7. Abschließende Bestandsaufnahme

Im Rückblick erscheint es als wenig verständlich, dass keiner der drei o. e. Verfasser (Browne, Nicholson, Ingleby) den Namen Edward de Vere als Kandidaten für Melicertus ins Spiel gebracht hat. Dass Edward de Vere, 17. Earl of Oxford, Mentor nicht nur von John Lyly, sondern überhaupt des Euphuismus war, zu dem auch Robert Greene, Antony Munday, ein anderer Diener Oxfords, und in seinen allerersten literarischen Produktionen auch der Satiriker Thomas Nashe gehörten, das war auch im 19. Jahrhundert schon hinlänglich bekannt. Bekannt war auch der gute Ruf, den er als Dichter genoss. Als den besten unter den Hofdichtern, nannte ihn William Webbe 1585 in seinem „Discourse of English Poetry" (in Smith, G. Gregory, Elizabethan Critical Essays, 2 Bd., Oxford, 1904,  Bd. I, S. 243). Aber die Spur, die über Greenes Menaphon führte, wurde nicht weiter verfolgt.

Seitdem ist noch mehr bekanntgeworden. Im Sommer 1585 wurde er zum „General of the Horse" („Kavaleriegeneral") des englischen Heeres in den Niederlanden ernannt, wenngleich er diese Aufgabe nie wahrnahm, aus welchen Gründen immer. Möglicherweise weil Sir Francis Walsingham Staatssekretär (der damals eine Art Minister des Inneren und Äußeren war) glaubte, seine Qualitäten an anderer Stelle besser nutzen zu können. Aus Edward de Veres Brief vom 25. Juni 1586 an Lord Burghley erfahren wir, dass Walsingham ihn in seinem Anliegen unterstützte. Was dieses Anliegen war, bleibt im Dunkeln. Wie er das Anliegen verwirklichen konnte, wurde einen Tag später deutlich: Am 26. Juni 1586 gewährte ihm die Königin eine jährliche Zuwendung von 1000 Pfund. Am 21. Juni 1586 hatte Lord Burghley in einem Brief an Walsingham nachgefragt, ob dieser denn bei der Königin für Milord Oxford schon etwas erreicht habe.

Anderseits, andrerseits, andererseits... ist es auch verständlich, dass weder Browne noch Nicholson noch Ingleby auf den Gedanken kamen, „smooth-tongued" Melicertus als Edward de Vere zu identifizieren, denn de Vere lebte 1603 noch. Nach ihrem eigenen Verständnis wäre er damit auch der „silver-tongued" Melicertus, den Chettle 1603 meinte. Und Shakespeare.

Denn, es sei noch einmal unterstrichen: Chettle entnahm den Hirtennamen Philisides für Sir Philip Sidney einer Elegie Edmund Spensers und den Hirtennamen Meliboeus den Elegien Edmund Spensers und Thomas Watsons auf Walsingham. Er meinte - es ist eigentlich überflüssig zu betonen - reale Personen. Auch mit dem Namen Melicertus meinte Chettle eine reale Person. Die einzige zeitgenössische literarische Quelle für diesen Namen ist Greenes Erzählung Menaphon. Darin ist Melicertus/Maximus/Maximius ein Adeliger, der zugleich führender Dichter ist, und zwar unter den Euphuisten. All dies trifft auch auf Edward de Vere, 17. Earl of Oxford, zu. Chettle, der Greenes Werk kannte, kann sich nicht geirrt haben, als er dem Verfasser von Lucrezias Schändung den Beinamen Melicertus gab.

© Robert Detobel 2011

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