Rosencrantz/Rossencraft, Guildenstern/Gilderstone
So gleichlautend die Namen auch erscheinen mögen, so können die Unterschiede in Q 2 und Q 1 doch nicht durch eine etwaige fehlerhafte stenografische Niederschrift eines „Reporters" oder durch Druckfehler wegerklärt werden.
Es liegt nahe, den Namen „Rossencraft" als Metapher für physische Stärke, Muskelkfraft, Pferdekraft gleichsam, aufzufassen und den Namen „Gilderstone", „Güldenstein" oder „Goldstein" als Metapher für materiellen Reichtum. Man könnte dabei auf die 21. Strophe von Lucrezias Schändung verweisen (Übersetzung von Friedrich Bodenstedt):
Das Streben aller ist, in alten
Tagen
Wohltätig, sorglos und geehrt zu
leben;
Alle für eins und eins für alles
wagen,
Wie stets bei diesem oft
gekreuzten Streben.
Um Ehre wird das Herzblut
hingegeben
Im Kampf; in Reichtum Ehre, und so
stirbt
In Schande, wer voll Gier um
Schätze wirbt.
„Rossencraft" stünde dann für die im Kampf erworbene Ehre, „Gilderstone" für das Streben nach Reichtum.
Allein stehen einer solchen Deutung zwei Einwände entgegen. Erstens ist das Wort „Ross" für „Pferd" ein deutsches und kein englisches Wort und ist auch das englische Wort „craft" nur entfernt mit „Kraft" verwandt. Der zweite und eher noch wichtigere Einwand ist, dass Rossencraft sowenig mit „Kraft" in der 1603 gedruckten Version von Hamlet zu tun hat wie Gilderstone mit Reichtum. Es lässt sich keine sinnvolle Beziehung zwischen den Namen Rossencraft und Gilderstone und ihrem jeweiligen Part im Stück nachweisen.
Die Erklärung dürfte prosaischer sein: Es handelt sich um Verballhornungen der Namen Rosencrantz und Guildenstern, jedoch nicht aufgrund von Hör-, Schreib- oder Druckfehlern, sondern der Zensur wegen. Es genügt zu wissen, dass Rosenkrantz und Gyldenstjerne, in der englischen Schreibweise Rosencrantz und Guildenstern, die Namen zweier wirklich existierender dänischer Adelshäuser sind, die im 16. und 17. Jahrhundert in der zentralisierenden dänischen Monarchie (bis 1660/61 Wahlkönigtum) eine bedeutende Rolle spielten. Der Name Gyldenstjerne (oder Gyldenstierne) findet sich auch in Schweden. „Am 4. April 1561 stattete der schwedische Kanzler, Nils Guilderstern, im Auftrag seines Königs Erik (der an einer Heirat interessiert war) dem Hof einen Besuch ab", um Näheres über die Jungfräulichkeit Elisabeth' zu erfahren (Johnson, Paul, Elizabeth I, a study in power and intellect, London 1974, S. 116). Doch in Hamlet handelt es sich offenbar um die dänischen Adelshäuser. Von den Vettern Frederik Rosenkrantz und Knud Gyldenstjerne ist bekannt, dass sie in den 1590er Jahren in London waren und außerdem in Wittenberg studierten. Doch hat Shakespeare sie gemeint? „Shakespeares Rosencrantz und Guildenstern werden richtig als Hamlets Kommilitonen an der Universität Wittenberg, 1502 gegründet, dargestellt. Das Universitätsverzeichnis weist die Namen aus von Nicholas Rosenkrantz (1528), Jørgen Rosenkrantz (1540), Frederik Rosenkrantz (1586), Holger Rosenkrantz (1592), Franz Gyldenstjerne (1558), Gabriel Gyldenstjerne (1573), Knud Gyldenstjerne (1590). Zu Recht bringt Shakespeare die beiden Namen zusammen, denn das Dänische Biographische Lexikon erwähnt viele Ehen zwischen beiden Familien." (Sykes, Claud W., The Character of Hamlet, New York 1972, S. 764 ff.) Richtet man sich nach diesen Jahreszahlen, scheinen Frederik Rosenkrantz und Knud Gyldenstjerne die plausibelsten Kandidaten zu sein. Da jedoch in Dänemark eine Vielzahl Adeliger die Namen Rosenkrantz und Gyldenstjerne trugen und Dänemark zudem die lutherische Religion als Staatsreligion übernommen hatte, ist anzunehmen, dass noch mehr Sprösse dieser Familien an der Universität Wittenberg studierten. Und über ihr Studium in Wittenberg hinaus erfahren wir aus Shakespeares Stück keine konkreten Lebensdaten, so dass ungefähr jeder Rosenkrantz und jeder Gyldenstjerne in Frage kommen könnte.
Damit können wir jetzt die Frage nach der genauen Identität von Hamlets Kommilitonen beantworten: Sie haben keine eigene Identität. Gewissermaßen bilden sie als protestantische Höflinge das Gegenstück zum „protestantischen Humanisten" Horatio. Goethe hatte die Antwort auf die Frage nach der Identität der beiden im fünften Buch von Wilhelm Meisters Lehrjahre bereits gegeben.
„Ferner hatte Wilhelm in seinem Stücke die beiden Rollen von Rosenkranz und Güldenstern stehen lassen. 'Warum haben Sie diese nicht in eine verbunden?', fragte Serlo; 'diese Abbreviatur ist doch so leicht gemacht.' 'Gott bewahre mich vor solchen Verkürzungen, die zugleich Sinn und Wirkung aufheben!', versetzte Wilhelm. 'Das, was die beiden Menschen sind und tun, kann nicht durch einen vorgestellt werden. In solchen Kleinigkeiten zeigt sich Shakespeares Größe. Dieses leise Auftreten, dieses Schmiegen und Biegen, dieses Jasagen, Streicheln und Schmeicheln, diese Behendigkeit, dieses Schwänzeln, diese Allheit und Leerheit, diese rechtliche Schurkerei, diese Unfähigkeit, wie kann sie durch einen Menschen ausgedrückt werden? Es sollten ihrer wenigstens ein Dutzend sein, wenn man sie haben könnte; denn sie sind bloß in Gesellschaft, sie sind die Gesellschaft.'" (Goethe, GW Band II, Hamburg 1965, S. 299-300) .
Gleich ein Dutzend von ihnen wollte Goethe haben. Er hätte in Dänemark dieses Dutzend leicht haben können. Und vielleicht mehr als ein Dutzend Rosencrantzen und Güldensternen.
In der für ihn so kennzeichnenden Konzision und Präzision drückt Shakespeare die Austauschbarkeit von Rosenkrantz und Guildenstern gleich bei ihrem allerersten Auftritt aus:
König: Dank,
Rosenkranz und lieber Guildenstern!
Königin: Dank,
Güldenstern und lieber Rosenkranz! (II.2)
Rosencrantz und Guildenstern verkörpern einen gesellschaftlichen Typus, den man heutzutage als Normopath bezeichnen würde. Zu Shakespeares Zeiten war dies der Typus des kriecherischen, schmeichelnden Höflings in einem Gesellschaftssystem, das an der Person des absoluten Monarchen ausgerichtet war. Hegel hat die Haltung eines solchen Höflings als „Heroismus der Schmeichelei" bezeichnet.
Das überragende Motto dieser Gesellschaft war der „goldene Mittelweg". Die Familie Francis Bacons führte es gar als eigenes Motto: mediocria firma, „der Mittelweg ist der sicherste". Nur wird er, wenn alle sich auf ihn drängen, die alte mediocria rasch zu Mediokrität ausgetreten. Dort sind Rosencrantz und Guildenstern gelandet:
Rosencrantz: Wie
mittelmäß'gen Söhne dieser Erde.
Guildenstern: Glücklich,
weil wir nicht überglücklich sind.
Wir sind der Knopf nicht auf Fortunas Mütze.
Hamlet: Noch
die Sohlen ihrer Schuhe?
Rosencrantz: Auch
das nicht, gnäd'ger Herr.
Hamlet: Ihr
wohnt also in der Gegend ihres Gürtels, oder im Mittelpunkt ihrer Gunst?
Guildenstern: Ja,
wirklich, wir sind mit ihr vertraut. (II.2)
Die Gefahr, die darin bestand, dass in einem auf die Person des Fürsten zentrierten höfischen System Schmeichelei und Mittelmäßigkeit zu den Haupttugenden des sozialen Erfolgs würden, war auch schon von Baldesar Castiglione im Buch vom Hofmann erkannt worden. In Hamlet vertreten Rosencrantz und Guildenstern nicht nur den durch Anpassung abgeschliffenen golden Mittelweg, sondern formulieren auch den Machtkreislauf der absoluten Monarchie (in Q1 fehlen diese Stellen allesamt):
Guildenstern: Wir wollen uns bereiten
Es ist gewissenhaft, heil'ge
Furcht,
Die vielen, vielen Seelen zu
erhalten,
Die Eure Majestät belebt und
nährt.
Rosencrantz: Schon das besondre,
einzle Leben muß
Mit aller Kraft und Rüstung des
Gemüts
Vor Schaden sich bewahren, doch
viel mehr
Der Geist, an dessen Heil das
Leben vieler
Beruht und hängt. Der Majestät
Verscheiden
Stirbt nicht allein; es zieht
gleich einem Strudel
Das Nahe mit. Sie ist ein mächtig
Rad,
Befestigt auf des höchsten Berges
Gipfel,
An dessen Riesenspeichen tausend
Dinge
Gekittet und gefugt sind; wenn es
fällt,
So teilt die kleinste Zutat und
Umgebung
Den ungeheurn Sturz. Kein König
seufzte je
Allein und ohn ein allgemeines
Weh. (III.3)
Allzu weit von der Wirklichkeit war Rosencrantz' Beschreibung nicht. Bei einem Thronwechsel in der absoluten Monarchie wurde oft das Personal ausgewechselt. Es rollten Köpfe, nicht immer bloß in übertragenem Sinne. Kaum sechzehn Monate König, opferte Heinrich VIII. im August 1610 zwei der einflussreichsten Minister seines Vaters, Sir Edmund Dudley und Sir Richard Empson, dem Popularitätsgebot, das sich dem absoluten Monarchen bei Antritt seiner Regierung ebenso stellte wie heute vor der Wahl eines zum Regieren angetretenen Premierministers. Dudley und Empson wurden enthauptet. Beim Tod des Monarchen, äußert Rosencrantz, droht das ganze Machtgefüge, das in ihm sein Zentrum hat, aus den Fugen zu geraten.
Aber mit den Namen Rosencrantz und Guildenstern verband sich im befreundeten protestantischen Dänemark eine ganze Schar politisch einflussreicher Persönlichkeiten, die unverschleiert auf einer öffentlichen Bühne aufzuführen von der Zensur nicht geduldet werden konnte. Als Rossencraft und Gilderstone war es möglich.
Wir haben damit auch ein gutes Beispiel, wie Zensuren und Tabus umgangen werden konnten. Ein „Ross" ist keine „Rose", eine „Kraft" kein „Kranz", ein „Stein" kein „Stern" (Stjerne), aber gleichzeitig klingen die Ersatzwörter den ersetzten so ähnlich, dass auch die Erkenntnis sich nur unweit vom Gemeinten entfernt.
Damit ist die Antwort auf die Frage, ob Q1 die frühere Fassung und Q2 die spätere darstellt weder in der einen noch in der anderen Richtung endgültig beantwortet. Denn das Bühnenstück Hamlet wurde auf der öffentlichen Bühne bereits im Juni 1594 von Shakespeares Ensemble aufgeführt, Thomas Nashe erwähnt ein solches Stück bereits 1589. Dass es sich dabei um einen Ur-Hamlet gehandelt haben soll, ist wohl nicht mehr als eine Fiktion zur Rettung einer ohnehin baufälligen Chronologie.
Auf der öffentlichen Bühne mussten die Namen Rosencrantz und Guildenstern auch in einer früheren Fassung entstellt werden. Die Namengebung des Verfassers selbst dürfte jedoch vom Anfang an Rosencrantz und Guildenstern gelautet haben, denn mit der Wahl dieser Namen will Shakespeare nicht eine bestimmte Person namens Rosencrantz und Guildenstern karikieren. Es ist das häufige Vorkommen dieser Namen am dänischen Hof, eine Häufigkeit, die an das Beliebige heranreicht, was Shakespeare bewogen hat, sie als Vertreter der Beliebigkeit oder der Austauschbarkeit zu wählen.
Einige Schlüsse können vor dem Hintergrund der Eintragung des Stückes im Juli 1602, des Druckes 1603 und des erneuten Druckes 1604 dennoch gezogen werden.
© Robert Detobel 2010