Hamlet und Polonius - de Vere und Lord Burghley

Darauf, dass Shakespeare in Hamlet der Figur des Polonius bestimmte Merkmale Lord Burghleys, des wichtigsten Ministers der elisabethanischen Ära, verliehen hat, ist verschiedentlich hingewiesen worden. John Thomas Looney war nicht der erste, der diese Feststellung traf, wohl aber der erste, der sich ausführlicher damit befasste.

Polonius erteilt Laertes seine Ratschläge unmittelbar vor dessen Abreise nach Paris, und all seine Anweisungen an den Spitzel Reynaldo beziehen sich darauf, wie sich Laertes dort benehmen wird. Jedem, der sich die Mühe gibt, G. Ravenscroft Dennis' Buch The House of Cecil zu lesen, wird klar werden, wie genau sich diese Szene auf Burghleys ältesten Sohn Thomas Cecil übertragen lässt." (Looney, John Thomas, „Shakespeare" Identified in Edward de Vere Seventeenth Earl of Oxford and The Poems of Edward de Vere, Port Washingon, New York, 1975, S. 403).

Thomas war das einzige Kind aus William Cecils erster Ehe mit Mary Cheke, der Schwester des humanistischen Gelehrten John Cheke, die 1543, ein Jahr nach Thomas' Geburt, starb. Looney weiter: „... und all diese Nachforschungen, die Polonius den Spitzel Reynaldo über Laertes' Verhalten anzustellen anweist, ähneln die privaten Auskünfte, die Burghley aus irgendeiner geheimen Quelle über Thomas' Betragen in der französischen Hauptstadt erhielt. Denn er schreibt an Windebank, den Lehrer seines Sohns, dass er 'aus Frankreich Nachricht erhalten hat, dass sein Sohn ihm dort wenig Nutzen erweisen wird, da er seine Zeit in Muße verbringt.' Es erregt Burghleys Misfallen, dass Thomas dem 'Nichtsstun', der 'Extravaganz', 'sorglosen Kleidung' und 'in ungebührlicher Weise ungeeigneten Spielen wie Kartenspiel und Würfeln frönt' und Tanzen und Tennis lernt." (404)

Auch E. K. Chambers fragt in seinem Kommentar zu Hamlet: „Es ist oft angenommen worden, dass Polonius auf Burghley ziele, der Certaine Preceptes, or Directions zur Belehrung seines Sohn Robert Cecil schrieb.  Diese wurden 1618 gedruckt 'nach einer besseren Vorlage als für solche Taschenmanuskripte üblich'. Es ist denkbar, dass Shakespeare ein solches Taschenmanuskript bekannt war, aber Laertes hat weniger Ähnlichkeit mit Robert Cecil als mit Burghleys ältestem Sohn Thomas. Könnte 'Polonius' irgendeinem Spitznamen Burghleys ähneln?" (Chambers, E. K.,  Shakespeare, Oxford 1930, I.418)

Über die Ratschläge Burghleys an Robert Cecil befand der Historiker Joel Hurstfield: „Es ist die authentische Stimme des Polonius" (Hurstfield, Joel, The Queen's Wards: Marriage and Wardship under Elizabeth I, London 1959, S. 257). Allerdings waren solche väterlichen Belehrungen für Söhne keine Seltenheit im 16. und 17. Jahrhundert. Amedeo Quondam stellt Polonius' Belehrung von Laertes in Hamlet, Akt I, Szene 3, auf eine Stufe mit pädagogischen Traktaten wie Stefano Guazzos La Civil Conversazione (1574) und Nicolas Farets l'Honnête homme ou l'art de plaire à la cour (1630) und beschreibt Polonius' Vorschriften als „Ein Katalog genauester Vorschriften, welche die Form des höfischen Diskurses wiedergeben."

                        Und diese Regeln präg in dein Gedächtnis.
                        Gib den Gedanken, die du hegst, nicht Zunge,
                        Noch einem ungebührlichen die Tat.
                        Leutselig sei, doch keineswegs gemein.
                        Den Freund, der dein, und dessen Wahl erprobt,
                        Mit ehrnen Haken klammr ihn an dein Herz.
                        Doch härte deine Hand nicht durch Begrüßung
                        Von jedem neugeheckten Bruder. Hüte dich,
                        In Händel zu geraten: bist du drin,
                        Führ sie, daß sich dein Feind vor dir mag hüten.
                        Dein Ohr leih jedem, wen'gen deine Stimme;
                        Nimm Rat von allen, aber spar dein Urteil.
                        Die Kleider kostbar, wie's dein Beutel kann,
                        Doch nicht ins Grillenhafte: reich, nicht bunt:
                        Denn es verkündigt of die Tracht den Mann,
                        Und die vom ersten Rang und Stand in Frankreich
                        Sind darin ausgesucht und edler Sitte.
                        Kein Borger sei und auch Verleiher nicht;
                        Sich und den Freund verliert das Darlehn oft,
                        Und Borgen stumpft der Wirtschaft Spitze ab.
                        Dies über alles: sei dir selber treu.
                        Und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage,
                        Du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.

... Fallbeispiele für das Vorherrschen der „Anmut", der „Sprezzatura", des „vernünftigen Urteilens", auf keinen Fall „Übermaß", das dazu führt, dass man „unverhältnismäßig", „gemein" wird, die Kleidung soll nicht „grillenhaft", „reich", aber nicht „bunt" sein. Fallbeispiele der Verstellung als wesentliche Form der Kommunikation und des sozialen Verhaltens: „Gib den Gedanken, die du hegst, nicht Zunge", „Dein Ohr leih jedem, wen'gen deine Stimme"... Vorherrschen eines Diskurses, dessen „Kunst" nach dem „So-und-nicht-so"-Muster gewoben wird: die Kunst des Sagens und Nichtsagens, geleitet vom „vernünftigen Urteilen". (Quondam, Amedeo, „La «forma del vivere». Schede per l'analisi del discorso cortigiano"in Prosperi, Adriano, La Corte e il "Cortegiano". II - Un modello europeo, Roma 1980, S. 28. ) Von der Kunst des Sagens und Nichtsagens wird am Ende dieses Abschnittes ein Beispiel gegeben.

Die Ratschläge, die Burghley seinem Sohn Robert gibt, stimmen nur zu einem geringen Teil mit denen des Polonius überein. „Wähle mit Bedacht und Umsicht ein Weib", „mäßige deine Gastfreundschaft und halte sie im Verhältnis zu deinem Vermögen, eher großzügig als sparsam, aber nicht verschwenderisch", „banne schweinische Trunkenheit aus deinem Hause", „Erziehe deine Kinder in Bildung und Gehorsam. Lobe sie offen, tadele sie insgeheim", „Und erlaube deinen Söhnen nicht über die Alpen zu ziehen: denn sie werden dort nichts anderes als Stolz, Gotteslästerung und Atheismus lernen. Und wenn sie von den Reisen einige wenige gebrochene Sprachen mitbringen, wird ihnen das nicht mehr nutzen, als wenn man ihnen Fleisch in verschiedenen Schüsseln vorsetzt." Das höfische „So-und-nicht-so"-Muster, auf das Amedeo Quondam bei Polonius hinweist, ist auch hier deutlich erkennbar.

Aber wenn Quondam Recht hat und dies die typische Form der höfischen Maxime ist, dann büßen die Belehrungen des Polonius als Beweismittel für eine Anspielung auf Lord Burghley an Wirksamkeit ein. Lesen wir Lord Burghleys Satz über das Unnütze von Auslandsreisen und Fremdsprachen im Original: „And if by travel they get a few broken languages, they will profit them not more, than to have meat served in divers dishes", so finden wir fast den gleichen Satz wieder in John Lylys Roman Euphues and His England: „having nothing for amends but a few broken languages, which served me in no more steede, then to see one meat served in divers dishes". Lylys Roman erschien 1580, einige Jahren bevor Lord Burghley seinem Sohn Robert die Ratschläge erteilte. Und wenn wir uns dem anderen herausragenden euphuistischen Schriftsteller, Robert Greene, zuwenden, so finden wir in mehr als einem seiner Werke ähnliche Reihen moralischer Grundsätze. Da Polonius seinen Sohn Laertes vor dessen Abreise nach Paris belehrt, wählen wir aus Robert Greenes Werk das der Situation in Hamlet am nächsten kommende Beispiel. In Greene's Mourning Garment (1590 erschienen) belehrt ein Rabbiner seinen Sohn vor dessen Reise. Reisen in fremde Länder könnten nur Ungutes bewirken, meint der Rabbiner.

„Auf Kreta musst du lügen lernen, in Paphos [Heiligtum der Aphrodite auf Zypern] ein Liebhaber zu sein, in Griechenland musst du dich zu verstellen lernen, aus Spanien bringst du nur Stolz nach Hause, aus Italien Liederlichkeit, aus England Fresssucht und aus Dänemark Trunksucht."

Dann folgen 11 Maximen:

1. Fürchte Gott und lass ihr ganzes Handeln von ihm leiten...; 2. Sorge dich dann um deine eigene Sicherheit...; 3. Sei höflich zu jedem, beleidige keinen...; 4. ...Verberge all deine Gedanken auf dem Boden deines Herzens und rede privat nie mehr als das, was du öffentlich bekannt machen wünschtest; 4. Trau dem Lächelnden nicht, denn er verbirgt einen Dolch im Ärmel...; 6. Sei nicht zu freigiebig,... aber auch nicht knauserig, denn Sparen entehrt manchmal; 7. Wer wenig sagt, zeigt große Weisheit, aber höre soviel du kannst, denn du hast zwei Ohren; 8. Gebe nicht über dein Geld an, sondern gib vor, dass es dir daran mangelt: denn die Beute macht den Dieb; 9. Berausche dich nicht am Wein, denn sonst gibst du all deine Geheimnisse preis; 10. Würfele nicht, denn damit saugst du dein Vermögen aus...; 11. Nimm dich in Acht vor Frauen, mein Sohn, denn sie ziehen an wie Magnete, sie sind anlockende Panther und verführerische Sirenen...".

Nun kommt bei Lord Burghley hinzu, dass er seine Schützlinge, wie immer diskret, bespitzeln ließ, und zwar nicht nur den eigenen Sohn Thomas, sondern zum Beispiel auch den jungen Grafen von Southampton durch dessen Italienischlehrer John Florio. Der Ausdruck „bespitzeln" mag allzu negativ besetzt sein: aber Lord Burghley wünschte seine Mündel doch so eng wie möglich an die Kandare zu nehmen. Es wäre verkehrt, Burghley als einen Frühbürgerlichen zu betrachten, denn er war fest davon überzeugt, dass nur die Aristokratie zum Regieren berufen sei. Dem demokratischen Regime in den Niederlanden - er nannte es etwas verächtlich eine „populäre" Regierung - stand er misstrauisch gegenüber, im Übrigen nicht anders als Sir Francis Walsingham. Was Burghley nicht war, ist ein Anhänger der zum Teil auch noch im 16. Jahrhundert bildungsfeindlichen Feudalaristokratie. Seine Anschauungen über das, was eine Aristokratie zu sein hatte, lassen sich wohl am besten durch Ciceros Wort auf den Begriff bringen: cedant arma togae, die Waffen sollen der Toga weichen. Oder noch anders ausgedrückt: er wünschte die noblesse d'épée durch eine noblesse de robe abzulösen. Deshalb hat er sich bemüht, die akademische Ausbildung der Adeligen als gesetzliche Verpflichtung festschreiben  zu lassen - was ihm nicht gelang.  Und das war vermutlich auch der Grund, weshalb er die minderjährigen vaterlosen Söhne aus den angesehensten Adelshäusern als Mündel der Königin in sein Haus aufnahm: die Grafen von Rutland, Oxford, Bedford, Essex und Southampton. Sie alle erhielten eine ausgezeichnete Ausbildung. Einige von ihnen rebellierten. Essex, Southampton und teilweise auch Rutland beteiligten sich 1601 an der Rebellion, die als primäres Ziel hatte, Burghleys Sohn Robert (Burghley selbst war zweieinhalb Jahre vorher gestorben) von den Hebeln der Macht zu vertreiben. Das Verhältnis zu Oxford artete zwar nie zur gewalttätigen Aggression aus, war jedoch bereits früh gespannt. Auch Oxford hat er wohl bespitzeln oder beobachten lassen:

In einem Brief vom 17. März 1575 aus Paris an Burghley schreibt Oxford:

„I thank your Lordship I have receiued farther bills of credit, and letters of great courtesy from Mr Benedict Spinola. I am also beholding here unto Mr Reymondo, that hath helped me greatly with a number of favours whom I shall desire your Lordship when you have leisure and occasion to give him thanks, for I know the greatest part of his friendship towards me hath been in respect of your Lordship."

„Ich danke Eure Lordschaft für den Erhalt weiterer Kreditbriefe und sehr höflicher Briefe von Herrn Benedikt Spinola. Ich bin auch Herrn Reymondo verpflichtet, der mir mit einigen Gunsterweisen sehr geholfen hat, weshalb ich Eure Lordschaft, falls Ihr Muße und Gelegenheit dazu findet, bitte, ihm zu danken, denn ich weiß, dass der größte Teil seiner Freundschaft für mich Eurer Lordschaft gilt."

Hier haben wir denn ein Beispiel, ein ausgezeichnetes, des „Sagens durch Nichtsagen". Herr Reymondo hat also Oxford große Dienste geleistet, aber Oxford hat ihm dafür nicht gedankt, er bittet Burghley auch nicht, Reymondo seinen, Oxfords Dank auszurichten, sondern er bittet Burghley, falls er Zeit dafür hat, er, Burghley, möge sich bei Reymondo bedanken, denn schließlich diente er eher Burghley als Oxford.

Was den deutlich-versteckten Vorwurf enthält, Burghley habe Herrn Reymondo ihm, Oxford, Dienste erweisen lassen, damit Reymondo ihn beobachtet und Burghley über sein Verhalten in Paris berichtet.

Die reale Situation Oxfords in Paris ist das Abbild der Situation des Laertes, und gar - es dürfte kein Zufall sein - die Namen der Spitzel klingen ähnlich: in der Realität Reymundo, in Hamlet Reynaldo.

Fortsetzung: Teil 2