3. Die Bedeutung des Namens Melicertus

Warum wählte Chettle 1603 für Shakespeare den Namen Melicertus? 1603 hatte der Name Shakespeare einen berühmten Klang. Venus und Adonis hatte nach 1593 in relativer kurzer Zeit mehrere Auflagen erlebt. Ebenso das 1594 erschienene Epyllion Lucrezias Schändung. Vor allem hatte ihn 1598 Francis Meres mehrfach ausgezeichnet, seine „fine filed phrase", seine „feingeschliffene Ausdrucksweise" gelobt; er hatte seine Sprache als „mellifluous & honey-tongued", „flüssig wie Honig und honigzüngig" bezeichnet und seine Sonette als „sugared", als besonders „sweet", „süß" also, wobei man „Honig", „süß", „gezuckert" als „melodiös" zu verstehen hat. Im ersten Teil der drei Parnassus-Stücke, The Pilgrimage to Parnassus, lesen wir: „May wonder at your sweet melodious pipe,/And be attentive at your harmony" („Mag staunen über deine süße melodiöse Flöte,/Und achte auf deine Harmonie"). Das war nicht auf Shakespeare bezogen. Aber im zweiten Parnassus-Stück, The Return from Parnassus, Teil I, wird er, wenn auch etwas ironisch, „sweet Shakspere" genannt. „Smooth" („ebenmäßig"), „filed" („geschliffen"), „fine" oder „refined" („verfeinert"), „sweet" („melodiös"), „honey-tongued" („honigzüngig"), „silver-tongued"  („silberzüngig") waren einige der Adjektive, um einen kultivierten Sprachstil zu bezeichnen.

„Melos" ist das griechische Wort für „Lied"; das griechische Wort für „Honig" ist „meli" (Lateinisch: „mel"). Die beiden Wörter haben den gleichen Stamm und unterscheiden sich nur durch einen einzigen Selbstlaut. Auch Torquato Tasso assoziiert „musikalische Sprache" mit Honig. In Amintas lesen wir:

                       Ich will gehen zu der Höhle
des weisen Elpinus; dort, wenn er noch lebt, vielleicht
ist er zu finden, wo man oft zu lindern pflegt
auch allergrößten Schmerz
mit süßem Klang der hellen Hirtenflöte;
um sie zu hören, steigen von den hohen Bergen
die Felsen und die Flüsse führen nur noch reine Milch,
und aus den harten Rinden fließt der Honig. (Dritter Akt, 1316-1324)

Der Name „Melikertes" bedeutet „Honigschneider". Das Element „meli" ist nun zwar unschwer im Namen erkennbar, aber man würde als Quelle für die Namensgebung doch eher an das vierte Buch von Ovids Metamorphosen (415-542) denken. Allein bietet der Mythos, wie ihn Ovid erzählt, keinen Anknüpfungspunkt für eine Verbindung zwischen dem Namen Melicertus/Melikertes und einen Dichter, auch dann nicht, wenn man in Betracht zieht, dass die Geschichte von Melikertes und seiner Mutter Ino flüchtig an den Dionysos-Mythos anknüpft, denn Semele, mit der Zeus Dionysos zeugt, ist die Schwester der Ino. Nach dem Tod der Semele nimmt Ino den Halbgott Dionysos in Pflege, wodurch sie und ihr Gatte Athamas sich den Zorn der Hera (Juno) zuziehen. Hera befiehlt den Furien, Athamas und Ino in den Wahnsinn zu stürzen. Der dem Wahnsinn verfallene Athamas schmettert Learchos, eines der beiden Söhchen Inos, gegen einen Felsen, während sich Ino zusammen mit dem anderen Söhnchen, Melikertes, ins Meer stürzt. Auf Bitten der Aphrodite (Venus) hin erhebt Poseidon (Neptunus) die beiden zu Göttern. Aus Ino wird die weiße Göttin, Leukothea, aus Melikertes wird Palaemon. Nach dem Philologen Ernst Maass (Griechen und Semiten auf dem Isthmus von Korinth, Berlin 1903, http://www.archive.org/details/griechenundsemi02maasgoog) bedeutet der Name Palaemon „Ringer". Eine Assoziation des Namens Palaemon zu Dichtkunst lässt sich nicht herstellen.

Es existiert jedoch eine andere Quelle, in der der Name Melikertes unmittelbar mit der Dichtkunst verknüpft wird: die Suda. Die Suda ist eine byzantinische Enzyklopädie. Nachdem fast 1000 Jahre lang davon ausgegangen worden war, die Suda sei das Werk eines Autors namens Suidas, hat sich heute die Ansicht durchgesetzt, dass „Suda" das byzantische Wort für „Enzyklopädie" ist. In der Suda nun wird Melikertes als der Beiname des griechischen Dichters Simonides angegeben. Auf den Dichter Simonides wird mehrmals in Platons Werk verwiesen. Der Name Simonides war den gebildeten Elisabethanern natürlich bekannt. Außerdem bezeichnet Cicero den Simonides lobend in De natura deorum, I. 22 (Über die Natur der Götter) als „suavis poeta", als „sweet poet". Melikertes, der Beiname für den Plato und Cicero zufolge großen griechischen Dichter Simonides, wäre dann auf den großen englischen Dichter William Shakespeare übertragen worden.  

Ob Henry Chettle, ein Nichtakademiker, sich dessen bewusst war, kann vielleicht bezweifelt werden. Kaum bezweifelt werden kann indes, dass Chettle den Namen Melicertus aus Greenes Erzählung Menaphon übernahm. Und bei Greene kann man voraussetzen, dass ihm die Suda bekannt war. Sie war einem anderen akademisch gebildeten elisabethanischen Schriftsteller bekannt: Abraham Fraunce. Der schreibt in dem Ende der 1580er Jahre verfassten Werk Countesse of Pembrokes Ivychurch, dass Suidas glaube, Meerjungfrauen blendeten Reisen an bestimmten gefährlichen Felsen. Und der ziemlich unbekannte Richard Linche veröffentlicht 1599 das Werk The Fountain of Ancient Fiction, in dem er sich auf die Suda beruft: „Suida and Fancrinus report of one Lamia, who was a most lovely and beautous woman" („Suida und Fancrinus berichten von einer Lamia, die eine sehr liebenswerte und schöne Frau war.")

© Robert Detobel 2011

4. Das Problem, das die Orthodoxie zu lösen hat... oder zu verdrängen