Editorial

Im Band 5/2016 hatte Spektrum Shake-speare mit dem Aufsatz »Der Fall Shakespeare und ein durchschnittlicher deutscher Strafprozess« den Lesern die Shakespeare-Autorschaftsfrage aus Sicht eines Strafrechtlers vorgelegt. Der Artikel fand so viel Interesse, dass die Redaktion den zahlreichen Nachbestellungen für den Band nicht nachkommen konnte, und sie hat sich deshalb entschlossen, den Aufsatz in den vorliegenden Band erneut aufzunehmen.

Neuentdeckungen der jüngsten Zeit, die alle ein deutliches Licht auf die Frage nach dem Autor der Werke von »Shakespeare« werfen, bilden den Inhalt von Band 6.

Als das Gesamtwerk aller Shakespeare-Dramen 1623 erschien – unter dem Titel First Folio seitdem bekannt – enthielt es zwar umfangreiche Einleitungen und Widmungen, über »Shakespeare« selber ist darin aber so gut wie nichts zu finden. Wann und wo er gelebt hat, wird nicht gesagt. Zwei kurze Aussagen an verschiedenen Stellen in den Einleitungen wurden dann genommen und zusammen interpretiert: »Sweet Swan of Avon« und »Thy Stratford Moniment«. Es sind die einzigen Hinweise, die auf Stratford-upon-Avon als Ort des Dichters verstanden wurden. Nun gibt es in der Kirche in Stratford tatsächlich ein Wand-Denkmal mit einer Büste, das auf »Shakespeare« hinweist; ein Grab mit seinem Namen gibt es indessen dort nicht. Die Inschrift auf dem Denkmal hat jedoch bis heute keine sinnvolle Deutung erfahren. Sie galt als weitgehend unverständlich. Auch Oxfordianische Forscher haben sich bisher vergeblich um eine stringente Deutung bemüht. Als Alexander Waugh jedoch die beiden lateinischen Anfangszeilen einfach nach den Regeln der lateinischen Grammatik betrachtete, hatte er den Schlüssel zu einer stimmigen Übersetzung gefunden und eine Deutung des ganzen »Moniments« geliefert. Mit einer ebenso überraschenden wie überzeugenden Erklärung für »Avon«, und damit für den »Sweet Swan of Avon«, löste Alexander Waugh fast gleichzeitig auch ein zweites, bisher offen gebliebenes Rätsel der First Folio.

Dass die etablierte Shakespeare-Forschung weit davon entfernt ist, gelassen und entspannt mit der Autorschaftsfrage umzugehen, zeigt sich beispielhaft an vier Themen:

Mit modernen Methoden der archäologischen Forschung wurde fast verzweifelt am vermeintlichen Grab Shakespeares nach Hinweisen auf den Autor gesucht – was erwartet man denn? Das Ergebnis ist vollkommen nichtssagend, aber immerhin brachte es (irreführende) Schlagzeilen in den Medien.

Als ein Erforscher der Geschichte der Botanik ein Bild aus dem Ende des 16. Jahrhunderts fand, das Shakespeare darstellt, und er diese Entdeckung unkompliziert veröffentlichte, war man in Stratford nicht bereit, die Sache in Ruhe zu untersuchen, sondern im Gegenteil bemüht, so schnell wie möglich jeden Bezug zu Shakespeare abzustreiten. Das Bild und der Kontext, in dem es steht, wiesen nämlich nicht nur auf »Shakespeare«, sondern eigentlich auf einen Zeitgenossen hin, der von den etablierten Shakespeare-Forschern am wenigsten gewünscht und am meisten gefürchtet wird. Deutlicher konnten die Hüter der reinen Lehre in Stratford und an den Universitäten kaum zeigen, welche Angst sie vor der Autorschaftsfrage haben und wie wenig sicher sie sich sind, dass der Mann aus Stratford der wahre Autor ist.

Dass von Shakespeare keine schriftlichen Zeugnisse existieren – abgesehen von sechs zweifelhaften Unterschriften –, ist für die Shakespeare-Forscher sehr misslich. So suchen sie Hilfe bei einem Manuskript, das als einziges Überbleibsel ihm zugeschrieben wird – mag diese Zuschreibung auch so wenig gesichert sein wie sie will. Für eine Übersetzung, die publikumswirksam vermarktet wird, ist der zweifelhafte Text dennoch zu gebrauchen. Nachtrag

Da die Zweifler am Stratford-Mythos nicht verschwinden wollen, haben nun führende Herausgeber von Shakespeares Werken eine neue Strategie gefunden: »Shakespeare« wird »erweitert«!

Den Lesern wünscht die Redaktion, dass der vorliegende Band mit den genannten Neuentdeckungen und den vier beispielhaften Themen einen interessanten Lesestoff bietet.