Editorial

Aus der Redaktion einer großen deutschen Tageszeitung gab es im Januar 2014 folgende Antwort:

»ich habe Ihren Artikelvorschlag mit demselben Vergnügen gelesen, wie es mir immer geht, wenn der Earl of Oxford mit dem Barden identifiziert wird. Es gibt ja ein ganzes Buch darüber, bezeichnenderweise von einem deutschen Forscher. Sie fügen noch weitere Belege hinzu, was mich beeindruckt hat. Nur ist die These eben auch etwas zu bekannt, als daß wir damit im Jubiläumsjahr noch überraschen könnten. Deshalb bitte ich um Verständnis dafür, daß wir den Text nicht publizieren werden.«

(Anmerkung: Der Einsender des »Artikelvorschlags« ist kein Mitglied der Neuen Shake-speare Gesellschaft.)

 EIN Buch?

Warren Hope und Kim Holston weisen in The Shakespeare Controversy – An Analysis oft the Authorship Theories (McFarland 2009) ca. 340 Veröffentlichungen, Zeitschrift- und Zeitungsartikel usw. zur Kontroverse nach, darunter seit 1857 nicht weniger als 40 Bücher zur Autorschaftsfrage im allgemeinen und mindestens 15 zur sogenannten »Oxfordthese« im besonderen – natürlich von englischen und amerikanischen Autoren.

EIN Buch eines deutschen Forschers?

Spektrum Shake-speare 2014 nimmt die Veröffentlichung von mindestens 22 deutschen Büchern und Zeitschriftbänden seit dem Erscheinen von Walter Kliers Das Shakespeare Komplott im Jahre 1994 zum Anlass im sogenannten »Shakespeare-Jahr 2014« die jetzt 20-jährige Geschichte deutscher Veröffentlichungen zur »Oxfordthese« als Schwerpunktthema rückblickend zu würdigen und an vier Beispielen zu dokumentieren.

Was aus der Zeitungsredaktion so nonchalant geäußert wurde, zeigt einerseits eine erstaunliche Unkenntnis. – Anderseits fragt man sich, wie es gleichzeitig zu der Einschätzung einer »zu bekannten These« kam. Die deutschen Zeitungen lieferten im April 2014 ein anderes Bild, worauf im Abschnitt »Im Brennpunkt« eingegangen wird.

Dass die Kultusbehörde in Nordrheinwestfalen ausgerechnet im »Shakespeare-Jahr 2014« das Gymnasiale Curriculum weitgehend von Shakespeare säubert, bedeutet einen Kulturbruch der – »passend zu Fest« – leise vollzogen wurde, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen. Leider müssen wir im Abschnitt »Schule und Unterricht« vom diesem »shakespeare-light«-Programm berichten.

Statt »20 Jahre Neue Shake-speare Forschung«, müsste es bei genauer Betrachtung eigentlich in »64 Jahre« heißen: denn schon 1950 erschien im deutschsprachigen Raum das (vermutlich) erste Buch, in dem Edward de Vere als wahrer Autor von Shakespeares Werken vorstellt wurde:

Charlton Ogburn
Der wahre Shakespeare, Edward de Vere, XVII. Earl of Oxford
übersetzt von John R. Mez, Origo-Verlag Zürich, 1950.
(Originaltitel: The Renaissance Man of England, New York, 1947/1949.)

 Schon dieser kleine Band mit nur 46 Seiten stellte die Autorschaft von Edvard de Vere ausführlich genug und mit genügend Material dar, so dass jeder Interessierte sich davon hätte überzeugen können, dass die Autorschaftsfrage gelöst ist.

Das Buch wurde nicht beachtet, was heute allerdings niemand wundern wird. Den Hinweis darauf verdankt die Redaktion Siegfried Seifert, Bad Nauheim.

 Eine weitere frühe deutschsprachige – mehr literarische – Veröffentlichung, sei hier genannt: Mary Lavater-Sloman, Gefährte der Königin, Elisabeth I., Edward Earl of Oxford und das Geheimnis um Shakespeare, Artemis Verlag Zürich und München 1977. (Siehe: Neues Shake-speare Journal, Band 9, 2004, S.166 ff.)

 Auch dies Buch blieb unbeachtet und folgenlos; erst 17 Jahre später entstand dann eine Kette von Veröffentlichungen, die nicht mehr abriss.

 Die erwähnte, unbekannte kleine Schrift von Charlton Ogburn erschien interessanter Weise schon 5 Jahre vor This Star of England (Charlton and Dorothy Ogburn, New York, 1952). Es mussten freilich weiter 32 Jahre vergehen bis sein Sohn, Charlton Ogburn, Jr. mit dem epochemachenden Werk The Mysterious William Shakespeare öffentliche Aufmerksamkeit erreichte.

In den USA wurde dies Buch 1984 durch das Fernsehen einem größeren Publikum bekannt und die Verfasserschaftsfrage war nun nicht mehr zu vertreiben.

Nur als Reaktion auf die durch Ogburns Buch veränderte Lage ist die Fülle an neuen Biographien über den Mann aus Stratford, erklärbar, die seit dem Ende der 90er Jahre von vielen namhaften Shakespeareforschern veröffentlich worden ist.

Es war längst alles geklärt und die biographische Forschung – in ihrer Gründlichkeit unübertroffen – hatte alles zu Tage gefördert hatte: Die Biographie von William aus Stratford war bekannt und es gab keinen Grund, sie erneut zu schreiben. Was blieb, war der unüberbrückbare Abstand zwischen Leben und Werk. Neu war jedoch die zunehmende Bekanntheit von Edward de Veres Leben, dem 17. Grafen von Oxford, und die Theorie, die in ihm den Autor von Shakespeares Werk sieht, der unter dem Pseudonym »Shake-speare« oder »Shakespeare« geschrieben hat.

Die Hochschulforschung war gefordert. Sie antwortete mit einiger zeitlichen Verzögerung – und dann auch nur indirekt durch die genannte Fülle von neuen »Shakespeare«-Biographien:  Jonathan Bate, Park Honan, Stephen Greenblatt, Peter Ackroyd, James Shapiro, Rene Weis, Stanley Wells u. a. auch Bill Bryson – sie alle schrieben in der Absicht, die Frage im Sinne von Stratford endgültig klären zu können.

Unerwartet war unlängst, dass trotz dieser und anderer Abwehrversuche, drei namhafte englische Zeitungen, The Guardian, The Spectator und New Statesman, Debatten über die »Shakespeare-Frage« überhaupt zuließen  – 94 Jahre nach der entscheidenden Entdeckung von John Thomas Looney –. Auch darüber wird hier berichtet. Die Diskussionen fanden in den Internetblogs dieser Zeitungen statt; es zeigte sich dabei aber auch einmal mehr, wie schnell sicher geglaubte soziale Umgangsformen verschwinden und ein Verfall moralischer und ästhetischer Ansprüche eintritt, wenn es durch die Anonymität der Internetforen keine Wiedererkennbarkeit der Akteure gibt.

 Bis zum »Shakespeare-Jahr« 2016 bleit viel zu tun.