Probleme der Oxford-Theorie (1)

Die beiden erörterten Probleme sind:

1. Die Chronologie (d. h. die Entstehungszeiten der Dramen)
2. Welche Rolle spielte der Mann aus Stratford?

Die Chronologie

Sie wird zumeist als Klippe geortet, an der das Oxford-Schiff zerschellt wie die Titanic am Eisberg. Die Chronologie ist ein orthodoxes Konstrukt. Sie geht im Wesentlichen auf Edmond Malone (1741-1812) zurück, der sie unter der Voraussetzung entwarf, der Autor sei der Mann aus Stratford. Sein letztes Stück The Tempest stelle des Verfassers Abschied von der Bühne dar und sei 1610/11 geschrieben worden. In der Zeit zwischen ca. 1592 und 1611 habe er regelmäßig Stücke für sein Ensemble geschrieben. Aber über das Datum der Abfassung und der Uraufführung ist sehr wenig bekannt. So mussten sich Malone und seine Nachfolger auf das Veröffentlichungsdatum verlassen, das allerdings auch keine sehr sicheren Rückschlüsse über Abfassung und Erstaufführung erlaubt. Außerdem ist für fast die Hälfte der Stücke das Veröffentlichungsjahr 1623. Vor der Herausgabe des First Folio war keines dieser Stücke in Druck erschienen. Außerdem lässt die Publikationsgeschichte die orthodoxe Chronologie ab 1604 im Stich. Zwischen 1598 und 1604 erscheinen in regelmäßigen Abständen Shakespeare-Stücke, die meisten von ihnen in guten, d. h. unverderbten Fassungen. Nach 1604, dem Jahr, in dem das zweite Hamlet-Quarto erscheint, reißt der Strom der Publikationen ab. Es erscheinen nur noch sehr wenige Stücke in Druck. 1608 wird King Lear gedruckt - es war kein „guter" Text, offensichtlich wurde das Stück ohne Mitarbeit und Erlaubnis des Autors gedruckt. 1609 wurde Troilus and Cressida gedruckt - es war bereits im Februar 1603 zum Druck angemeldet worden; der Text war gut, aber der Verfasser hatte wohl nichts mit dem Druck zu tun, denn das Vorwort, ein Brief an die Leser, wurde nicht von ihm geschrieben. 1609 werden auch die Sonette gedruckt - wiederum hatte der Verfasser mit der Publikation nichts zu schaffen; hinzu kommt, dass er in der kryptischen Widmung als „our ever-living poet" apostrophiert wird, was bedeutet, dass er gestorben sein müsse (es ist kein Beispiel für die Anwendung „ever-living" auf eine noch lebende Person gefunden worden). 1622 erscheint Othello in Quarto-Format. Das ist alles, was zwischen 1604 und 1616 erscheint: zwei Stücke und die Sonette, jeweils ohne Zutun des Autors. Zwischen 1604 und 1616 klaffte eine große Lücke. Die musste ausgefüllt werden. Natürlich musste man dabei aus dem Restbestand der bis 1623 noch nicht gedruckten Stücke schöpfen:

  1. Comedy of Errors;
 2. Two Gentlemen of Verona;
 3. The Tempest;
 4. Measure for Measure;
 5.  As You Like It;
 6. Twelfth Night;
 7. The Winter's Tale;
 8. Cymbeline;
 9. All's Well that Ends Well;
10. Macbeth;
11. Henry VI, 1;
12. Henry VIII;
13. Coriolanus;
14. Timon of Athens;
15. Julius Caesar;
16. Antony and Cleopatra.

Noch einmal: für all diese Stücke ist weder ein Abfassungs- noch ein Uraufführungsdatum mit Sicherheit überliefert.

Wie problematisch die Chronologie ist, zeigt sich an dem „Stau" im Jahr 1608. Auf 1608 werden datiert: Antony and Cleopatra, Timon of Athens und Coriolanus. Coriolanus  wird zum Beispiel von Harold Bloom (Shakespeare - The Invention of the Human, New York 1998) und anderen gemeinsam mit Hamlet, Othello, Macbeth und King Lear zu den großen Tragödien gerechnet, also zu dem Höhepunkt von Shakespeares Schöpfungskraft. Es wurde am 20. Mai 1608 zum Druck angemeldet, und zwar gleichzeitig mit Pericles, das nicht im First Folio enthalten war und auch nicht als vollständig „Shakespear'sch" bewertet wird. Shakespeare soll nur die letzten drei Akte geschrieben haben, die ersten beiden Akte werden einem gewissen George Wilkins zugeschrieben, einem Bordellbesitzer. Ein George Wilkins schrieb 1608 auch eine Erzählung über Pericles. Ob das nun der Bordellbesitzer ist, bleibt fraglich. Aber man hat sich nun mal darauf „geeinigt", dass George Wilkins die beiden ersten, Shakespeare, die drei letzten Akte schrieb. Pericles soll auch Shakespeares „späte Phase" eingeleitet haben. Die drei anderen Stücke der „späten Phase" sind: The Winter's Tale, Cymbeline und The Tempest. Nach Bloom (und nicht nur nach ihm) heben sich diese Stücke von den großen Tragödien, inklusive Antony and Cleopatra, dadurch ab, dass Shakespeare hier nicht mehr „das Menschliche erfindet" (Harold Bloom). Anders ausgedrückt; alle Charaktere in diesen Stücken entbehren psychologischer Tiefe, Innerlichkeit. Doch nicht nur in diesen Stücken, auch in Coriolanus und Timon of Athens fehle diese Innerlichkeit. Die beiden letzteren Stücke werden nicht zu ganz späten Phase der Romanzen gezählt. Folglich muss Shakespeare vor dem 20. Mai 1608 mit Pericles seine „späte Phase" eingeläutet haben, gleichzeitig aber auch noch ein Stück, Antony and Cleopatra, geschrieben haben, das zu seiner Glanzzeit als Tragödiendichter zu zählen ist. Und im gleichen Jahr auch noch zwei weitere Stücke, die „irgendwie" zwischen „später Phase" und Glanzzeit liegen: Coriolanus und Timon of Athens. Diese Vorstellung ist gewiss nicht sonderlich chrono-logisch. Man kann sich des Kalauers kaum erwehren: 1608 fuhr Shakespeare schöpferisch auf der 8er-Bahn. Glaubwürdig wird dies alles vor allem durch Wiederholung.

Die orthodoxe Chronologie hat mit einem weiteren Problem zu kämpfen. Zwischen 1598 und 1604 werden mehrere Stücke im Quartoformat gedruckt, die Mehrzahl in guten Fassungen, so dass man im Gegensatz zu den späteren verderbten Fassungen von einer zumindest diskreten Mitwirkung des Verfassers auszugehen hat (was auch orthodoxe Forscher wie z. B. Edmund Chambers tun). Bei der Drucklegung dieser Stücke spielt der Drucker James Roberts eine große Rolle (siehe Robert Detobel, Wie aus Shaxsper Shakespeare wurde, Buchholz 2005, und Shakespeare: The Concealed Poet, 2009). Nach dem Druck von Hamlet in der zweiten Hälfte des Jahres 1604 zieht sich James Roberts von der Drucklegung Shakespear'scher Werke zurück. In dieser Zeit hat Shakespeare offenbar die Herausgabe seiner Stücke beaufsichtigt. Nach 1604 jedoch hätte er dann jegliches Interesse daran verloren. Glaubt man Shakespeares Schauspielerkollegen John Heminges und Henry Condell, den (angeblichen) Herausgebern des First Folio, so hätten sie, nachdem Shakespeare durch den Tod seines Rechtes, die Herausgabe seiner Stücke zu beaufsichtigen („to oversee"), „beraubt" worden war, die Stücke gesammelt und textlich zurechtgerückt.

Das wäre dann ab dem Jahr 1604. Geht man von Shakespeare als Verfasser aus, so müsste, salopp ausgedrückt, 1604 Shakespeare zu seinen Kollegen gesagt haben: „Jungs, ich habe es satt, immer auf die ordentliche Wiedergabe der Texte meiner Stücke zu achten; besorgt ihr das man; ich will sowieso bald wieder nach Stratford". Oder Heminges und Condell erfanden, das beschämende plötzliche Desinteresse des Autors zu verhehlen, eine fromme Lüge, wenn sie schrieben, dass es der Tod war, der Shakespeare daran gehindert hatte, die Herausgabe seiner Stücke zu beaufsichtigen.

Welches Bild ergibt sich für Oxford als Verfasser? Ein sehr viel konsistenteres, scheint es. Er starb im Juni 1604. In der zweiten Hälfte dieses Jahres druckt James Roberts Hamlet. Danach druckt James Roberts kein einziges Shakespearestück mehr. Die große Lücke zwischen 1604 und 1616 leuchtet dann ein.

Othello ist ein anderes Stück, an dem die orthodoxe Chronologie zerschellt. Es kann nicht erst 1604 geschrieben worden sein, weil Ben Jonson es in Every man in His Humour bereits 1598 parodiert hat.  

Auf jeden Fall: Ist Oxford der Verfasser, haben Heminges und Condell die Wahrheit geschrieben.

© Robert Detobel 2012