SHAKESPEARES ITALIENISCHE REISE

Die öffentliche Meinung verbreitet sich nicht selten in der Art der Heringe. So wie sich der Hering an den Bewegungen des benachbarten Herings im Schwarm orientiert, so die öffentliche Meinung an dem, was der Nachbar meint. Was beim Hering den Gleichsinn des schwimmenden Schwarms bewirkt, bewirkt beim in der öffentlichen Meinung schwimmenden Menschen den Konsens.

Der Mensch verfügt natürlich über andere Mittel, u. a. über das Mittel des Nachdenkens. Das aber kann gefährlich werden, weil die Allgemeinheit dazu neigt, den geringsten Abstrich an ihrer Allheit als Gemeinheit zu empfinden. Weil dies so ist, kann man nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass Richard Roes Buch, das letzten Monat bei HarperCollins erschienen ist, die Aufmerksamkeit erhalten wird, die es verdient. Das Buch heißt The Shakespeare Guide to Italy. Richtig, es befasst sich mit der alten Frage, ob Shakespeare in Italien war oder nicht. Die alte Frage wurde eigentlich vor mehr als hundert Jahren beantwortet, nicht zuletzt zwischen 1870 und 1900 in den Jahrbüchern der Deutschen Shakespeare Gesellschaft, u. a. von Karl und Theodor Elze und Gregor Sarrazin. Aber wird sich die Deutsche Shakespeare Gesellschaft heute dessen noch zu entsinnen wagen? Denn die Antwort der beiden Elzes und Sarrazins lautete damals schon: Shakespeare muss eigentlich Italien bereist haben.  Nach Roes Buch wird man das „eigentlich" als uneigentlich weglassen können, ja müssen. Das hätte man auch schon früher tun müssen, aber so feste auf der Ansicht zu beharren, Shakespeares Italienbild sei das reine Ergebnis seiner dichterischen Einbildung und deshalb auch lückenhaft,  oder, wie es uns James Shapiro in seinem Buch Contested Will weiszumachen versucht, Shakespeare hätte sich seine Italienkenntnisse aus Berichten an den Londoner Bücherständen und Gesprächen in Londoner Tavernen erworben, wird nun vollends unmöglich... es sei denn... es sei denn... Es bleibt noch die Möglichkeit, hinter selbstsicherer Pose die offenkundige Posse einer solchen Behauptung zu verbergen.

Richard Roe aber, der im Dezember 2010 hochbetagt starb, ist der Sache auf Grund und Boden gegangen, buchstäblich, nämlich auf italienischem Grund und Boden. Zwanzig Jahre lang hat er, immer ein in Italien spielendes Shakespeare-Stück in der Tasche, das Land während seines Urlaubs bereist, um einer ganz einfachen Frage nachzugehen. Die Frage mag in vielen Fällen für die literarische Analyse unerheblich sein; sie ist jedoch beileibe nicht in jedem Falle für das Verständnis der Stücke völlig unwichtig.

Welche Frage ist das denn? Nicht zu leugnen ist, dass Shakespeares in Italien spielende Stücke topographische Angaben enthalten. Theodor Elze hatte das 1877 bereits für Venedig nachgewiesen. Zum Beispiel begibt sich in Akt III, Szene 4. Portia in ein „zwei Meilen entferntes Kloster".  Tatsächlich gab es ein solches Kloster in etwa dieser Enfernung vom realen Ort, an dem Portias Villa lokalisiert worden war. Es war nur eines von mehreren Beispielen, aus denen Theodor Elze  folgerte, dass Shakespeare Venedig aus eigener Anschauung kannte: zu präzise waren seine Lokalangaben. Seine drei Aufsätze zu Shakespeare und Italien beschloss Theodor Elze übrigens mit einem Goethe-Zitat: „Wer den Dichter will verstehen,/Muß in Dichters Lande gehen."

Das hat Richard Roe getan. Während jedoch Theodor Elze als Pfarrer der evangelischen Gemeinde nur dort ortskundig war, erstreckten sich Roes Nachforschungen auf alle zehn Shakespeare-Stücke, die ganz oder teilweise in Italien spielen. Dazu gehören auch Ein Sommernachtstraum und Der Sturm. Wieso Der Sturm? Hat dieses Stück nicht etwas mit den Bermudas zu tun? Nein, belehrt uns Roe, das Stück hat einiges mit Vergils Aeneis und nichts mit den Bermudas zu tun. Aber später mehr darüber. Wenden wir uns zunächst Romeo und Julia zu.

VERONA - ROMEO UND JULIA

In I.1 fragt Lady Montague, wo ihr Sohn Romeo sein mag. Er habe ihn gesehen, antwortet Benvolio, in dem Hain von Sykomoren (Sycamore - Acer pseudoplatanus, ital. acero montano, dt. Bergahrhorn) vor der westlichen Stadtmauer. Dieser Hain von Sykomoren kommt in keiner, in keiner einzigen der von Shakespeare benutzten Quellen (Porto, Bandello, Boiastau, Painter, Brooke) vor; nur in Shakespeares Fassung ist von einem solchen Hain die Rede. Einbildung des Dichters? Oder hat er in einer Londoner Taverne davon etwas gehört? Oder gibt oder gab es einen solchen Hain wirklich just vor der westlichen Stadtmauer Veronas. Es gibt diese Sykomoren wirklich vor der westlichen Stadtmauer, wenn auch nicht mehr als ganzen Hain. Doch aus den Archiven ließ sich zeigen, dass es diesen Hain von Sykomoren früher wirklich gegeben hat.   

Dann gibt es die Sankt-Peter-Kirche, in der nach den Vorstellungen von Vater Capulet Julia und Graf Paris getraut werden sollen. Dreimal erwähnt Shakespeare diese Kirche, die wiederum in keiner der Quellen vorkommt. Es gibt aber in Verona vier Kirchen, die nach dem heiligen Peter benannt worden sind. Nicht alle kommen in Frage, ja, nur eine kommt in Frage, denn da die beiden vom Franziskaner Lorenzo getraut werden sollen, muss es eine Franziskanerkirche sein. Roe entdeckt sie. Und siehe da, es ist die Kirche innerhalb der Pfarrgemeinde, in der er vorher das Haus der Capulets lokalisiert hat. Des Dichters Einbildung? Taverne? persönliche Anschauung?

In I.1 fordert Fürst Escalus Vater Montague auf, nachmittags zu „Old Freetown, unserem gewöhnlichen Gerichtssitz" zu kommen. Villafranca, „Freetown", war ein Ort in der Nähe von Verona, eine „Freistadt" mit einem Marktplatz, wo frei von Steuern Handel getrieben werden konnte. Aber wieso „Old Freetown"? Old Freetown, fand Roe heraus, war eine Burg, in der die Fürsten von Verona tatsächlich ihre Gerichtssitzungen abhielten. Montague soll sich nach Old Freetown begeben, um zu hören, wie der Fürst in dem Streit zwischen Montague und Capulet weiter befinden würde („to know our farther pleasure in this case").

Ist das für das Verständnis des Textes nun völlig zweitrangig? Keineswegs! Keine der Quellen identifiziert dieses Old Freetown als eine Burg, in der sich der herkömmliche Gerichtssitz der Fürsten von Verona befand. Auch die Arden-Ausgabe hat nur eine Erklärung zu bieten, die gar nichts erklärt: „Freetown: der Name von Capulets Schloss bei [William] Painter ist Villafranca, bei [Arthur] Brooke [im 1562 erschienenen epischen Gedicht Romeus and Juliet] Freetown. Shakespeare stellt sich Capulets Haus eher als das eines Händlers denn als ein Schloss vor. Die Würde eines Schlosses überträgt er auf Escalus." Doch warum denn soll Montague vom Fürsten, der weiter in dieser Sache befinden wird,  zu Capulets Haus oder Schloss vorgeladen werden? Die Erklärung in der Arden-Ausgabe ergibt keinen Sinn, Roes Erklärung dagegen macht Shakespeares Text schlüssig.

„Wer den Dichter will verstehen,/Muß in Dichters Lande gehen."

VERONA - DIE BEIDEN  VERONESER

Shakespeare kannte Verona aus eigener Anschauung also. Sollte er sich denn in diesem Stück so schrecklich geirrt haben, so schrecklich, dass mehrere Kommentatoren (und bis heute deren gedankenlose Imitatoren) dieses Stück als unwiderlegbaren Beweis betrachten, dass er, Shakespeare, von Italien keine Ahnung hatte?

Nicht Shakespeare, schreibt Roe und weist es akribisch nach, nicht Shakespeare irrt, sondern die „neunmalklugen" Kommentatoren. Besserwisserei ist wahrscheinlich das tragische Schicksal vieler Shakespeare-Deuter. Es hängt nicht nur damit zusammen, dass man immer noch davon ausgeht, Shakespeare sei nie in Italien gewesen, aber es hängt auch damit zusammen. Es hängt weiter damit zusammen, dass Shakespeare in Italien im 16. Jahrhundert war und die Deuter erst drei bis vier Jahrhunderte später zu deuten begannen. Und es hängt schließlich auch damit zusammen, dass ein Deuter unter dem vermeintlichen Zwang steht, die Deutungshoheit zu behaupten, auch wider den Autor. Dabei droht der Deuter zum Enteigner statt zum Aneigner des Textes zu werden. Grundsätzlich soll man, wenn man einem Text keinen Sinn abgewinnen kann, die Prüfung nach beiden Seiten hin durchführen, soll man sowohl die Möglichkeit untersuchen, dass man selber den Text nicht ganz verstanden hat, dass also zum Verständnis etwas fehlt, als auch die Möglichkeit, der Autor habe etwas nicht so richtig gewusst. Der Anstand verlangt, dass man erst die erstere Möglichkeit prüft.

In II.2 und 3 schiffen Proteus und sein Diener Launce von Verona nach Mailand ein. Dass Shakespeare die beiden von Verona nach Mailand per Schiff reisen lässt, ist einer der Beweise die für Shakespeares mangelhafte Kenntnis der italienischen Geographie angeführt worden sind. Wir brauchen uns nicht lange damit aufzuhalten. Es war im 16. Jahrhundert durchaus möglich, auf dem Wasserweg, über ein Netzwerk von Flüssen und Kanälen, per Schiff von Verona nach Mailand zu reisen. Und Roe zeichnet diesen Weg bis ins letzte Detail auf. Das andere Missverständnis vieler Kommentatoren rührt daher, dass sie für das Wort „tide" keine andere Bedeutung gelten lassen als die heutige. Es ist gar daraus - mit großer Gewissheit, wie Deuter oft glauben vorgeben zu müssen - geschlossen worden, Shakespeare habe geglaubt, Proteus würde von Verona auf der Etsch (Adige) erst nach Osten zur Adria und von dort nach Mailand fahren. Shakespeare spricht aber eindeutig von einem Fluss, nicht von einem Meer, während das Wort „tide" nicht zwangsläufig als „Gezeite" zu verstehen ist. „Tide" konnte auch einfach „Zeit", genauer „richtiger Zeitpunkt" bedeuten; um den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen, sollte man die Zeit nicht vertrödeln („to tarry"). Shakespeare selbst benutzt das Wort „tide" einige Male in dieser Bedeutung.

Auch alle anderen vermeintlichen Ungereimtheiten kann Roe ausräumen - durch geduldige, sorgfältige Prüfung, nicht durch voreilige Behauptungen.

DER STURM

Es sollte nicht mehr erlaubt sein, den Sturm zu besprechen, ohne Roes Erkenntnisse zu Rate zu ziehen.

Zunächst stellt Roe fest, dass die Fahrt von Tunis nach Neapel praktisch identisch ist mit der Fahrt des Aeneas von Karthago nach Cumae.  In II.1 schiebt Shakespeare einen Dialog ein, den man als Fußnote zu dieser Parallele betrachten kann:

Adriano: Tunis war noch nie vorher mit solch einem Ausbunde von Königin beglückt.
Gonzalo:  Seit den Zeiten der Witwe Dido nicht.
Antonio: Witwe? Hols der Henker! Was hat die Witwe hier zu tun? Witwe Dido!
Sebastian: wie, wenn er auch Witwer Aeneas gesagt hätte? Lieber Himmel, wie Ihr gleich auffahrt!
Adrian: Witwe Dido, sagt Ihr? Ihr gebt mir da was zu denken: die war ja von Karthago, nicht von Tunis.
Gonzalo: Dies Tunis, Herr, war Karthago.
Adrian: Karthago?
Gonzalo: Ich versichre Euch, Karthago.

Im Buch VIII landet Aeneas auf Vulcanus, heute Vulcano genannt, einer der Liparischen oder Äolischen Inseln vor der Küste Siziliens. Diese Insel Vulcano, so Roe, ist Prosperos Insel. Er weist es nach, in Text und Bild. Sein Fazit: „Kein anderer Ort in der Welt weist die einmalige Kombination von Merkmalen auf, die im Sturm beschrieben sind, und auf der Insel Vulcano vorhanden sind: gelber Sand, heiße Schlammpfuhle, Vulkane, Quellen, Fumarole, Schwefel- und beizende Gerüche, Kiefern, Eichen, Besenheide, Binsenginster, Klippen, Höhlen, Grotten, Maulbeeren, Stachelschweine, Pfuhlschnepfen."

 

Auch seine Deutung des Namens „Kaliban" hat einiges für sich. Der Name ist bisher als Anagramm von „Kannibale" verstanden worden. Kaliban ist jedoch kein Menschenfresser. Er ist ein Ausgestoßener. Genau das ist die Bedeutung des katalanischen Wortes „caliban". Und Katalanen gab es im 16. Jahrhundert auf Sizilien viele.

FLORENZ  - ENDE GUT, ALLES GUT

Nur ein Teil dieses Stückes spielt sich in Florenz ab. Weil sie es vernachlässigt haben, die Ortsverhältnisse zu erkunden, haben spätere Herausgeber falsche  Regieanweisungen eingeführt, die es in der ersten Folioausgabe von 1623 nicht gibt. Seitdem gilt es als akzeptiert, dass sich die fünfte Szene des dritten Aktes vor den Toren von Florenz abspielt. Aus einer Fülle genau recherchierter Details leitet Roe ab, dass sich diese Szene innerhalb der Tore von Florenz abspielt. Auch in Baudissins deutscher Übersetzung warten die Witwe, Diana, Violenta, Mariane und die Bürger vor den Toren von Florenz. Diese Details ersparen wir uns hier. Aber wie Roe den Text dekodiert, ist ein Genuß für jeden, der Geschmack an einem Detektivroman oder einem Tatort findet.  Als Aperitiv: Die Witwe steht in Florenz auf der Ponte alla Carraia (Wagenbrücke)  und hofft, den jungen Helden Bertram zu sehen, wenn er durch die Porta Romana zu der Via dei Serragli reitet und den Fluss Arno genau dort überquert, wo sie steht, nämlich über die Wagenbrücke.

FAZIT

Sechs weitere Stücke werden von Roe auf die Ortsangaben hin überprüft. Es wird ein gewisses Staunen hervorrufen, dass er auch den Sommernachtstraum zu den italienischen Stücken zählt. Sommernachtstraum? Spielt dieses Stück nicht in Athen am Hofe des Theseus? Nicht in Athen, sondern in Sabbonieta nahe Mantua, beweist Roe. Sabbioneta trug den Beinamen Klein-Athen.

Das Buch entlarvt die These, Shakespeare sei nie in Italien gewesen als Mär. Gründlich. Was man ohnehin wusste, so man es nicht unbedingt nicht wissen wollte. Das Nichwissenwollen wird jetzt schwerer, ja schier unmöglich geworden sein.

Die orthodoxe These wird jetzt ein Netz von Wasserwegen zwischen Stratford und Venedig brauchen, vergleichbar jenem zwischen Verona und Mailand im sechzehnten Jahrhundert.

© Robert Detobel 2011