4. Das Problem, das die Orthodoxie zu lösen hat... oder zu verdrängen

Nach einer knappen Rückschau auf die Regierung der Tudor-Dynastie (ab 1485: Heinrich VII., Heinrich VIII., Edward VI. und Mary I.) weist Col(l)in/Chettle den seitens der katholischen Widersacher gegen Elisabeth I.  erhobenen Vorwurf zurück, sie hätte den Friedensvertrag mit Spanien gebrochen. Zum offenen Bruch des Vertrages kam es 1585, als England ein Heer unter der Führung des Grafen von Leicester in die Niederlande entsandte. In demselben Jahr traten die Niederlande als Bürgschaft für Englands Unterstützung die Städte Vlissingen und Den Briel an England ab. Gouverneur im Briel wurde Sir Thomas Cecil, der älteste Sohn Lord Burghleys; Gouverneur in Vlissingen wurde Sir Philip Sidney. Colins Gesprächspartner Thenot fordert Colin auf, ihm mehr darüber zu erzählen. Ob sich hinter Thenot (der Hirtenname Thenot kommt einige Male in Edmund Spensers 1579 veröffentlichten Shepherd's Calendar vor) eine reale Person verbirgt, ist nicht bekannt und weiter auch unerheblich. Wichtig ist, das Chettle abermals den Namen Melicertus erwähnt.

„O, saith Thenot, in some of those wrongs resolve us, and think it no unfitting thing, for thou that hast heard the songs of that warlike Poet Philesides, good Melœbee, and smooth tongued Melicert, tell us what thou hast observed in their saws, seene in thy own experience.." (Ingleby, C.M. Shakespeare-Allusion Books, published by the New Shakspere Society, London 1874 , S. 87).

 [„O, sagt Thenot, kläre uns über einige dieser Verschulden auf, und achte es nicht als unpassend, denn du hast die Lieder gehört des Krieger-Dichters Philisides, des guten Meliboeus und des flüssig redenden [wörtlich: „glattzüngigen"] Melicertus, erzähl uns, was du von ihren Worten vernommen, was du aus eigener Erfahrung weißt..."]

Wer ist dieser Melicertus? Entweder ist er derselbe wie der Dichter von Lucrezias Schändung und in diesem Fall kann Chettle mit Melicertus unmöglich William Shakespeare aus Stratford gemeint haben. Denn, wie gesehen, ist Philisides Sir Philip Sidney, der 1586 starb; und Meliboeus ist Sir Francis Walsingham, der 1590 starb. Diese Schlussfolgerung hat alles mit Logik und rein gar nichts mit konspirativer Phantasie zu tun. Dass William Shakespeare aus Stratford bereits 1585 nach London gekommen wäre und dazu einen so hohen sozialen Status erworben hätte, dass Chettle ihn in einem Atemzug mit Sidney und Walsingham erwähnen konnte, würde auch kein einziger orthodoxer Shakespeareforscher zu behaupten wagen.

Weiterhin ist noch einmal zu betonen, dass Chettle die Hirtennamen Philisides und Meliboeus in Anlehnung an Edmund Spenser bzw. an Edmund Spenser und Thomas Watson wählt. Die einzig mögliche Anlehnung - zumindest die bis zum heutigen Tag einzig sichtbare - für den Namen Melicertus ist Robert Greenes Erzählung Menaphon. Da Chettle mit Melicertus eine reale Person meint, ist wahrscheinlich, dass auch Robert Greene für seinen Melicertus eine reale Person vor Augen stand, wenn er den Namen verwendet. Oder zumindest, dass Chettle meinte, hinter Greenes Melicertus stünde eine reale Person. Es muss weiter ausgeschlossen werden, dass Chettle den Hirtennamen Melicertus innerhalb desselben Werkes für zwei unterschiedliche Personen verwendet.

Sollte es der Orthodoxie nicht gelingen, das Paradoxon zu lösen, bliebe zu folgern, dass Chettle uns die Antwort nach dem wahren Shakespeare gibt: Es ist Melicertus. Es ist der Melicertus, den er bezogen auf das Jahr 1603 wie auf das Jahr 1585 meint. Nur: Wer ist dieser Melicertus dann? Henry Chettle würde damit zu einem der allerersten Zweifler an der Verfasserschaft William Shakespeares aus Stratford. Dem so oft von orthodoxer Seite vorgebrachten Argument, mehr als zweihundert Jahre lang habe niemand Zweifel an dieser Verfasserschaft gehegt, müsste entgegengehalten werden: aber nur weil Chettles England's Mourning Garment von den orthodoxen Forschern vierhundert Jahre lang übersehen worden ist.

Weiter ist festzuhalten: Sollte es gelingen, das Paradoxon innerhalb des orthodoxen Koordinatenkreuzes zu lösen, so bliebe dennoch die Frage brennend, wer dieser Melicertus ist, der gemeinsam mit Philisides/Sidney und Meliboeus/Walsingham genannt wird. Denn hätte Chettle den Namen Melicertus/Melikertes deshalb für Shakespeare gewählt, weil er der Erste unter den Dichtern seiner Zeit war, so muss er diesen Namen für den anderen Melicertus wohl doch für jemanden gewählt haben, den er, so nicht als den Ersten, doch als einen hervorragenden Sprachkünstler betrachtete. Auch in diesem Fall ist zu schließen: Chettle kannte einen hervorragenden Schriftsteller, den wir nicht kennen. Danach zu fragen hat dann wiederum nichts mit „konspirativer Phantasie" zu tun, sondern es hat zu tun mit eigener Unwissenheit, gepaart mit dem Unwillen zum Wissenwollen, was mancher vielleicht auch Verbohrtheit nennen würde.

© Robert Detobel 2011

5. Die versuchte orthodoxe Lösung