de Vere und Lord Burghley -Teil 3 Polonius - Corambis

Am 26. Juli 1602 meldet der Drucker James Roberts Hamlet zum Druck an. Roberts wird das Stück jedoch erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1604 drucken. Geschlossen werden kann das aus dem Umstand, dass die Mehrzahl der Exemplare zwar als Druckjahr 1604 aufweisen, einige jedoch auch das Jahr 1605. Diese Ausgabe nennt man das zweite Quarto (Q2). Verleger ist Nicholas Ling. In der Zwischenzeit, 1603, erscheint das Stück jedoch in einer stark gekürzten Fassung. Der Drucker ist nicht James Roberts, sondern Valentine Simmes (oder Sims). Verleger sind John Trundle und Nicholas Ling. Wieso Trundle und Ling 1603 das Stück veröffentlichen konnten (erstes Quarto bzw. Q1), obschon das Verlagsrecht entweder bei Roberts oder, falls er es bereits an Ling übertragen hatte, bei letzterem, hat die etablierte Forschung nie erklären können. Erklärt ist es in Wie aus Shaxpere Shakespeare wurde (NSJ, Band X, 2005) und in Shakespeare: The Concealed Poet (2010). Diese Frage wird uns im übernächsten Beitrag beschäftigen.

Gegenstand dieses Beitrages ist: Warum sind diese beiden Versionen, Q1 und Q2, derart unterschiedlich und warum sind die Namen der dramatischen Personen teilweise völlig verändert worden?

Die Fassung Q2 ist fast doppelt so lang wie Q1, sie enthält gar 200 Zeilen mehr als die 1623 in der Folioausgabe erscheinende Fassung. Q1 ist stilistisch auch merklich dürftiger. In Q1 ist Hamlets Monolog „Sein oder Nichtsein" 23 Zeilen lang (und steht außerdem an anderer Stelle), in Q2 34 Zeilen. Ein knapper Vergleich:

Q1 (1603)

Q2 (1604)

To be, or not to be, I there's the point

To be ,or not to be, that is the question

Die Zeilen 57-59 und die Hälfte der Zeile 60 fehlen.

 

To die, to sleep, is that all? I all:

              To die - to sleep,

Zeilen 61-64 fallen fort.

 

No, to sleepe, to dreame, I mary there it goes,

To sleep, perchance to dream - ay, there's the rub:

For in that dreame of death, when wee awake,

For in that sleep of death what dreams may come,

Zeilen 66-77 fallen fort.

 

And borne before an everlasting Judge,

Für diese Zeile keine Entsprechung.

From whence no passenger ever return'd,

The undiscover'd country, from whose bourn

The undiscover'd country, at whose sight

No traveller returns, puzzles the will,

The happy smile, and the accursed damn'd.

And makes us rather bear those ills we have

Es ist schwer vorstellbar, dass der gleiche Dichter den Monolog in Q1 und Q2 geschrieben hätte, und es drängt sich hier bereits die Frage auf, ob Q1 nicht eine vom Schauspielerensemble für Aufführung auf der öffentlichen Bühne angepasste Version ist. Außerdem sind die Namen anders:

Q1 (1603)

Q2 (1604)

Gertred

Gertrude

Corambis

Polonius

Leartes

Laertes

Fortenbrasse

Fortinbras

Rossencraft

Rosencrantz

Gilderstone

Guildenstern

Montano

Reynaldo

A braggart gentleman

Osric

Die Unterschiede Gertred/Gertrud, Leartes/Laertes, Fortenbrasse/Fortinbras fallen innerhalb des Bereichs solcher Variationen, die man auf Druckfehler zurückführen kann, wie sie für die Zeit nicht ungewöhnlich waren; die Unterschiede Corambis/Polonius, Rossencraft/Rosencrantz, Gilderstone/Guildenstern und Montano/Reynaldo sind jedoch Änderungen, die man entweder auf den Verfasser oder auf die Schauspieler zurückführen muss.

Oder anders gefragt: Ist Q1 eine ältere, später vom Autor überarbeitete Fassung oder eine von den Schauspielern, in Absprache mit dem Verfasser oder nicht, angepasste Fassung? Diese Frage wird in Teil 4 behandelt.

Wozu diese Änderungen?

Corambis und Lord Burghley

1975 verband J. Valcour Miller den Namen Corambis in doppelter Weise mit Lord Burghley („Corambis, Polonius, and the Great Lord Burghley in Hamlet" in Miller, Ruth (Hsgb.), Oxfordian Vistas, Port Washington, 1975, S. 430-447).

Lord Burghley war Vorsitzender des „Court of Wards", des Mündelgerichts, das nicht nur Recht in Fällen zu sprechen hatte, die minderjährige Aristokraten betrafen, deren Vater gestorben war und nach feudaler Auffassung damit zum Mündel des Herren wurden, in diesem Fall der „Herrin" Elisabeth I. Zwar waren vom Feudalismus im 16. Jahrhundert allenfalls noch Reste übrig geblieben und die Institution der „Wardship" auf der Herr-Vasall-Ebene im Verschwinden begriffen, aber Heinrich VIII., der dieses Mündelgericht ins Leben gerufen hatte, hatte sie wieder belebt, weil er darin ein Mittel sah, die Einnahmen der Krone zu steigern.

Es gab jedoch noch eine zweite Art Mündel: die „lunatics and idiots", die geistig Verwirrten und Idioten, deren die Rechtsgeschäftsfähigkeit entzogen worden war. Auch für diese war die „Court of Wards" und daher in letzter Instanz Lord Burghley zuständig. Das Lansdowne-Manuskript, Nr. 99, enthält eine ganze Reihe von Eingaben an ihn, von denen hier zumindest einige wenige erwähnt werden sollen:

  • „Miles Fry, ein Verrückter (der sich selbst Manuel Plantagenet nennt), behauptet, als Botschafter Gottes zu der Königin zu kommen;... er sei der Sohn Gottes und der Königin, sei jedoch von seiner wahren Mutter durch den Engel Gabriel getrennt worden, der ihn für eine gewisse Zeit bei einer Mrs. Fry untergebracht habe."
  • „William Hoby bittet um die Genehmigung Lord Burghleys, den Teufel und seiner Dame aus der Schatzkammer des Schlosses Skemfrith auszutreiben."
  • „Henry Carter, ein Wahnsinniger, bittet Lord Burghley um die Genehmigung, Mr. Richard Handforth zu verhaften, den er aufs bitterste beschimpft."
  • „Hugh Rushe, alias Rowse, ein Wirrkopf, schickt Lord Burghley seinen Stammbaum und fordert die seiner hohen Abstammung zustehenden Ehren und Bezüge."

Man weiß nicht, wie Lord Burghley Verrücktheit definierte, aber man wird sich nicht wundern dürfen, wenn seine diesbezüglichen Ansichten denen des Polonius entsprachen: „Eur edler Sohn ist toll,/Toll nenn ichs: denn worin besteht die Tollheit,/Als daß man gar nichts anders ist als toll?" (II.2).

Lord Burghley hatte demnach darüber zu befinden, ob jemand verrückt war oder nicht. Folglich, argumentiert Valcour Miller, musste Burghley auch darüber befinden, wenn einer, dem man den Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und die Rechtsgeschäftsfähigkeit abgesprochen hatte, Antrag stellte, dieses Urteil aufzuheben. Einen Antrag an ein Gericht, gleich welches Gericht, auch das Mündelgericht, ein von ihm gefälltes Urteil selber rückgängig zu machen wird „writ of coram nobis" („coram nobis" heißt „vor uns") genannt. Corambis, schließt Miller, ist eine Kontraktion von „coram nobis".

In einem gewissen Sinne kann man in Polonius einen fernen Vorläufer einer noch nicht so langen vergangenen Spielart der klinischen Psychiatrie erkennen. Denn auch diese hatte keinen anderen Begriff von „Verrücktheit" anzubieten, als dass man „eben nichts anderes ist als verrückt". Den Rest des klinischen Nachweises besorgte dann ein ausgetüfteltes taxonomisches System, wie es in einem Lehrbuch der fünfziger Jahre, dessen Verfasser man lieber diskret nicht beim Namen nennt, zu finden ist:

„I. Einfach-systematische Schizophrenien
    a) katatone Formen
1. Parakinetische Katatonie: 2. Manierierte Katatonie; 3. Proskinetische Katatonie; 4. Negativistische Katatonie", usw.
Die jugendlichen Schizophrenen, die Hebephrenen, müssen mit ungelehrteren, volksnäheren Bezeichungen vorliebnehmen:
     b) Hebephrene Formen
1. Läppische Hebephrenie; 2. Verschrobene Hebephrenie; 3. Flache Hebephrenie; 4. Autistische Hebephrenie", usw.

Was ist Parakinese? Ein ungeordneter, etwas läppischer Bewegungsablauf. Was heißt Manierismus? Manierismus heißt ungefähr: Verschrobenheit. Was heißt Proskynese? Proskynese bedeutet Fußfall - flacher geht es nicht. Was heißt „negativistisch"? Negativistisch ist eine asoziale Verhaltensweise, wie sie u. a. bei Autisten festzustellen ist.

Doch es wird weiter eingeteilt:

„II. Kombiniert-systematische Schizophrenien
a) kombiniert-systematische Katatonien" und „b) kombiniert-systematische Hebephrenien".

Und analog macht es Polonius bei der Aufzählung der verschiedenen literarischen Genres (II.2):

„Die besten Schauspieler in der Welt, sei es für Tragödie, Komödie, Historie, Pastorale, Pastoral-Komödie, Historiko-Pastorale, Tragiko-Historie, Tragiko-Komiko-Historiko-Pastorale."

Millers Ableitung des Namens Corambis besitzt den Vorzug, sowohl einen thematischen Akkord zum Stück als eine assoziative Verbindung zu Lord Burghley herzustellen. Denn Wahnsinn ist eines der wichtigen Themen in Hamlet. Hauptkontrahenten auf diesem thematischen Feld sind Hamlet und Corambis bzw. Polonius. Es ist Corambis/Polonius, der bei Hamlet Wahnsinn diagnostiziert. In der Wirklichkeit des elisabethanischen Staates lag die ultime Entscheidung, ob jemand verrückt war oder nicht, bei Lord Burghley als oberstem Richter des Mündelgerichts.

Von hierher ergibt sich eine Parallele zum Verhältnis zwischen Edward de Vere und Lord Burghley. Am 30. Oktober 1584 schreibt Oxford an Burghley:

„And I think very strange that your Lordship should enter into that course towards me, whereby I must learn that I knew not before, both of your opinion and good will towards me. But I pray, my lord, leave that course, for I mean not to be your ward nor your child, I serve her majesty, and I am that I am, ... and scorn to be offered that injury, to think I am so weak of government as to be ruled by servants, or not able to govern myself."

„Und ich halte es für sehr seltsam, daß Eure Lordschaft auf diese Weise mit mir verfährt, wobei ich erfahren muss, was mir bisher nicht bekannt war, weder was Eure Meinung von mir noch was Euer Wohlwollen mir gegenüber betrifft. Aber ich bitte, Milord, verlasst diesen Weg, denn ich habe nicht vor, Euer Mündel oder Euer Kind zu sein. Ich diene Ihrer Majestät - und ich bin, der ich bin, ... und ich verachte es, wenn man mir unterstellt, so wenig Herr meiner selbst zu sein, dass ich meine Diener über mich walten lassen müsste und nicht meine eigenen Geschicke lenken könnte."

Weder Burghleys Mündel noch sein Kind wolle er sein, schreibt Oxford. Was kann er damit gemeint haben? Oxford war Burghleys Mündel gewesen, von 1562 bis 1571. Jetzt aber schreiben wir dreizehn Jahre später: Oxford ist vierunddreißig Jahre alt. Und offenbar geht Burghley davon aus, dass Oxford nicht in der Lage ist, seine materiellen Angelegenheiten ordentlich zu regeln. Sicherlich nicht gemäß dem, was Burghley für ein vernünftiges Wirtschaften hält. Und obwohl er aus Oxfords Antwort im Brief vom 3. Januar 1576 an ihn bereits hätte entnehmen müssen, dass sein Schwiegersohn eine andere Philosophie vertrat: „das Mein ist da, um mir und meinem Selbst zu dienen und nicht dem Mein", beklagt Burghley zwei Jahre später immer noch Oxfords Unbekümmertheit in Geldfragen. In einem Brief vom 21. Juni 1586 an Sir Francis Walsingham, in dem er nachfragt, ob dieser bei der Königin zugunsten Oxfords schon was erreicht habe (fünf Tage später wird Oxford die jährliche Zuwendung von 1000 Pfund gewährt), schreibt er, dass Anne Cecil, Gräfin von Oxford, „sich mehr über die Bedürftigkeit ihres Gatten sorgt als er selbst".

„Das Mein ist da, um mir und meinem Selbst zu dienen und nicht dem Mein". Das erinnert - der Vergleich sei erlaubt - doch ein wenig an den römischen Kaiser Nero. „Dreckige Geizhälse, sagte er, seien die, welche über ihre Ausgaben Buch führten, aber feine und wirklich prächtige Menschen die, welche ihr Vermögen verschwenden und durchbringen." (Sueton, Leben der Caesaren, München 1980, S. 249). In den Augen Neros wäre Edward de Vere zumindest ein leidlich feiner Mensch gewesen. Denn der Satz, den Oxford im Januar 1576 Lord Burghley schrieb, er hätte auch von Nero stammen können. Kaiser Nero war alsbald zu der Einsicht gekommen, dass der Staatsschatz vor allem für die eigene ästhetische Selbstverwirklichung da sei. Möglicherweise hat Oxford auch Girolamo Cardanos Encomium Neronis, die 1562 verfasste Lobrede auf Nero, gelesen.

Auch für Shakespeare hatte das Ästhetische absoluten Vorrang. „Shakespeare wird nie eine Wahrheit anerkennen, die nicht ästhetisch ist; Wahrheit selbst ist immer ästhetisch", schreibt Helen Vendler in ihrem Kommentar zu Sonett 54.

Oxford mag sich einer gewissen künstlerischen Verwandtschaft mit Nero bewusst gewesen sein.

Hamlet war sich auf jeden Fall dessen bewusst („Let not ever the soul of Nero enter this firm bosom"). Vielleicht auch, wenn er Horatio beschwört, der Nachwelt die Wahrheit über ihn mitzuteilen.

Lord Burghley mag weiter Oxford für nicht so „übergeschnappt" gehalten haben wie Polonius Hamlet, aber er hielt ihn mindestens für „überdreht".

Corambis und Lord Burghleys lateinisches Motto

Es war meines Wissens Gerald W. Phillips, der 1936 zum ersten Mal den Namen Corambis auf Burghleys lateinisches Motto „cor unum, via una" („ein Herz, ein Weg") zurückführte. Wobei dann Shakespeare das „una" durch „ambi", „nach beiden Richtungen", ersetzte, so dass der Name Corambis das Motto ins Gegenteil verkehrt: „ ein Herz, beide Wege". Auch das würde zu Polonius wie zu Burghley passen. Wenn er seinem Sohn Laertes vor sich hat, appelliert er vertrauensvoll an dessen individuelles Gewissen, doch kaum hat Laertes ihm den Rücken zugewendet, schickt er den „Kontrolleur" Reynaldo hinterher. Da haben wir denn auch noch den Hauch eines modernen pater patriae, Lenin: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser".

© Robert Detobel 2010

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