6. Melicertus in Robert Greenes Menaphon

Elliot Browne bekennt, dass er mit dem Gedanken gespielt habe, Chettle könnte den Namen Melicertus für Shakespeare aus Greenes Erzählung übernommen haben, da das Bild, das man sich im neunzehnten Jahrhundert von Shakespeare mache, in einigen Hinsichten der Position entspreche, die Melicertus unter den Hirten, in der Welt der Dichter also, einnimmt. „Es sind bestimmte übereinstimmende Punkte vorhanden zwischen Melicertus und dem herkömmlichen Shakespeare-Bild. Melicertus ist ein großartiger Verfasser von Sonetten." Diese mögliche Spur wird indes nicht weiter verfolgt, und zwar aus dem einzigen Grund, dass Greenes Erzählung 1589 erschien, als nach herkömmlicher Auffassung Shakespeare aus Stratford bestenfalls gerade Stratford mit Bestimmung London verlassen hätte.

Viel geschieht in Greenes Erzählung nicht. Zum größten Teil besteht sie aus Wettgesängen,  vor allem zwischen Melicertus und Menaphon, dem führenden Hirten in Arkadien. Aus allen Wettbewerben geht Melicertus als Sieger hervor. Die Melicertus zugeschriebenen Gedichte gehören in der Tat zu den anspruchsvollsten Gedichten Robert Greenes. Melicertus, der in Wahrheit Maximus heißt, ist ein Hofmann, der von Democles, dem König Arkadiens, zusammen mit seiner Gattin Sephestia, der Tochter des Königs, vom Hofe verbannt worden ist. Der Grund für die Verbannung wird nicht angegeben. Es sind in Greenes Erzählung zwei Arkadien zu unterscheiden: das Reich und die Welt der Hirten (Dichter). Auf See bricht das Schiff, auf dem Maximus und Sephestia den arkadischen Hof verlassen, auseinander. Wie Maximus vor ihnen landen Sephestia und ihr Kleinkind sowie ein älterer treuer Begleiter an der Küste des bukolischen Arkadiens. Sephestia wählt den Hirtennamen Samela (wahrscheinlich in Anlehnung an Semele, die Mutter des Dionysos und Schwester Inos, der Mutter des mythischen Melikertes).

Als Hofmann, der vom Hofe verbannt worden ist und unter den Dichtern lebt, bietet sich Melicertus/Maximus als Projektionsfläche für Edward de Vere, 17. Graf von Oxford an, selber Dichter und Schirmherr der als Euphuismus bekannten literarischen Strömung. John Lyly, Oxfords Sekretär und Autor der beiden Euphues-Romane Euphues: The Anatomy of Wit und Euphues and His England, gehörte dazu. Anthony Munday, ebenfalls ein Diener Oxfords und Verfasser einiger Erzählungen im euphuistischen Stil, gehörte ebenfalls dazu. Auch Robert Greene selbst.

Dafür, in Melicertus/Maximus eine allegorische Maske für Oxford zu sehen, bietet Greenes Erzählung weitere Anhaltspunkte. Zunächst stellt er seine Erzählung in Bezug zum Euphuismus. Als Melicertus sein erstes Gedicht zur Verherrlichung ihrer Schönheit vorgetragen hat, fragt sich Samela, ob dieser Melicertus nicht in Wirklichkeit ihr Maximus sei, „because she heard him so superfine, as if Ephœbus had learned him to refine his mother tongue, wherefore thought he had done it of an inkhorne desire to be eloquent; and Melicertus thinking that Samela had learned with Lucilla in Athens to anatomize wit, and speak none but Similes, imagined she smoothed her talke to be thought like Sapho, Phao's Paramour."

 [„weil sie ihn so überaus fein hörte, als hätte ihn Ephœbus gelehrt, seine Muttersprache zu verfeinern, und sie dachte, er hätte es aus einem Tintenfassverlangen [aus dem pedantischen Wunsch] heraus getan, wortgewandt zu sein; und Melicertus dachte, dass Samela mit Lucilla in Athen gelernt habe, Witz zu anatomisieren und nur in Gleichnissen zu reden, und sie ihre Sprache so glättete, damit sie wie Sappho, Phaos Geliebte, erscheine."]

In John Lylys Euphues: The Anatomy of Wit ist Ephœbus der Lehrer und Lucilla die gescheite Gegenspielerin des Euphues. Sapho and Phao wiederum ist ein Bühnenstück John Lylys.

Er ist in Greenes Hirtenroman außerdem „Maximus", der größte Dichter in Arkadien, in dem offenbar die als Euphuismus bekannte literarische Strömung gespiegelt ist. An einer Stelle der Erzählung wird dies besonders hervorgehoben, indem die Namen Ephœbus und Lucilla erwähnt werden. In John Lylys Euphues: Anatomy of Wit ist Ephœbus der Lehrer des Euphues. Melicertus spreche so „überaus fein" und habe seine Muttersprache derart bereichert, als sei er bei Ephoebe in die Lehre gegangen. Die Athenerin Lucilla ist die gleichwertige Gegenspielerin des Euphues. Auch der Untertitel von Greenes Hirtenroman steckt die Grenzen von Greenes literarischem Arkadien als die des Euphuismus ab: „Camilla's Alarum to slumbering Euphues, in his melancholie Cell, at Silexsedra" [„Camillas Warnung an den schlummernden Euphues in seiner Melancholiezelle in Silexsedra"]. Camilla wiederum ist die Gegenspielerin des Euphues in Lylys zweitem Euphues-Roman, Euphues and his England. Euphues buhlt um Camilla; als sie ihn abweist, zieht sich Euphues am Ende grübelnd im „Boden des Berges Silexsedra" zurück.

Gegen Ende der Erzählung besucht König Democles das Hirtenland und verliebt sich in Samela. Er lässt sie zum arkadischen Hof abführen. Die Hirten ziehen daraufhin in den Krieg gegen den Hof, um Samela zu befreien. Auf einer rein empirischen Ebene nimmt sich diese Episode ziemlich absurd aus, nicht jedoch auf der allegorischen Ebene. Dass Hirtendasein, das Dichterdasein, wurde oft als Gegenbild zum Leben bei Hofe hingestellt (siehe zum Beispiel Shakespeares Wie es euch gefällt). Zwischen Melicertus und Menaphon entbrannt ein Streit, wer den Befehl über das Hirtenheer führen soll. Melicertus lehnt Menaphons Führungsanspruch mit folgender Begründung ab: „I grant, quoth Melicertus, but am not I a Gentleman, though tired in a shepheardes skincoat; superior to thee in birth, though equal now in profession." [„Zugegeben, sagt Melicertus, aber bin ich nicht ein Gentleman, der, obwohl gekleidet in Schäferfell und dem Beruf nach jetzt gleich, durch Geburt einem höheren Stand angehört als du."] Melicertus ist zwar auch von Beruf Dichter, aber er gehört zu einem höheren Stand, nämlich zum Adelsstand. Auch das lässt sich auf Edward de Vere übertragen.

Damit nicht genug. Greene baut noch einen anderen Hinweis ein, der auf Edward de Vere hindeutet. Ganz am Ende seiner Erzählung, als Melicertus/Maximus am Hof Arkadiens eintrifft, wird er nur noch Maximius genannt. Man könnte einen Druckfehler vermuten, aber diese Erklärung ist ebenso allzu wohlfeil als die Hypothese, ein anderer Setzer hätte vielleicht den Namen falsch geschrieben. Hinzu kommt, dass Greenes Texte sorgfältig herausgegeben wurden, so dass man Korrekturlesen des Verfassers voraussetzen muss. In Band 6 von Alexander B. Grosarts Herausgabe von Greenes Gesamtwerk (1881-1886) endet Greenes Menaphon auf Seite 146. Ab Seite 142 ist von Melicertus nicht mehr als Maximus die Rede, sondern als Maximius:

  1. Samela was so desirous to end her life with her friend, that shee would not reveale either unto Democles or Melicertus what she was; and Melicertus rather chose to die with his Samela, then once to name himself Maximius." (S. 142)
  2. "For know Democles this Melicertus is Maximius, twice betrothed to Sephestia..." (S. 144)
  3. "Maximius first lookt on his wife, and seeing by the lineamentsof her face, that it was Sephestia..." (S. 144)
  4. "Democles all this while sitting in a trance, at last calling his senses together, seeing his daughter revived, whom so cruelly for the love of Maximius he had banisht out of his confines, Maximius in safety, and the childe a matchless paragon of approved chivalry, he leapt of his feate, and imbraced them all with teares, craving pardon of Maximius..." (S. 145)

Eine andere Erklärung als die, dass Robert Greene in voller Absicht den Namen Maximus in Maximius ändert, sobald Melicertus/Maximus nicht mehr unter den Hirten (Dichtern) weilt, sondern wieder zum Hofmann wird, ist nicht möglich. Die Frage ist dann, warum er das macht! „Maximus" ist ein Epithet, das römischen Namen beigegeben wurde. Der bekannteste Fall ist wohl der Fabius Maximus, des römischen Feldherrn und Besiegers Hannibals im zweiten Punischen Krieg. „Maximus" bedeutet „der Größte". „Maximius" ist ein Gentilname; römische Gentilnamen wurden durch Einfügung eines „i" zwischen Stamm und „us"-Endung gebildet; aus „Porcus" (Schwein) wurde Porcius, aus „Fabus" Fabius (von „faba", „Bohne") und bei Greene aus „Maximus" eben „Maximius". „Maximus" ist Melicertus nur unter den Hirten, Dichtern. Zu „Maximius" wird er bei Hofe.

Auch das lässt sich auf Edward de Vere beziehen. Das Adelshaus de Vere war insofern „Maximius" als es das älteste Englands war. In seinem Widmungsgedicht an den Grafen von Oxford in The Fairie Queene schreibt Edmund Spenser „Sith th'antique glory of thine auncestry". Das Alter eines Adelshauses war ein Prestigekriterium, auch wenn es in der politischen Praxis kein so großes Gewicht hatte. „Maximus", der „Größte" ist Melicertus in Greenes Erzählung als Dichter.

Das mag uns Heutigen als eine recherchierte Interpretation erscheinen. Nur stellten solche Subtilitäten im elisabethanischen Zeitalter einen Weg dar, die politische und die soziale Zensur zu überlisten. Das Anlegen heutiger Maßstäbe hat zwar die Aura der Vernunft für sich, aber die Aura der Vernunft verkehrt sich in pures Philistertum, wenn wir mit dem gleichen Vernunftnimbus andere Zeitalter betreten. Es wäre etwa, wie wenn sich einer in Jeans oder Shorts am elisabethanischen Hof bewegen würde. So komisch die Kostüme von damals uns heute dünken, so komisch würden die Kostüme von heute den Elisabethanern dünken. 

© Robert Detobel 2011

7. Abschließende Bestandsaufnahme