl of Oxford. Thomas [Sackville] Lord of Buckhurst, when he was young, Henry Lord Paget, Sir Philip Sydney, Sir Walter Ralegh, Master Edward Dyer, Maister Fulke Greville, Gascoigne, Britton, Turberville and a great many other learned Gentlemen...".

Auf Seite 63 erwähnt er zudem Edmund Spenser als "that other Gentleman who wrote the late Shepherd's Calendar." Abgesehen von Francis Bacon finden wir hier alle Namen, die Delia Bacon aufführt.

Die Gruppentheorie existiert nicht nur in Dur, sondern auch in Moll als Koproduktionstheorie. Bereits Edmond Malone (1741-1812) hielt Titus Andronicus für ein Stück, das in Hauptsache nicht aus Shakespeares Feder stammte; ebenso, wie oben gesehen, die Quarto-Ausgaben vom 2. und 3. Teil von Henry VI. Der deutsche Shakespeare-Forscher Nikolaus Delius (1813-1888) sah wie F. G. Fleay (1831-1909) in Timon of Athens nur teilweise Shakespeares Hand. Brian Vickers hat die Koautorschaft Shakespeares zum Themas eines umfassenden Werkes gewählt: Shakespeare, Co-Author (Oxford, 2001). Während Delius und Fleay nicht auf stilometrische Methoden im strengen Sinne zurückgriffen, sondern hauptsächlich auf aufmerksames Lesen vertrauten, was mehr als eine Stilometrie in statu nascendi ist, benutzte Vickers moderne stilometrische Methoden. Bemerkenswert (oder vielleicht doch nicht dermaßen überraschend) ist, dass sich Vickers' Ergebnis in Bezug auf Timon of Athens hinsichtlich der Verteilung der Szenen auf Shakespeare und den anderen Autor nicht sonderlich von dem Delius' und Fleays unterscheidet; nur gelangt Vickers, wie vor ihm einige andere Forscher, zu dem Schluss, das der Koautor Thomas Middleton (1580-1627) ist. Vickers' Identifikation des zweiten Autors als Thomas Middleton dürfte unanfechtbar sein. Möglicherweise könnte man bei der Szenenverteilung auf beide Autoren noch das eine oder andere Kärtchen anders legen, für die Diagnose fiele das nicht ins Gewicht. Meine eigene Schlussfolgerung ist trivial: Wenn man Shakespeares Koautor identifizieren kann, so kann man auch den Autor Shakespeare identifizieren. Andächtiges Lesen reicht dazu meistens aus. Man müsste von den Vertretern der Gruppentheorie fordern, dass sie wenigstens den Versuch unternehmen, uns nicht nur anhand biografischer Parallelen, sondern auch stilistischer Merkmale zu verdeutlichen, was von Bacon, Derby, Rutland, usw. in den Gedichten und Stücken stammt

Wenn auch nicht alles, was die erste Folioausgabe enthält, aus Shakespeares Feder stammt, so stand den Herausgebern, einerlei wer der Autor war, gleichwohl eine bestimmte und für den Text bestimmende Einzelperson vor Augen, die auch die Sonnets geschrieben hatte. Diese Person war 1623 bereits gestorben. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Person für tot erklärt worden wäre, nur um sein Werk herausgeben zu können. Insofern ist der Tod des Autors vor 1623 ein erstes zuverlässiges Eliminationskriterium; es lässt Francis Bacon und William Stanley, 6. Earl of Derby, als Kandidaten ausscheiden. Zudem heißt es in der Widmung an die Herbert-Brüder William und Philip, dass die Herausgeber lediglich beabsichtigten, dem verstorbenen Autor den Dienst zu erweisen, seine Werke zu sammeln und zu veröffentlichen („We but collected them, and done an office to the dead"). Diese Formulierung findet sich noch in anderen Fällen. 1598 gibt Edward Blount (ebenfalls Verleger der ersten Folioausgabe) Christopher Marlowes episches Gedicht Hero and Leander heraus. In der Widmung an Sir Thomas Walsingham schreibt Blount, man könne sich nun, da der leblose Körper beerdigt ist, nicht der Pflicht entbunden fühlen gegenüber dem toten Freund, sondern müsse ihm durch die Veröffentlichung seines Werks ein Nachleben in der Erinnerung sichern.

(„we think not ourselves discharged of the duty we owe to our friend when we have brought the breathless body to the earth... of the man that hath been so dear unto us, living an afterlife in our memory, there putteth us in mind of farther obsequies due unto the deceased. And namely, of the performance of whatsoever we may judge shall make to his living credit... I suppose myself executor to the unhappily deceased.").

Zwei Jahre später gibt Blounts Freund, Thomas Thorpe, Marlowes Übersetzung des ersten Buches von Lukans Pharsalia heraus. In der Widmung an Edward Blount schreibt Thorpe, er schreibe seine Widmung zum Gedenken an dieses reine natürliche Talent Christopher Marlowe, dessen Genius oder Geist man hat spazieren sehen im Bücherviertel St Paul's Churchyard.[i] In A Life of William Shakespeare (London, 1898) erwähnt Sidney Lee im gleichen Zusammenhang auch einen anderen Verleger, William Hall, der 1606 A Fourfold Meditation des 1595 hingerichteten Jesuiten Robert Southwell herausgab. Erst viel später in seinem Buch, als er Thorpes Laufbahn als Verleger behandelt, übermannt Sidney Lee eine erstaunliche Feststellung: William Hall habe Southwell den gleichen Dienst erwiesen wie Thorpe 1600 Marlowe mit der Herausgabe der Lukan-Übersetzung und 1609 Shakespeare mit der Herausgabe der Sonette:

„In 1606 one who concealed himself under the same letters [W.H.] performed for 'A Foure-fould Meditation' (a collection of pious poems which the Jesuit Robert Southwell left in manuscript at his death) the identical service that Thorpe performed for Marlowe's 'Lucan' in 1600, and for Shakespeare's 'Sonnets' in 1609."

Sidney Lee hätte noch hinzufügen können: Wie Edward Blount Marlowe 1598 und Hemmings and Condell Shakespeare 1623 mit der Herausgabe des First Folio. Aber so wie die eine Feststellung geisterhaft seinem Unbewussten entflohen ist, so geisterhaft verkriecht sich die logische Schlussfolgerung wieder daselbst: Dass Shakespeare, der Autor der Sonette, 1609 gestorben war! Zumal diese Tatsache noch einmal in der Widmung durch den Ausdruck „by our ever-living poet" nachdrücklich betont wird. Es ist kein einziges Beispiel bekannt, in dem der Ausdruck „ever-living" für eine noch lebende Person verwendet worden wäre. In der Folio-Ausgabe von Shakespeares Stücken kommt der Ausdruck ein einziges Mal vor, im ersten Teil von Henry VI, IV.3: „That ever-living man of memory Henry the Fifth".

Wenn wir für die Sonette das gleiche Kriterium wie für die erste Folio-Ausgabe anwenden, d. h. den Satz: Wie diese uns bedeutet, dass Shakespeare 1623 gestorben war, so jene, dass er 1609 gestorben war, dann lichtet sich das Feld möglicher Kandidaten dramatisch. Nur drei bleiben übrig: Thomas Sackville, Lord Buckhurst, der 1608 starb; Sir Edward Dyer, der 1607 starb; und Edward de Vere, der 1604 starb.

Von den Kandidaten, die in jüngster Zeit dazugekommen sind, erfüllt keiner diese Bedingung, außer Sackville.

© Robert Detobel 2011


[i] „and out of my dullness to encounter you with a dedication in the memory of that pure elemental wit Chr. Marlowe, whose ghost or genius is to be seen walk in the churchyard in (at the least) four sheets." "Churchyard" kann Friedhof bedeuten, verweist hier gleichzeitig auf das Bücherviertel hinter der Sankt-Paul-Kathedrale; "sheet" kann hier gleichzeitig "Leichentuch" und "Papierbogen" bedeuten.