Melicertus und Shakespeare oder Henry Chettle (1560 - 1607), ein früher Zweifler an dem Manne aus Stratford.

1.  Spenser als Modell für Chettle
2. Die pastorale Elegie
3. Die Bedeutung des Namens Melicertus
4. Das Problem, das die Orthodoxie zu lösen hat... oder zu verdrängen
5. Die versuchte orthodoxe Lösung
6. Melicertus in Robert Greenes Menaphon
7. Abschließende Bestandsaufnahme

Am 24. März 1603 starb Königin Elisabeth I. Kurz danach veröffentlichte der Schriftsteller Henry Chettle England's Mourning Garment, ein kleines Bändchen, in dem er der Verstorbenen gedenkt. Der Titel ist Robert Greenes in der zweiten Hälfte der 1580er Jahre verfasster Erzählung Greene's Mourning Garment („Greenes Trauergewand") nachgebildet, wie denn Chettle sich außer als Koautor mehrerer Bühnenstücke vorwiegend als Nachahmer anderer hervorgetan hat. England's Mourning Garment ist der pastoralen Tradition verpflichtet (d. h. einer Darstellung des Lebens von Hirten in idealisierter Form in Literatur, bildender Kunst oder Musik), deren wichtigster Exponent Edmund Spenser war.

1.  Spenser als Modell für Chettle

Ende 1591 hatte Spenser, zeitweilig aus Irland nach England zurückgekehrt, Colin Clout's Come Home Again geschrieben (1595 gedruckt), worin er unter dem Hirtennamen Colin Clout diverse „Hirten", d. h. Dichter, begrüßt. Nach diesem Modell geht auch Henry Chettle 1603 vor, als er sich an verschiedene Schriftstellerkollegen wendet und ihnen vorhält, keine Elegie auf die verstorbene Königin geschrieben zu haben. Chettle übernimmt als eigenen Hirtennamen Colin vom 1599 verstorbenen Edmund Spenser. Dass sich Chettle an Edmund Spenser orientiert (Chettle selbst schreibt „Collin" statt „Colin", aber bei der Schwankungsbreite der elisabethanischen Schreibweise, die sich weniger an dem Schrift- als am Lautbild orientiert, ist die Verdoppelung des „l" bedeutungslos), verdeutlicht der folgende Vergleich einiger Ausschnitte:

Spenser:

There is good Harpalus now woxen aged,
In faithfull seruice of faire Cynthia:
And there is Corydon, though meanly waged,
Yet hablest wit of most I know this day.  
And there is sad Alcyon bent to mourne,
Though fit to frame an euerlasting dittie,
Whose gentle spright for Daphnes death doth tourn
Sweet layes of loue to endlesse plaints of pittie.
(Zeilen 380-7)

Then rouze thy feathers quickly Daniell,
And to what course thou please thy selfe aduaunce:
But most me seemes, thy accent will excell,
In Tragick plaints and passionate mischance.
And there that shepheard of the Ocean is,
That spends his wit in loues consuming smart:
(Zeilen 424-9)

Thomas Churchyard, ein Dichter, der eine lange Karriere als Soldat hinter sich hatte, wird als Harpalus angesprochen. Corydon ist ein häufig vorkommender Hirtenname; hier ist vermutlich Abraham Fraunce gemeint, der eine Ekloge unter dem Titel „Corydons Klage für Alexis" übersetzte. Alcyon ist Spensers Freund Sir Arthur Gorges, dessen Frau gestorben war. Spenser selbst schrieb eine Elegie unter dem Titel „Daphnaïda". Der „shepheard of the Ocean", der „Hirte des Ozeans" ist ein anderer Freund Spensers, Sir Walter Ralegh, der ein langes, der Königin, deren Beiname Cynthia (der Mondgöttin) war, unter dem Titel „Ocean to Cynthia" verfasste. Eine Ausnahme bildet der Dichter Samuel Daniel, der, wohl weil er der pastoralen Poesie fernblieb, als einziger mit seinem wirklichen Namen erwähnt wird.

Daniel ist auch bei Chettle der einzige Dichter, der nicht unter einem Hirten- oder Beinamen erwähnt wird. Die Identifikation der Dichter in Chettles Gedicht ist einfacher als bei Spenser, da sich Chettle gleichzeitig auf eines ihrer Werke bezieht. Ben Jonson wird als „Horaz" bezeichnet: er hatte 1601 die Komödie Poetaster geschrieben, in der sein Lieblingsdichter Horaz zwei anderen römischen Dichtern namens Demetrius und Crispinus ein Brechmittel verabreicht, damit sie ihre scheußlichen Wortschöpfungen auskotzen. Demetrius ist der Stückeschreiber Thomas Dekker, Crispinus ist John Marston, Verfasser von Satiren und Bühnenstücken. Dekker revanchierte sich mit einer Satire auf Horaz/Jonson, Satiromastix, in der Ben Jonson das gleiche widerfährt. Dekker wird von Chettle Anti-Horaz genannt. „Young Meliboeus" dürfte demnach John Marston sein. Ein Cor(y)idon wird mit dem Werk Poly-Olbion erwähnt; damit ist Coridon eindeutig als Michael Drayton identifiziert. Christopher Marlowe übersetzte Musaios' Hero und Leander, aber ein Teil blieb unübersetzt; George Chapman vollendete die Übersetzung, womit wir wissen, dass er der Coryn ist „that finisht dead Musœus gracious song" („der das gefällige Lied des toten Musaios vollendete").

Meliboeus, Coridon, Corin, usw. sind herkömmliche Hirtennamen und können in unterschiedlichen pastoralen Schöpfungen auf unterschiedliche Personen angewandt werden. Horaz, Anti-Horaz und der „tote Musaios" (Marlowe) sind keine herkömmlichen Hirtennamen, sondern verweisen auf die zeitgenössische Literatur. Melicertus ist der Beiname, den Chettle für Shakespeare wählt.

Nor doth the silver tonged Melicert,
Drop from his honied muse one sable teare
To mourne her death that graced his desert,
And to his laies opend her Royall eare.
                                   Shepheard, remember our Elizabeth,
                                   And sing her Rape, done by that Tarquin, Death.

Auch der silberzüngige Melicert(us), beklagt Chettle, lässt seine Honigmuse keine einzige „schwarze" [„sable" ist die heraldische Bezeichnung für schwarz] Träne vergießen, um sie zu beweinen, die sie seine Verdienste [die damalige Bedeutung von „desert", auch bei Shakespeare] belohnte und ihr königliches Ohr für sein Gesang öffnete. An dieser Stelle ist zu fragen, wie denn die Königin Shakespeares Verdienste belohnt haben soll und wie sie seinem Gesang zugehört haben soll, denn „royal ear" scheint doch eher auf einen mündlichen Vortrag hinzudeuten. Wenn Oxford der wirkliche Verfasser der Werke Shakespeares ist, fällt die Antwort nicht schwer: Im Juni 1586 erhielte Oxford von ihr eine jährliche Zuwendung von 1000 Pfund, und da Oxford in den 1570er und 1580er Jahren regelmäßig bei Hofe weilte, wäre ein persönlicher Vortrag seiner Poesie oder Liedertexte, wie man „laies" im engeren Sinne zu verstehen hat, durchaus vorstellbar. Was wusste Chettle? Hat er wirklich an William Shakespeare aus Stratford gedacht? Oder an einen anderen? Denn Chettle, Setzer und Schriftsteller in einem, kannte sich in der Londoner literarischen Szene aus. Er war mit dem Schriftsteller Anthony Munday eng befreundet, der wiederum lange Zeit ein Gefolgsmann von Oxford war,  und unterhielt auch freundschaftliche Beziehungen zu Thomas Nashe, dem herausragenden Satiriker seiner Zeit, von dem man wiederum annimmt, er müsse Shakespeare bestens gekannt, vielleicht sogar mit ihm zusammengearbeitet haben. Aber weder Chettle noch Nashe erwähnen den Namen Shakespeare auch nur ein einziges Mal.

In einer etwas holprigen Metapher vergleicht Chettle den Tod der Königin mit Lucrezias Schändung und fordert den Verfasser des Epyllions Lucrezias Schändung auf, der verstorbenen Königin zu gedenken.

Melicertus ist ebenfalls kein herkömmlicher Pastoralname. Die einzige zeitgenössische literarische Quelle, in der dieser Name vorkommt, ist Robert Greenes 1589 erschienene pastorale Erzählung Menaphon. Henry Chettle kannte Greenes Werk gründlich. Chettle selbst galt mehreren Zeitgenossen und gilt auch heute mehreren Shakespeareforschern als der wahre Verfasser von Greene's Groatsworth of Wit. Chettle selbst behauptete, er habe Greenes Manuskript lediglich in leserlicher Handschrift neu geschrieben. Er kannte auch Greenes Menaphon, einschließlich Thomas Nashes Vorwort, aus dem er übrigens eine Passage in Greene's Groatsworth of Wit plagiiert.

© Robert Detobel 2011

2. Die pastorale Elegie