Der Strohmann - Probleme der Oxford-Theorie (2)

Er war ein vorzüglicher Strohmann, weil er nicht schreiben konnte. Wer wäre in Stratford-upon-Avon auf die Idee gekommen, ihn zu fragen, ob er der Verfasser der Shakespear'schen Werke sei? Eine solche Frage wäre peinlich für ihn gewesen. Dass sich aus Stratford anlässlich seines Todes keine würdigende Stimme verlauten ließ, ist dann auch nicht weiter verwunderlich.  Wäre er doch der Verfasser gewesen, hätten sich dann in Stratford-upon-Avon Stimmen verlauten lassen? Thomas Greene, sein Vetter, der zeitweilig bei ihm gewohnt haben soll, hätte sicher einige Verse schreiben können (er schrieb Lobverse auf seinen Freund, den Dichter Michael Drayton, der sich häufiger in der Nähe von Stratford aufhielt). Aber Thomas Greene erwähnt Shakspere nur einige Male im Zusammenhang mit Einhegungen von Weideland. Oder Richard Field, der Drucker der beiden langen Gedichte, Venus and Adonis und The Rape of Lucrece, die Shakespeares Dichterruhm begründeten, Richard Field, der aus Stratford-upon-Avon stammte, aller Wahrscheinlichkeit nach dann und wann seine Familie besuchte, er hätte den Ruhm seines Nachbarn in Stratford-upon-Avon als Autor von zwei aktuellen Bestsellern weiter verbreiten können.

Er war ein vorzüglicher Strohmann, weil er nicht schreiben konnte. Weshalb er ja kaum das Geheimnis hätte ausplaudern können. Hätte er verkünden sollen: „Wisst ihr was? Ich verrate euch was. William Shakespeare, der große Dichter, das bin ich doch gar nicht. Da wundert ihr euch, was?"

Auch in London blieben alle stumm. Einige wussten doch, dass er gestorben war. Seine Schauspielerkollegen Richard Burbage, John Heminges und Henry Condell - sie wurden nach gutem Brauch unter „fellows", Teilhabern, mit einem Geldbetrag zum Kauf eines Gedächtnisringes beschenkt (woran der „überragende fellow" Shakspere in der ersten Fassung seines Testaments nicht gedacht hatte). Aber sie schwiegen alle. 

Er war ein vorzüglicher Strohmann, weil er nicht schreiben konnte. Dass er in Verlegenheit geriet, wenn er aufgefordert wurde zu schreiben, und dass er Gesellschaft mied, war alles, was der Schauspieler und Theatermanager William Beeston, um 1680 John Aubrey mitzuteilen wusste. Und der war der Sohn des Schauspielers und Theatermanagers Christopher Beeston, der, Ben Jonsons Angabe zufolge, 1598 mit William Shakespeare in seinem Stück Every Man In His Humour, mitgewirkt hatte. Dass Shakespeare in London nicht zu sehr in den Vordergrund treten durfte, sein Bild als einer, der nicht schreiben konnte, sich nicht ins öffentliche Gedächtnis einnisten durfte, ist logisch. Er musste ein eher „low profile" wahren, als Londoner Gesellschaftslöwe durfte er sich auf keinen Fall produzieren. William Beestons Mitteilung bestätigt es: er war kein „company keeper".

Soweit schließt sich der Kreis prächtig konsistent - und wird von einem Paradoxon doch erneut aufgebrochen. Denn wozu ein Strohmann, der, weil er nicht schreiben kann, ein unmöglicher Strohmann ist? Oder um es noch etwas pointierter zu stellen: Warum ein Stroh-Mann, wenn dieser Mann zum Double eines seine Identität verbergenden Autors so wenig taugt? Wozu taugt dann dem Autor überhaupt ein zweiter Mann gleichen Namens? Denn der Mann ist da. Warum wird er ins Spiel gebracht? Wann und wie?

Wenn zu Lebzeiten des Autors Shakespeare ein anderer Shakesper oder Shakespeare sich in Theaterkreisen aufhielt, dem zu einer Autorschaft die elementare Voraussetzung fehlte, nämlich schreiben zu können, ein Mann, der selbst wenig Eignung mitbrachte als dem Autor die bloße Anonymität wahren zu helfen oder ihm seinen Namen William Shakespeare als Pseudonym zu überlassen, wozu war dann überhaupt in London ein William Shakespere oder Shakespeare aus Fleisch und Blut nötig? Warum die Stücke nicht anonym veröffentlichen, wie es übrigens zunächst geschah, oder unter dem Pseudonym William Shakespeare? Ein Pseudonym oder die Anonymität wäre mindestens so wirksam gewesen wie ein Stroh-Mann, der nicht schreiben konnte. Welche größere Konkretion, welchen besseren leiblichen Schein hätte ein solcher Mann einem Pseudonym oder der Anonymität verleihen können? Im Gegenteil: er hätte den Schein zerstört, während Pseudonyme oder Anonymität eher respektiert wurden.

Dieses „low profile" konnte er eigentlich am besten wahren, wenn er in Stratford blieb und sich in London möglichst wenig blicken ließ. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass er just zu jenem Zeitpunkt, im Mai 1597, ein Haus in Stratford kauft, spätestens dann Getreide zu horten beginnt, wie wir es aus den Briefen zwischen seinen Geschäftspartnern Abraham Sturley und Richard Quiney und aus dem Bericht der Inspekteure im Februar 1598 wissen, als die ersten Stücke erscheinen, erst anonym, dann unter dem Namen William Shake-speare. Bis Francis Meres im Herbst 1598 in seinem „Comparative Discourse" den Bindestrich verschwinden lässt.

Fazit: Wenn wir versuchen wollen, eine Antwort auf die Frage zu geben, warum da überhaupt ein Mann namens William Shakespeare aufkreuzen musste, werden wir das nicht an der Autorschaft festmachen können!

Vielleicht an der Teilhaberschaft? War Oxford vielleicht der wahre Teilhaber, der sich hinter William Shakespeare versteckte? Hamlets Worte nach der Aufführung des Stückes „Die Mausefalle" wären in diesem Fall zugleich eine eminent autobiografische Aussage:

Hamlet:  Sollte nicht dies und ein Wald von Federbüschen (wenn
             meine sonstige Anwartschaft in die Pilze geht) nebst
             ein paar gepufften Rosen auf meinen gekerbten Schuhen
             mir zu einem Platz in einer Schauspielergesellschaft
             verhelfen?
Horatio:  O ja, einen halben Anteil an der Einnahme.
Hamlet:  Nein, einen ganzen.

Mit der Annahme, dass Shakspere Strohmann für den wahren Teilhaber Oxford im Ensemble der Chamberlain's/King's Men war, bewegen wir uns einen Riesenschritt auf die Lösung des Paradoxons zu. Ein solches Verhältnis vermutet Andrew Gurr zwischen einem gewissen John Tarbock und Robert Keysar bei einem Kinderensemble, das, weil es im Blackfriars-Theater spielte, bis 1608 Blackfriars Boys und danach King's Revels Boys hieß. Während von John Tarbock nichts bekannt ist, war Robert Keysar, Goldschmied und Theatermanager, Freund des Schriftstellers Francis Beaumont, die treibende Kraft des Ensembles, obwohl sein Name nicht als Teilhaber erwähnt wird. Gurr vermutet, dass Tarbock lediglich ein Strohmann für Keysar war. 1610 strengt Keysar ein Gerichtsverfahren gegen die King's Men an, die ihn aus dem Blackfriars-Theater ausgebootet hatten. Eine wichtige Rolle spielte dabei Henry Evans, der bereits in den 1580er Jahren mit dem Blackfriars-Theater (und mit Oxford und John Lyly) verbunden war. In der Klageschrift werden die Teihaber Cuthbert und Richard Burbage sowie John Heminges und Henry Condell genannt, dazu weitere Teilhaber namenlos unter „und andere". Wer waren diese „anderen"? Da war zunächst ein gewisser Thomas Evans, von dem ebensowenig bekannt ist wie von John Tarbock und der höchst wahrscheinlich ein Strohmann für die treibende Kraft Henry Evans war, der allerdings die Öffentlichkeit scheuen musste, weil ein Gerichtsverfahren gegen ihn anhängig war. Außer Thomas Evans gab es 1610 nur noch einen „anderen", der unter „anderen" lief: William Shakespeare. Entweder kannte Robert Keysar, der Theatermanager, den „Theatermanager" und Teilhaber William Shakespeare nicht oder er hielt ihn für unbedeutend - oder wie Thomas Evans für einen Strohmann, für „nicht operativ". 

Es wurde oben festgestellt, dass William Shakespeare am besten sein „low profile" wahren konnte, indem er möglichst selten in London auftauchte. Ja, warum hat er sich denn überhaupt in London blicken lassen? Wir kennen von ihm nur zwei längere Aufenthalte in London: im Herbst 1598 und 1603/4. Beide Male war die Anwesenheit des Teilhabers Shakespeare notwendig, im Herbst 1598 im Zusammenhang mit den Verhandlungen über die Anmietung des Globe-Theaters und dem Vertrag über die Teilhaberschaften (der im Februar 1599 geschlossen wurde) und im Mai 1603 mit der Entgegennahme der königlichen Lizenz, wodurch die Schauspieler formal zu Dienern des Königs wurden, weshalb sie auch in der Krönungsprozession mit marschieren mussten. Wegen der Pestepidemie fand diese Krönungsprozession erst ein Jahr später im März 1604 statt.

Jetzt wissen wir definitiv, warum Oxford einen „Stroh-Mann" William Shakespeare brauchte. Und nur griesgrämige Kritikaster, die uns die Lösung des Paradoxons nicht gönnen, weil sie niemandem je etwas gönnen, werden sich noch unterstehen, dies anzuzweifeln. Man hört sie schon fragen: Wieso musste dieser Strohmann für Oxford William Shakespeare heißen? Warum nicht Tom Jarbock oder John Evans?

Leider haben die Kritikaster in diesem Punkt Recht. Was hier vorliegt, ist weniger ein Strohmann- als ein Treuhandverhältnis. Treuhandverhältnisse waren spätestens seit dem 14. Jahrhundert gang und gäbe. Sie begründeten eine doppelte Eigentümerschaft. „Use" war der gewöhnliche Terminus für das, was später „trust" genannt wurde. Der nominelle Eigentümer hieß „feoffee to use", und er war vor dem Common Law der rechtmäßige Eigentümer. In unserem Fall wären das John Tarbock, Thomas Evans und William Shakespeare. Der materielle Eigentümer hieß im anglonormannischen Rechtsjargon „cestuy que use" und er war ebenfalls rechtmäßiger Eigentümer im parallelen Rechtssystem „equity". Wurde vor einem Common-Law-Gericht verhandelt, war der nominelle Eigentümer Rechtssubjekt; wurde vor einem Equity-Gericht (in erster Linie Chancery oder Kanzlergericht) verhandelt, war es der materielle Eigentümer. Um ein solches Rechtsverhältnis (zwischen den Partnern oder vor den Gerichten) zu konstituieren, war nicht einmal eine schriftliche Vereinbarung erforderlich. Und es ist in der Tat schwer einzusehen, warum Oxford einen Treuhänder namens William Shakespeare benötigt haben sollte (in den 1580er Jahren lag für das Blackfriars-Theater möglicherweise ein ähnliches Verhältnis zwischen einerseits Oxford und andererseits John Lyly oder Henry Evans vor). 

Wir haben jetzt nur noch einen Trumpf in der Hand: den Schauspieler.

In seinem Aufsatz über den Earl of Oxford und den Hosenbandorden hat Peter Moore gezeigt, dass Oxford von 1581-84 bei der Wahl zum Hosenbandorden keine einzige Stimme mehr erhielt, was ein sicheres Indiz ist, dass er in Ungnade gefallen war. Die Ursache ist bekannt: die Affäre mit Anne Vavasour und die anschließenden Straßenkämpfe mit Vavasours Familie, vielleicht auch seine Denunziation von Charles Arundel und Lord Henry Howard. Nach 1584 - er genoss wieder die Gunst der Königin - erhielt er regelmäßig wieder mehrere Stimmen. Von 1590 bis 1604 erhielt er dann wieder keine einzige Stimme mehr (bis auf eine im Jahr 1604). Er muss demnach wieder in Ungnaden gefallen und innerhalb der eigenen aristokratischen Schicht marginalisiert worden sein. Aber weshalb?

Shakespeares Sonette 110 und 111 könnten einen Hinweis enthalten (dies scheint auch Peter Moores Ahnung oder Hypothese gewesen zu sein, obwohl er sie nicht ausdrücklich formulierte). Tatsächlich scheint das Sonett einen diskreten Hinweis auf zwei Perioden des „Fehlverhaltens" zu enthalten. Sonett 110:

Alas 'tis true, I have gone here and there,
And made myself a motley to the view,
Gored mine own thoughts, sold cheap what is most dear,
Made old offences of affections new.

In prosaischer Übersetzung: Es ist leider wahr, ich bin herumgestreunt und habe mich selbst den Blicken als Narren ausgesetzt, meine eigenen Gedanken über Bord geworfen, das Wertvollste billig verkauft und aus neuen Neigungen alte Verstöße begangen.

So vage die Andeutungen im Sonett auch sein mögen, sie stecken doch einen Ereignisrahmen ab, der zum Wechsel von Gunst und Ungunst in Oxfords Leben passt. Die „alten Verstöße", „old offences" würden sich auf die Periode 1581-84 beziehen. Vorher hatte sich Oxford nicht standesgemäß verhalten. Die Verführung einer jungen Hofdame der Königin, vor allem aber der Rückfall in quasi-feudale Verhaltensweisen (das englische Wort für „Fehde" ist „feud" und setzt seine Herkunft aus dem feudalen Ehrenkodex erkennbarer frei als der deutsche Ausdruck) war unvereinbar mit dem höfisch-aristokratischen Verhaltenskodex, den Bathasar Gracián im 17. Jahrhundert im Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit knapp so umschrieb: „Keine höhere Herrschaft, als die über sich selbst und über seine Affekte". Diese Herrschaft über sich selbst und seine Affekte war ein fundamentales Element der Ideologie, mit der die höfische Aristokratie, anders als die feudale Aristokratie, ihren Herrschaftsanspruch legitimierte. Diese Ideologie verpflichtete die Aristokratie als Ganzes.

Aber was könnten denn die „neuen Neigungen", die „affections new" gewesen sein? In ihrer Analyse dieses Sonettes schreibt Helen Vendler: „One senses from subsequent lines that the speaker has been reviling himself inwardly with accusations quite different from the one of self-exposure voiced by the young man." ("Aus den folgenden Zeilen erahnt man, dass der Sprecher sich innerlich ganz anderer Dinge bezichtigt als der Selbstbloßstellung, die ihm der junge Mann vorgeworfen hat".) „Self-exposure" könnte man als „Selbstbloßstellung" oder „Sich-selbst-zur-Schau-Stellen" wiedergeben. Das Wort „exposure" benutzen wir als Sprungbrett zu einem anderen Text, der auf den ersten Blick himmelweit von diesem Sonett entfernt scheint: Es ist das 14. Buch von Tacitus' Annalen. In diesem Buch wirft Tacitus dem Kaiser Nero seine künstlerischen Darbietungen vor, nicht die künstlerische Darbietung als solche, sondern dass er sie in aller Öffentlichkeit, vor den Augen der Masse vollzieht, dass er sich den Blicken der vulgären Menge aussetzt. An einer Stelle benutzt der englische Übersetzer genau dieses Wort: „exposure". 1531 veröffentlicht Sir Thomas Elyot sein Book named the Governor. Es ist ein Erziehungshandbuch für Adelige, für den neuen Adel genau genommen. Elyot legt dar, wie sich ein Aristokrat zu verhalten habe, um als „governor", sprich „politischer Führer" in Frage zu kommen. Elyot meint doch genau das, wenn er dem Adeligen durchaus empfiehlt, sich in den Künsten zu üben: Schauspiel, Musik, Malerei, aber die Ausübung dieser Künste ist immer auf die private Sphäre zu beschränken. Er soll diese Künste nicht vor den Augen der großen Menge ausüben, denn das würde dazu führen, dass die Menge den Respekt vor ihm verliert.

Die Herrschaftslegitimation der Aristokratie beruhte längst nicht nur auf Abstammung. Sie beruhte auch auf Reichtum, aber auch nicht nur darauf. Sie beruhte auch darauf, dass sich die höfische Aristokratie als Garant des Gemeinwohls wider dem „Eigennutz" der reichen Händlerschaft darstellte, was sich in ostentativem Konsum niederschlug. Und sie beruhte auch auf der ostentativen Demonstration der Selbstbeherrschung und der verfeinerten Lebensweise. Wie sehr diese Selbstdarstellung zum Fundament der höfischen Aristokratie gehörte, mag eine Stelle aus dem Buch veranschaulichen, das man als die Bibel der höfischen Aristokratie bezeichnen könnte, Castigliones Buch vom Hofmann (Buch II.xi). „Es gibt noch andere Übungen, die man öffentlich und privat ausführen kann, wie etwa das Tanzen. Auch darauf muss der Hofmann nach meiner Meinung achtgeben. Wenn er in Gegenwart vieler und an einem volkreichen Orte tanzt, scheint es mir schicklich für ihn zu sein, eine gewisse Würde zu bewahren, die jedoch durch eine zarte und feine Anmut gemäßigt wird; und obgleich er sich äußerst beweglich fühlt und genügend Empfinden für Rhythmus und Takt besitzt, lasse er sich doch nicht auf jene Fußkunststücke und doppelten Aufschläge ein, die wir unserem Barletta ausgezeichnet anstehen sehen, die einem Edelmann indessen wenig angemessen sein würden, obwohl ihm privat in einem Gemach, wie wir uns jetzt befinden, nach meiner Meinung sowohl dieses als auch der Tanz von Moresken und brandi gestattet ist. Für die Öffentlichkeit aber gilt dies nicht..." Hier sehen wir wieder die strikte Trennung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Wenig später verrät Castiglione die politische Rationalität solcher Verhaltensvorschriften. Wenn ein Fürst sich verkleidet, solle er das nie als Fürst tun. Ein Ritter soll sich auch nicht als Ritter verkleiden, sondern als etwas, das er in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht ist, etwa als wilder Hirte, denn „Außer daß er auf diese Weise bei den Spielen dasselbe tut, was er gegebenenfalls aus Pflicht tun muß, nimmt er auch der Wahrheit das Ansehen, und es würde fast so aussehen, als ob selbst diese noch ein Spiel sei." Das allerdings war ein wesentliches Merkmal der höfisch-aristokratischen Herrschaft: ein Schauspiel. Norbert Elias hat die Selbstdarstellung als Notwendigkeit der höfischen „Figuration" betont. Er hätte dazu den ersten Absatz aus Graciáns Hand-Orakel zitieren können: „Alles hat heutzutage seinen Gipfel erreicht, aber die Kunst, sich geltend zu machen, den höchsten. Mehr gehört jetzt zu einem Weisen, als in alten Zeiten zu sieben: und mehr ist erfordert, um in diesen Zeiten mit einem einzigen Menschen fertig zu werden, als in vorigen mit einem ganzen Volke."

Man kann die obigen Empfehlungen Castigliones in Bezug auf das Tanzen von Moresken und Brandi mit der Verneinung von Shakespeares zweiter Zeile zusammenfassen: „not to make oneself a motley to the view", sich nicht den Blicken der Menge auszusetzen. Das hatte nun Shakespeare offenbar getan, wie wir aus dem berühmten Epigramm des John Davies of Hereford wissen. Er habe „königliche Rollen" gespielt, sonst wäre er Begleiter eines Königs gewesen. Begleiter eines Königs war ein Hofmann, genauer: ein Hofmann, der nicht die Gunst des Monarchen verwirkt hatte und der vom Hofe nicht verbannt war.

Was bisher übersehen worden ist: Im Herbst 1592 bestätigt Henry Chettle in seiner Apologie diese Aussage des Epigrammes. Diese Apologie ist bisher recht oberflächlich untersucht worden. Es sei kurz daran erinnert: Im September 1592 erscheint wenige Wochen nach Robert Greenes Tod Greene's Groatsworth of Wit. Die Erzählung enthält eine Warnung an drei Bühnenschriftsteller. Zwei dieser Schriftsteller sind zufriedenstellend identifiziert worden: Christopher Marlowe, der des Atheismus beschuldigt wird, und Thomas Nashe, dem Respektlosigkeit gegenüber Gelehrten vorgeworfen wird. Henry Chettle, der Herausgeber von Greenes Erzählung, wurde der Verfasserschaft verdächtigt und - offensichtlich uner Androhung einer Strafe - gezwungen, eine öffentliche Entschuldigung zu schreiben. Als Kandidaten für den dritten Schriftsteller sind William Shakespeare und George Peele genannt worden. Unsere These lautet, dass es sich um William Shakespeare handelt, um den verhinderten Hofmann William Shakespeare, den John Davies of Hereford meint. Die Identifikation George Peeles beruht auf einer etwas zu simplen Fixierung auf den Satz „and were it not an idolatrous oath, I would swear by sweet S. George, thou art unworthy better hap" („und wäre es kein abgöttischer Eid, ich würde beim lieben heiligen Georg schwören, dass du eines besseren Loses nicht würdig bist"). Nun ist der heilige Georg der Schutzheilige Englands; bei ihm zu schwören dürfte doch ziemlich geläufig gewesen sein. Außerdem enthält Chettles Apologie einige weitere Hinweise, die nie richtig untersucht worden sind und die George Peele ausschließen. Man ist nie der Frage nachgegangen, weshalb Chettle erklärt, er müsse sich bei zwei der drei Schriftsteller entschuldigen, sei sich jedoch nicht sicher, ob einer von ihnen wirklich beleidigt gewesen sei. Denn dieser Schriftsteller hatte, anders als Marlowe, nicht selbst einen Widerruf gefordert. Anders als bei Marlowe hatte sich Chettle auch nicht p e r s ö n l i c h bei diesem Schriftsteller entschuldigt. Einige hohe Herren („divers of worship") hatten sich bei Chettle gemeldet. Nun ist die Rechtslage ziemlich eindeutig. In beiden Fällen handelte es sich um eine Verleumdung („libel"). Je nachdem ob es sich um die Verleumdung eines Gemeinen durch einen Gemeinen oder eines Aristokraten durch einen Gemeinen handelte, galten ganz andere strafrechtliche Maßstäbe. Verleumdete ein Gemeiner einen anderen Gemeinen, konnte der Verleumdete vor Gericht ziehen; das nicht zu tun, ist es, worum Chettle den einen Schriftsteller in einer persönlichen Entschuldigung bittet. Verleumdete aber ein Gemeiner einen Aristokraten, war das keine private Angelegenheit mehr, auch nicht die Privatsache des Verleumdeten, sondern Staatssache. Kraft Gesetz hatte der Privy Council („Kronrat" oder „Geheimrat")  zu intervenieren. Die „divers of worship" waren mit Sicherheit nicht einfach Adelige, die ohnehin als private Adelige Chettle keine Strafe hätten androhen können, sondern Mitglieder des Privy Council. Was erklärt, weshalb Chettle nicht wusste, ob der wirklich beleidigt war, und auch keine persönliche Entschuldigung an ihn richtete. Mit anderen Worten: der dritte Schriftsteller war ein Aristokrat.

Chettle gibt uns nun noch eine weitere wichtige Information. Er schreibt: „because my selfe have seene his demeanor no lesse civill, than he exelent in the qualitie he professes". Diese Auskunft ist nun eindeutig. „The quality he professes" ist eine feste zeitgenössische Redewendung zur Bezeichnung des Schauspieleberufes. Chettle habe also die Gelegenheit gehabt festzustellen, dass das Verhalten des dritten Schriftstellers ebenso „zivil", d. h. „ehrenhaft", war wie seine Schauspielkunst ausgezeichnet. Der dritte Schriftsteller war demnach ein Aristokrat, der bei mehreren Gelegenheiten als Schauspieler aufgetreten war, und zwar öffentlich, was eigentlich genau das ist, was uns John Davis of Hereford in seinem Epigramm sagt. Man kann deshalb davon ausgehen, dass dieser aristokratische Schriftsteller auch dabei war, den Ruf eines guten Schauspielers zu erwerben. Was natürlich völlig unvereinbar mit dem aristokratischen Status und Grund genug war, ihn wegen unangemessenen Verhaltens vom Hof zu verbannen.

Es stellt sich nun die Frage, wie dieser Aristokrat das aus Adelssicht negative gesellschaftliche Image eines Schauspielers wieder loswerden konnte. Zunächst natürlich dadurch, indem er fortan auf solche öffentlichen Auftritte verzichtete. Wenn nun dieser aristokratische Dichter 1593 Venus and Adonis und The Rape of Lucrece unter dem Namen William Shakespeare veröffentlicht, dann war es möglich, das Image des Schauspielers mit der Zeit loszuwerden, indem ein Schauspieler William Shakespeare herbeigerufen wird, der zwar zunächst nicht als Schriftsteller identifiziert werden kann, wohl aber als Schauspieler.

Es kam in der höfisch-aristokratischen mehr auf den Schein als das Sein, mehr auf den Wahrheitsschein als die Wahrheit an. „In Betracht von Verträgen und Verkehr mit anderen, muss einer die Maxime beherzigen, dem anderen kein Unrecht zuzufügen, wobei gilt, dass wenn das Unrecht durch einen Schein von Wahrheit („vérisimilitude") verdeckt und verborgen ist (denn man will sich doch die Dinge nicht so genau anschauen)... sowas sehr lobenswert ist", so charakterisiert der französische Schriftsteller Philibert de Vienne spöttisch bereits 1547 die Philosophie der höfischen Gesellschaft in Le Philosophe de la Cour. Man kann auch Robert Greene in seinem Brief an die „Gentlemen Students" zu Greene's Farewell to Follie als Zeuge zitieren: „wenn sie selbst dazu kommen, etwas zu schreiben oder in Druck zu veröffentlichen, ist es entweder Balladen entnommen oder geborgt von theologischen Dichtern, die wegen ihres Rufes und Ernsthaftigkeit abgeneigt sind, profane Schriften unter ihrem Namen zu veröffentlichen, weshalb sie irgendeinen Batillus anheuern, seinen Namen drunter zu setzen. Auf diese Weise brüstet sich der Esel mit diesem heimlichen Geschäft. Und er, der er kein richtiges Englisch schreiben kann ohne die Hilfe der Kleriker der Pfarrkirchen, wird sich selbst zum Vater der Interludien erklären."

Es kam also in erster Linie auf eine äußere Distanzierung an, die nur den Anschein von Wahrheit zu besitzen brauchte. Niemand hat diesen Sachverhalt dichter ausgedrückt als der Dichter William Shakespeare in Wie es euch gefällt:

Touchstone (Probstein): Gebt mir Eure Hand. Bist du gelehrt?
William (Wilhelm): Nein, Herr.
Touchstone: So lerne dies von mir: Haben ist haben, denn es ist eine Figur in der Redekunst, daß Getränk, wenn es aus einem Becher in ein Glas geschüttet wird, eines leer macht, indem es das andere anfüllt: denn alle unsere Schriftsteller geben zu: ipse ist „er": Ihr seid aber nicht ipse, denn ich bin „er".
William: Was für ein Er, Herr?
Touchstone: Der Er, Herr, der das Mädchen heiraten muß! (V.1)

Man kann das auch allegorisch lesen, wenn man im Stück für „Mädchen", die Schäferin Audrey, das Wort „Muse" einsetzt. Denn in der Pastoralliteratur war die Schäferin auch immer die Muse. William, der Dorftrottel, war eben nicht dieser „Er". Und Er war im Gegensatz zu William mit der Muse verheiratet.

© Robert Detobel 2012