„Prinz-Tudor"- Phantasien: Charles Beauclerks Shakespeare's Lost Kingdom

In diesem 2010 erschienenen Buch vertritt Beauclerk die These, Edward de Vere, 17. Earl of Oxford,  sei der Bastardsohn von Königin Elisabeth I., während Henry Wriothesley, 3. Earl of Southampton, seinerseits der Bastardsohn aus der inzestuösen Beziehung der beiden sei. Diese These wurde zum ersten Mal durch Paul Streitz in seinem 2001 erschienenen Buch Oxford: Son of Elizabeth I. publik gemacht. Die gleiche These liegt auch Emmerichs Film Anonymous zugrunde. Allerdings behauptet der Drehbuchautor John Orloff, dass die erste Fassung seines Drehbuches bereits zwei Monate vor der Premiere von Shakespeare in Love fertig war, im Jahr 1998 also. Bezeichnenderweise kommt Paul Streitz aus der Unterhaltungsbranche, deren Hauptziel nicht die Wahrheit der Geschichte, sondern die Vermarktbarkeit einer bestimmten Geschichte ist, und deren Methode nicht das geduldige Abwägen der Fakten, sondern deren marktgerechte Zurechtschusterung: m. a. W., nicht „history" zählt, sondern „story", nicht wissenschaftliche Lauterkeit, sondern laute Selbstdarstellung. Im orthodoxen Lager bewegen sich einige Autoren ebenfalls in diese Richtung. Stephen Greenblatts Will in der Welt, ein Buch voller grober historischer Fehler, die von der profesionellen Rezensentenzunft meist nicht bemerkt worden sind, kann man als Versuch betrachten, den Film Shakespeare in Love zum Maßstab auch wissenschaftlicher Publikationen zu machen. James Shapiro, Greenblatts großer Konkurrent im Wettbewerb um die Rolle des medialen Bannerträgers der Orthodoxie in den USA, schert sich ebensowenig um Faktengenauigkeit und scheint in erster Linie auf das elegante Parlando zu setzen.

Auf welcher Ebene ist Beauclerks Buch anzusiedeln? Auf der Ebene des ernsten Sachbuches? Oder doch auch des Entertainments?

Es ist ein Albtraum mit dem Stammbaum

„Es Ist Ein Albtraum Ohne Stammbaum" war in den 1980er Jahren ein Gassenhauer des österreichischen Popsängers Rainhard Fendrich. Im elisabethanischen England allerdings war der Stammbaum, je mehr man sich darauf der königlichen Krone näherte, der Albtraum, denn manchmal war von dort der Weg zum Schafott oder zum Dolch des Mörders nicht mehr sehr weit. In einem anderen Sinne ist für uns, moderne Leser, der Stammbaum zum Albtraum geworden. Wer die Geschichte Englands in den Regierungszeiten Heinrichs VIII. und Edwards VI. liest, begegnet vier Namen und wäre vielleicht zunächst geneigt, für jeden Namen eine andere Person zu vermuten. Es handelt sich aber bei den vier Namen: John Dudley, Viscount de Lisle oder Lord Lisle, Earl of Warwick und Duke of Northumberland um eine und dieselbe Person, die in der Titelhierarchie emporstieg.

Wie verhält es sich nun mit dem Haus de Vere? Im Klappentext von Beauclerks Buch wird dieser als „Nachkomme" („descendant") von Edward de Vere ausgewiesen. Das ist nur sehr bedingt richtig. Die de Veres waren das älteste Adelhaus Englands, wie es bereits durch die Ordinalzahl 17 angezeigt wird. Das sollte auch noch fast ein Jahrhundert nach dem Tod Edward de Veres im Juni 1604 so bleiben. Aber es bedeutet nun keineswegs, dass der Titel immer von Vater auf Sohn vererbt worden wäre, sondern nur, dass er in männlicher Linie weitergegeben worden war. Schon 1392, als Robert, der 9. Earl of Oxford, kinderlos starb, ging der Titel auf seinen Onkel Aubrey über. Auf John, den 13. Earl, eine Schlüsselfigur in den Rosenkriegen,  folgte sein Neffe und auf diesen sein Vetter 2. Grades.   Vom 15. bis zum 18. wurde der Titel in direkter Vater-Sohn-Linie vererbt. Da Henry de Vere, 18. Earl of Oxford, 1625 kinderlos starb, ging der Titel auf einen Nebenzweig über, auf Robert, 19. Earl of Oxford. Die männliche Erbfolgelinie erlosch 1703 beim Tod von Aubrey, 20. Earl of Oxford. Der Titel Earl of Oxford wurde damit vakant und 1711 dem Lord Treasurer, Robert Harley, verliehen. Von da an wurde neu gezählt. Harley war der 1. Earl of Oxford.

Aubrey, 20. und letzter Graf von Oxford der alten de Vere-Linie, hatte mehrere Kinder, von denen jedoch nur die Tochter Diana überlebte. Sie heiratete Charles Beauclerk, 1. Herzog von Saint Albans. Damit sind die Beauclerks die nächsten noch lebenden Verwandten von Edward de Vere, keinesfalls aber sind sie sehr nahe Verwandte. Und die Tatsache, dass sich der heutige Charles Beauclerk in den 1980er Jahren Lord Vere und in den 1990er Jahren Earl of Burford nannte, hatte mit dieser fernen Verwandschaft mit dem alten Adelshaus de Vere nichts zu tun. Es verhält sich folgendermaßen: (siehe Herkunft und Vorfahren)

Königliche Bastarde und Thronanspruch

Charles Beauclerk, 1. Duke of Saint Albans, hat, als Jakob II. 1685 die Nachfolge seines Bruders Karl antrat, keinen Anspruch auf den britischen Thron erhoben, ebensowenig wie irgendein anderer der vielen Bastardsöhne Karls II. (es sind bis zu vierzehn gezählt worden): Weil ein Bastardsohn, und sei er noch so königlich, keinen  Anspruch auf die Thronnachfolge besaß.

Aber war da nicht James Scott, ein anderer unehelicher Sohn Karls II., den er mit Lucy Walter, einer keinen guten Ruf genießenden Dame, während seines Exils in den Niederlanden 1649 gezeugt haben soll? Historiker haben bezweifelt, ob James Scott wirklich Karls unehelicher Sohn sei, da Mrs. Walter wohl auch noch andere Liebhaber hatte. Aber das spielte keine Rolle, weil der König ihn als seinen eigenen Sohn anerkannt hatte. Der Lebemann Karl II. war vielleicht nicht bereit, sich auch nur eine Vaterschaft streitig machen zu lassen. Wie seine anderen unehelichen Söhne wurde auch James Scott mit Ehr und Gut reichlich versorgt. Er erhielt den Titel von Duke of Monmouth and Buccleuch. Aber auch Monmouth wusste, dass er als Bastard keinen Anspruch auf die Nachfolge Karls II. erheben konnte. Er behauptete deshalb, Karl II. hätte Lucy Walter rechtmäßig geheiratet und er selbst sei folglich kein Bastard. Karl II. lehnte dieses Ansinnen vor dem Parlament ab. Damit war klar, dass Monmouth niemals König von England, Schottland und Irland hätte werden können. Selbst dann nicht, wenn seine Rebellion gegen Jakob II. 1685 von Erfolg gekrönt worden wäre. Sie war es nicht. Monmouth wurde wegen Hochverrats geköpft.

Man könnte sich fragen, wie es um Monmouths Anspruch auf den Thron bestellt gewesen wäre, wenn Karl II. nachträglich seine Ehe mit Lucy Walter bestätigt worden wäre. In diesem rein hypothetischen Fall hätte das Parlament Monmouth als legitimen Sohn anerkennen können. Dennoch wäre es fraglich geblieben, ob es zugleich auch seinen Anspruch auf den Thron anerkannt hätte. Denn es gab Ende des 14. Jahrhunderts einen Präzedenzfall (den Beauclerk in seinem Buch übrigens streift, aber auch nur flüchtig streift, denn darauf einzugehen, hätte seiner Grundthese eines Anspruches auf die Krone der angeblichen königlichen Bastarde Oxford und Southampton weiter schmerzhaft zugesetzt). John of Gaunt, dritter Sohn Edwards III. und Vater Heinrichs IV., des ersten Königs aus dem Hause Lancaster, zeugte mit seiner Mätresse Katherine Swynforde vier Bastardkinder. Später heiratete er sie, und seine Kinder wurden vom Parlament legitimiert, aber gleichzeitig ausdrücklich von der Thronnachfolge ausgeschlossen. Präzedenzfälle besaßen im englischen Recht großes Gewicht. Hätte Monmouth 1685 Jakob II. gestürzt, hätte sich das Parlament wohl zugunsten von William III. und seiner Gattin Mary II. ausgesprochen, wie es das drei Jahre später tat.

Selbst wenn man die Grundthese annimmt: dass nämlich Oxford der Bastardsohn der Königin und Southampton, der Sohn aus der inzestuösen Beziehung der Königin mit ihrem Bastardsohn, sei, fragt sich, welches Königreich Oxford und Southampton hätten verlieren können, auf das sie keinen gesetzlichen Anspruch hatten, und in wessen Einbildung sich ein solch irrealistischer Anspruch eingenistet hatte. Oxfords? Southamptons? Oder Beauclerks?

So wars : Wechselbälge, Inzest und Kalauer

Ja, so war es. 1548 wird die vierzehnjährige Prinzessin Elisabeth vom Lord Admiral Thomas Seymour verführt. Nichts gewesen, behauptete die Prinzessin, und erklärt sich bereit, den Beweis anzutreten, dass sie nicht schwanger ist. Der Brief, in dem sie sich dagegen verwahrt, schwanger zu sein, existiert. Nichts da, schreibt Beauclerk, William Cecil, der spätere Lord Burghley, habe den Brief gefälscht. Das Kind war da, schreibt Beauclerk, und zwar wurde es beim 16. Graf von Oxford untergebracht und als dessen Sohn ausgegeben. Dass Oxford erst im April 1550 geboren wurde, der junge König Edward VI. seinem Vater zur Taufe ein Geschenk gab, dass er 1571 in das Erwachsenenenalter eintrat usw., all das ist amtlich nachgewiesen. Beauclerk hat sich allerdings selbst einen Freibrief ausgestellt. Der Freibrief heißt, wie gesehen, William Cecil, Lord Burghley. Ungefähr alles, wodurch Beauclerk seine These hätte dokumentieren können, habe Burghley entweder verschwinden lassen oder gefälscht. Burghley sollte auch den 16. Grafen von Oxford vergiften lassen haben, als dieser drohte, das Geheimnis bekannt zu machen. Das Geheimnis ist natürlich, dass Oxford königlichen Blutes ist. Solche dreisten Behauptungen hindern den Verfasser nicht daran, später zu behaupten, das „königliche Blut", für dessen Geheimhaltung er zu morden bereit gewesen wäre, wünschte Burghley in die eigene Familie zu injizieren, weshalb er zunächst die eigene Tochter mit dem „königlichen Bastard" Oxford und gut zwanzig Jahre später das Enkelkind mit dem „königlichen Bastard" Southampton zu verheiraten suchte.

Aber Burghleys Machenschaften, so der Autor, blieben nicht allen Zeitgenossen verborgen. Beweis: 1597 widmete ein gewisser William Burton dem Grafen von Southampton seine Übersetzung der griechischen Romanze Leukippe und Kleitophon. In der Geschichte sollte Kleitophon seine Halbschwester Kalligone heiraten, verwirft aber die Halbschwester zugunsten der geliebten Leukippe. Das sei nun aber genau die Situation, in die Burghley 1592 den jungen Southampton hatte bringen wollen, als er ihm die Ehe mit seinem Enkelkind Elisabeth de Vere vorschlug. Denn Elisabeth de Vere war ja die Tochter Oxfords und somit, nach der Prince-Tudor-Theorie, die Halbschwester Southamptons. Es muss dem Autor ein übermenschliches Maß an Objektivität abverlangt haben, dass er sich diesen weiteren Inzest hat entgehen lassen. Stattdessen heiratete Southampton 1598 eine andere Elisabeth mit dem Familiennamen Vernon, also, schließt der Verfasser sehr hellsichtig, buchstäblich eine „Ver-non", eine „Vere-nein". Er liegt also nicht nur auf der Lauer, Burghleys Fälschungen und Unterschlagungen aufzudecken, auf der K-Lauer nach der königlichen Herkunft, sondern auch auf dem Kalauer, um Namen ihren verborgensten Sinn zu entlocken. Auf Seiten 151-152 wird die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass die Namen John Lyly, Robert Greene und Thomas Watson bloß Pseudonyme für Oxford gewesen seien. „Lyly", die „Lilie" war ja das Wappen der französischen Könige - aber diese Assoziation  ist dem Autor nicht eingefallen. Wohl aber über den Umweg der französischen Sprache die sinnvolle Beziehung des Namens Greene zu „Ver(e)"; das französische Wort für „green" ist „vert" und wird genauso ausgesprochen wie „Ver(e)". Der Siegerlorbeer geht jedoch an die Interpretation des Namens Thomas Watson. Thomas Watson (1555-1592) war ein Freund Christopher Marlowes und selbst ein Dichter. 1580 veröffentlichte er den Gedichtband Hekatompahia und widmete ihn dem Earl of Oxford. Mit dem  folgenden Satz versucht Beauclerk seine ganze Theorie aus einem einzigen Namen herauszulesen: hinter Thomas Watson verberge sich zumindest teilweise Oxford „Wiederum sind die Namen von Oxfords literarischen Partnern suggestiv. während Wat-son in Wirklichkeit „Sohn und Erbe" („son and heir") mit dem üblichen Wortspiel auf „Hase" („hare") bedeutet, für den „wat" eine gängige dialektische Bezeichnung war (man denkt unwillkürlich an den armen Hasen „Wat" in Venus und Adonis)" (S. 151). Watsons größter Konkurrent dürfte der Name Bassanio sein. „Anhänger des Earl of Oxford haben seit Langem erkannt, dass Bassanio - base son (of) E.O. - der schöne Jüngling der Sonette ist. (S. 335).

Gegen Ende des Buches (S. 369) wird der feierliche, latent prophetische Bogen geschlagen von William (Shakespeare/Oxford) und Henry (Southampton) zu den heutigen Prinzen William und Henry. „Nachdem er das Ansinnen de Cecils zurückgewiesen und die Gunst der Königin verloren hatte, begann Southampton, im Earl of Essex den einzigen Weg zum Thron oder zumindest das einzige Mittel zu erblicken, eine nicht von den Cecils dominierte Monarchie herbeizuführen [meine Anmerkung: Beauclerk zufolge war Essex ein weiterer königlicher Bastard]. Somit entschied er sich für das Schwert statt für die Feder, obwohl das Werk seines Vaters [Shakespeare] den Traum eines aufgeklärten Königtums bis auf den heutigen Tag am Leben erhält, da ein neuer William und ein neuer Henry abwarten, bis ihnen die Geschichte das Plazet erteilt." Vorsorglich - vielleicht für die Leser auf den Falkland-Inseln oder weil der Ausblick vom wolkigen Stil vernebelt ist - informiert eine Endnote, dass es sich um die heutigen Prinzen William und Henry handelt. Das Inzestthema wird hier nicht angerührt.

Doch ansonsten zieht es sich durch das ganze Buch. Das zweite Kapitel („The Blighted Rose", „Die brandige Rose") bildet ein Staccato instrumentaler und vokaler Variationen auf es. So wird insinuiert, dass Anne Boleyn, die zweite Ehefrau Heinrichs VIII. und Elisabeths Mutter, Heinrichs ureigene Tochter gewesen sein soll. Heinrich selbst soll behauptet haben, Elisabeth sei von George Boleyn mit seiner Schwester Anne gezeugt worden. Anne Boleyn wiederum verbrachte eine Zeit am Hofe der Königin Margarete von Navarra, der eine inzestuöse Beziehung zu ihrem Bruder König Franz I. nachgesagt worden sei. Schließlich hätte nach Ansicht der Königin von Navarra die Jungfrau Maria selbst überhaupt das Ideal des Inzests verkörpert, war sie doch zugleich Braut, Schwester, Tochter und Mutter Gottes. Zu guter Letzt kommen auch noch die Geschwisterehen der ptolemäischen Pharaonen zur Sprache. Wie kann man es da noch wagen, gegen die Allgegenwart des Inzests zu „ptolemaisieren"?

Auf dem Klappentext prangt eine überaus positive Einschätzung des Rezensenten der Zeitung Boston Globe: „Beauclerk hat nicht nur weltweit die Englischprofessoren an den Schulen und Universitäten skandalisiert, er hat auch den Historikern den Fehdehandschuh zugeworfen... und er hat in dieser seit langem schwelenden Debatte Anhänger um sich geschart." Es könnte einem auch vorkommen, als wäre hier einem Bengel mit jedem Kieselstein ein Schlag ins Wasser gelungen.

© Robert Detobel, 2011