AKA Shakespeare
AKA – das englische Kürzel für »Also Known As« – »auch bekannt als« – im Titel macht deutlich, dass das Buch von Peter A. Sturrock AKA Shakespeare die herkömmliche Ansicht über Shakespeare in Frage stellt. Es ist ein vollkommen neuer und bisher nie dagewesener Ansatz in der Autorschaftsfrage und mit nichts zu vergleichen, was bisher dazu veröffentlicht wurde.
Obwohl der Autor versucht, durch die erzählerische Form den üblichen Lesegewohnheiten zu entsprechen, kann die durchgängige Anwendung von Verfahren der Wahrscheinlichkeitsrechnung doch eine abschreckende Wirkung auf einige Leser haben, was bedauerlich wäre, denn es ist nicht nur ein ausgezeichnetes Buch, sondern es bietet auch ein wirkungsvolles Mittel, um die Rhetorik der Shakespeare-Orthodoxie zu untergraben. Das Ziel dieser Besprechung ist es, dies ungewöhnliche Buch Lesern näherzubringen. Und dies verdient ein ungewöhnliches Vorgehen und soll zunächst etwas anekdotisch geschehen:
Ich beginne mit einem Bericht, den mir kürzlich ein Freund erzählt hat:
Im vergangenen Juli war er nach Los Angeles geflogen. In der Ankunftshalle des Flughafens traf er unerwartet eine ehemalige Kollegin, die er seit ihrer Pensionierung nicht mehr getroffen hatte. Später ging er zu seinem Hotel, und als er einchecken wollte, traf ihn der Schlag: am Counter stand seine Schwester, die er seit drei Jahren nicht gesehen hatte. Sie hatte in L. A. studiert, aber das war lange her. Er hielt sie für eine Fatamorgana, aber es konnte kein Zweifel sein – es war wirklich seine Schwester. Am Abend ging er zu einem Konzert in der Disney Hall: Maxim Vengerov, mit Brahms und Lorin Maazel am Pult. In der Lounge traf er eine Frau, die er als seine erste Jugendfreundin Eva erkannte.
Glauben Sie diese Geschichte?
Wahrscheinlich so wenig wie ich. Und das zu Recht. Drei außerordentliche Treffen dieser Art hintereinander an einem Tag? Haben Sie so etwas selbst schon einmal erlebt? Ein einzelnes völlig unerwartetes Treffen – so etwas kommt vor. Aber drei? Im Leben nicht! Kurz: Die Geschichte hört sich völlig unwahrscheinlich an. Und tatsächlich stimmt auch nur der erste Teil. Die beiden anderen Teile sind erfunden, um Ihnen daran etwas über Wahrscheinlichkeiten zu demonstrieren.
Die meisten Menschen haben tatsächlich schon einmal völlig unerwartet einen lange nicht gesehenen anderen Menschen irgendwo wiedergetroffen. So etwas kommt vor. Aber wie wahrscheinlich ist es? Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Würfel eine 6 zu würfeln, ist 1:6. Die Wahrscheinlichkeit, die Jugendfreundin nach 20 Jahren irgendwo am anderen Ende der Welt in einem Konzertsaal zu treffen, dürfte weitaus geringer sein. Sie dürfen das gerne nach eigenem Empfinden selbst einschätzen, zum Beispiel 1:50 oder 1:1000 oder 1:10.000.
Die Wahrscheinlichkeit, mit einem Würfel bei 3 aufeinander folgenden Würfen jedes Mal eine 6 zu würfeln, beträgt 1: (6 x 6 x 6), also 1:216. Aber auch hier gilt: So etwas kommt vor, wenn auch nicht sehr oft.
Die Wahrscheinlichkeit, dass mein Freund eine ehemalige Kollegin, seine Schwester und Eva in L.A. trifft, beträgt – je nach Einschätzung – zum Beispiel 1: (50x50x50) oder 1: (1000 x 1000 x 1000), also 1:125.000 oder sogar 1:1.000.000.000 (sprich: 1 zu eine Milliarde). Fazit: im normalen Leben unmöglich.
Und deshalb hatten Sie – ohne Rechnung, sondern rein gefühlsmäßig – bei dieser unwahrscheinlichen Geschichte zu Recht große Zweifel.
Und damit zu Shakespeare.
Hamlet erzählt, dass er von Seeräubern überfallen worden ist. Nun ist Edward de Vere, der 17. Graf von Oxford, den etliche Forscher für den wahren Autor von Shakespeares Dramen halten, tatsächlich bei einer Schifffahrt von Seeräubern überfallen worden. Er kannte diese Erfahrung. Nur: Für den Shakespeare aus Stratford upon Avon ist keine einzige Schifffahrt belegt. Dass er je von Seeräubern überfallen wurde und Hamlets Erfahrung selbst gemacht hatte, kann man ausschließen. Oxfords Erfahrung ist hingegen belegt. Nun könnte es ja sein, dass der Shakespeare aus Stratford die Seeräuberepisode Hamlets mit dichterischer Fantasie frei erfunden hat, während in England ein Mann lebte, der die Geschichte ziemlich genau so erlebt hatte wie Hamlet, aber nichts mit dem Drama zu tun hat, wie uns gesagt wird. Die Übereinstimmung von de Veres Leben und dem literarischen Hamlet wäre dann eben reiner Zufall. Ein Zufall, sagen wir von 1: 1000. Warum 1 zu 1.000? Hier wird jeder Leser mit Recht ein großes Fragezeichen setzen. Um den Grundgedanken hier zunächst weiter entwickeln zu können, lassen wir es einstweilen stehen, betonen aber, dass die Frage weiter unten ausführlich behandelt wird, bevor wir zu Schlussfolgerungen kommen.
In Hamlet wird das Sprichwort »Während das Gras wächst …« (hungert das Pferd) zitiert.
Edward de Vere verwendet dies Sprichwort wörtlich in seinem Brief von 3. Januar 1576 an William Cecil, Lord Burghley. Bemerkenswert ist, dass nach allgemeiner Ansicht Polonius in Hamlet im Wesentlichen als Figur dem Burghley nachgebildet ist.
Nun ist es zweifellos viel wahrscheinlicher, dass Shakespeare das Sprichwort, das allgemein bekannt gewesen sein wird, verwendet als die nur privat bekannte Seeräubergeschichte.
Dennoch bleibt es ein mehr oder weniger (un)wahrscheinlicher Zufall, dass das Sprichwort bei beiden verwendet wird und das noch in ähnlichem Kontext (Burghley – Polonius): Ein Zufall, der aber nicht ganz so unwahrscheinlich ist wie im ersten Beispiel; sagen wir 1:50 oder gar nur 1:10.
Aber weiter: In Shakespeares Die beiden Veroneser wird ein Pater Patrick genannt. Merkwürdig genug: Ein irischer Mönch in Mailand? Tatsache aber ist, dass 1575 tatsächlich ein irischer Pater Patrick in Norditalien und höchstwahrscheinlich auch in Mailand war. Tatsache ist darüber hinaus auch, dass Edward de Vere ausgiebig Italien bereist hat und 1575 auch in Mailand war. Da von Pater Patrick damals in Norditalien gesprochen wurde, kann man davon ausgehen, dass Edward de Vere in Mailand seinen Namen gehört hat, ihm möglicherweise sogar selber begegnet ist. Auf der anderen Seite war der Kaufmann namens Shaksper (so schrieb er sich nämlich) aus Stratford upon Avon nie in Italien. Das ist schon sehr erstaunlich. Aber auch hier gilt: Es kann natürlich Zufall sein, dass in einem Shakespeare-Drama der Name eines Pater Patrik aus Mailand auftaucht und dass es gleichzeitig in England einen Grafen von Oxford gegeben hat, der von diesem Pater Patrick bei einem Mailand-Besuch gehört haben dürfte, dass aber dieser Graf von Oxford nichts mit dem Drama zu tun hat. Sagen wir, der Zufall beträgt wieder nur 1:1000 (aber siehe unten).
Weiter: William Shaksper aus Stratford hat sich jahrelang darum bemüht, ein eigenes Wappen führen zu dürfen. Nach Ablehnungen bekam er es schließlich. Als aber 1623 die erste Folio-Ausgabe von Shakespeares Werken herauskam, war in dieser Ausgabe nichts von dem Wappen des Mannes aus Stratford zu finden. Stattdessen aber fand sich in der Ausgabe ein Zierwerk mit der Heraldik der Grafen von Oxford: Der »Cayley Greyhound« – ein Mischwesen aus Hund, Hirsch und Antilope – dargestellt z. B. auf der Grabplatte in schwarzen Marmor des 15. Grafen von Oxford im der Kirche St. Nicholas im Ort Castle Hedingham.
Ein fast identisches Zierwerk findet sich schon 1582 in dem Buch Hekatompathia von Thomas Watson, das Edward de Vere gewidmet ist. (Siehe Abbildungen). Aber auch hier gilt: Es könnte natürlich Zufall sein. Irgendein Kupferstecher hat aus Zufall in die Folio-Ausgabe nicht das Wappen des William Shaksper aus Stratford, sondern eine Darstellung hereingebracht, die zufällig der Heraldik der Grafen von Oxford sehr ähnlich ist. So etwas kann ja theoretisch passieren. Nehmen wir auch hier eine Wahrscheinlichkeit von 1:1000 an. Oder sollten wir sie mit 1:100.000 ansetzen?
Fazit: Jeder einzelne Punkt könnte Zufall sein. Aber wenn man alle drei Sachverhalte zusammen nimmt, entsteht eine Zufalls-Wahrscheinlichkeit von 1 zu einer Milliarde (dabei wäre es noch 20-mal wahrscheinlicher, dass Sie morgen 6 Richtige im Lotto haben).
Glauben Sie das? Sie werden es so wenig glauben wie die unwahrscheinliche Geschichte aus L. A. – denn es ist absurd, so etwas für Zufall zu halten.
Alle drei oder vier Beispiele kann die Oxford-These aus dem biographischen Hintergrund oder der Herkunft de Veres erklären ohne irgendwelche Zusatzannahmen.
Die Stratford These – oder die These jedes andern Kandidaten – kann jedes Beispiel auch erklären, aber nur als zufällige Übereinstimmung mit den bekannten Fakten aus de Veres Biographie. Für jedes Beispiel ist der – im Prinzip mögliche – Zufall zu einer Erklärung zu bemühen. Für die Gesamtheit der Beispiele zusammen ist das nicht mehr möglich. Die Wahrscheinlichkeit schrumpft auf einen vollkommen unwahrscheinlich kleinen Betrag.
Die Grundregel der Wahrscheinlichkeitsrechnung besagt, dass sich die Wahrscheinlichkeiten von unabhängigen Einzelereignissen multiplizieren. Wer meint, das ignorieren zu können und, dass es möglich sei, jedes der Beispiele mit dem Zufall erklären zu können, ohne die Häufung der Einzeltatsachen zu berücksichtigen, verstößt nicht nur gegen den gesunden Menschenverstand, sondern zeigt auch einen überraschenden Mangel an Grundkenntnissen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Von Zufall kann man nur sprechen, wenn man ein einzelnes Ereignis völlig isoliert betrachtet. Wenn man die verschiedenen Ereignisse zusammen bedenkt, wird die Rede vom Zufall logischer Unfug.
Aber das Beste kommt noch: Es sind hier nur drei Sachverhalte angeführt. Man könnte mühelos 30 anführen und die Fachleute sogar weit mehr als 100. Können Sie sich vorstellen, wie groß dann die Wahrscheinlichkeit wäre, dass das alles nur Zufall ist? Sie wäre unvorstellbar winzig. Irgendwo bei 10 hoch minus 48.
Es gibt allerdings den einen Fall, wo das, was von den Begegnungen in L. A. erzählt wurde, tatsächlich hätte eintreten können, nämlich dann, wenn jemand die Begegnungen hinter dem Rücken meines Freundes für ihn arrangiert hätte, um ihn zu überraschen. Aber dann wäre es kein Zufall mehr gewesen, sondern bewusste Planung eines Regisseurs. Und genauso verhält es sich mit den mindestens 100 extrem unwahrscheinlichen Zufällen bei den Übereinstimmungen von Edward de Veres Biographie und Shakespeares Dramen. Die aberwitzige Zufallswahrscheinlichkeit von 10 hoch minus 48 anzunehmen, ist schlechterdings absurd. Es muss einen roten Faden geben. Und er liegt auf der Hand: Es ist das Leben und die geistige Identität von Edward de Vere. Die Wahrscheinlichkeit beträgt 1,0 (eins Komma null) bzw. ist nur um einen unmessbar geringen Betrag kleiner als 1.
Es gibt hier vielleicht den Einwand, dass die geschilderten »Ereignisse« von zufälligen (Wieder)-Treffen nicht mit literarischen Texten vergleichbar wären. Der Einwand ist unbegründet. Ist das Werfen eines Würfels mit einem zufälligen Treffen am Flughafen vergleichbar? Nicht die Ereignisse werden verglichen, sondern der Zufall, dem sie unterliegen. Und für Zufälle gelten die Gesetze der Wahrscheinlichkeit.
Das Schreiben eines Textteils ist ein »Ereignis«. Wenn zwei Personen unabhängig voneinander einen gleichen oder sehr ähnlichen Textteil schreiben, wird es mit recht als Zufall angesehen, dass die »Ereignisse« eingetreten sind. Vom Zufallsaspekt gibt es keinen Unterschied zum Ereignis »6« beim Werfen eines Würfels, und bei mehreren »Ereignissen« sind die Gesetze der Wahrscheinlichkeit gültig.
Bei Textelementen wird bei Gleichheit oder Ähnlichkeit zwar in der Regel eine Abhängigkeit vermutet, aber das wird von der Stratford-Theorie ausgeschlossen, die eine Erklärung im Zufall sucht. Wenn die Ereignisse aber unabhängig voneinander sind und nur zufällige Ähnlichkeiten auftreten, gelten die Gesetze für Zufallswahrscheinlichkeiten.
Soweit diese Betrachtung, die aber etwas amateurhaft ist, und nun zu den Fragezeichen. Hier liegt bei der prinzipiellen Richtigkeit die argumentative Schwäche: Es ist kaum möglich, die richtige Wahrscheinlichkeit für die einzelnen genannten Beispiele abzuschätzen. Und hier setzt Sturrocks Buch an: Um die Wahrscheinlichkeitsrechnung wissenschaftlich zuverlässig anwenden zu können, sind valide Methoden notwendig, die über die oben angestellten simplen Überlegungen weit hinausgehen.
Und das bieten die in der Astrophysik zur Hypothesenprüfung entwickelten Verfahren, die auf »Bayes Theorem« beruhen und als »Basin Procedure« zur Anwendung kommen. Die mathematischen Grundlagen sind in den Anhängen des Buches dargestellt und hergeleitet. Dies wird dem normalen Leser nicht leicht oder gar nicht zugänglich sein. Aber darauf kommt es nicht an.
Auch wenn die Grundlagen der Methode ohne gründliche Mathematikkenntnisse nicht nachvollziehbar sind, werden diese im Buch mit Recht vorausgesetzt, und ihre Anwendung und die Ergebnisse können auch ohne das Detailwissen nachvollzogen werden.
Wenn jemand z. B. nach einer Erklärung sucht, warum eine Reise zum Mars (eine Richtung) ca. 255 Tage dauert, kann man ihn auf das dritte Gesetz von Kepler verweisen, und wer mit einem Taschenrechner umzugehen weiß, kann leicht angeleitet werden, das Gesetz anzuwenden – und er wird dann das Ergebnis selber berechnen können. Eine Nachfrage, warum das Gesetz von Kepler gilt, stellt sich da nicht. Wer es dennoch verstehen will, wird sich in eigenem Studium um die Antwort bemühen müssen. So auch hier: dem eigenen Studium zum Verständnis der Grundlagen aus der Wahrscheinlichkeitstheorie steht nichts im Wege: die Materialen sind bereitgestellt – zum Kerninhalt des Buches gehört das aber nicht.
Das Buch ist locker geschrieben und der Inhalt wird in Form von Gesprächen von vier Personen abgehandelt: Beatrice vertritt die Stratfordische, Claudia die Oxfordische Seite. James ist Physiker und arbeitet im Silicon Valley, Martin ist Mathematiker und arbeitet auf dem Feld der Statistik. In 24 Kapiteln wird die Autorschaftsfrage an ausgewählten Beispielen diskutiert.
James liefert die notwendigen Hintergrundinformationen für jedes einzelne Gebiet.
Auch wenn zu Vielem nichts Sicheres bekannt ist, sind mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie doch einige Aussagen möglich.
So wird als erste die Frage behandelt: War Shakespeare lahm?
Nach Hintergrundinformationen aus den Sonetten (vor allem 37 und 89) kann die Frage nicht eindeutig beantwortet werden. Zumindest kann es nicht völlig ausgeschlossen werden, dass – hinter der metaphorischen Verwendung des Begriffs der Lahmheit – der Autor lahm war. Obwohl die Beweise für diese Auslegung fehlen, ist die Wahrscheinlichkeit dieser Übereinstimmung sicherlich höher als Null.
Eine Beschreibung des weiteren Verfahrens wird hier gegeben.
Das Gesamtergebnis ist völlig eindeutig, auch wenn es eine Schwankungsbreite gibt. Bei der Buchbesprechung eines Kriminalromans ist es nicht erlaubt, die Lösung zu nennen. Dies ist aber kein Kriminalroman, sondern eine Untersuchung nach der wissenschaftlichen Methode der mathematischen Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung, und deshalb sei so viel immerhin gesagt: Das Ergebnis ist überwältigend, auch wenn es Unterschiede zwischen dem Ergebnis der Pro-Stratford und der Pro-Oxford Protagonistin gibt. In beiden Fällen zwingt die Wahrscheinlichkeitsrechnung aber dazu, die Stratford-Theorie als die für einen möglichen Autor auszuschließen – und sie schließt auch jeden anderen Kandidaten, außer Oxford, aus. Wie groß sich die Wahrscheinlichkeit für Oxford wirklich erweist, soll dann der Interessierte im Buch nachlesen.
Sturrock ist ein genialer Griff gelungen: Er hat das, was der gesunde Menschenverstand bei unvoreingenommener Betrachtung der Faktenlage sagt, auf eine exakte wissenschaftliche Grundlage gestellt und die Autorschaftsfrage auf eine ganz unkonventionelle Weise gelöst.
Wird das Buch aber die ihm zukommende Beachtung erfahren und die mögliche Wirkung entfalten?
Wohl kaum. Zunächst wird »Stratford« sich an die bisher geübte Taktik halten und das Buch ignorieren, da eine Auseinandersetzung damit nur negativ für die Stratford-Theorie ausgehen würde. Die zu befürchtende geringe Verbreitung und Rezeption des Buches ist aber nur teilweise darin begründet, denn ungeachtet des genialen Griffs und der überzeugenden Methode hat das Buch doch auch Schwächen, die dazu führen mussten, das nur wenige es richtig lesen und seine Tragweite einschätzen.
Der Autor, Professor für Astrophysik in Stanford, unterschätzt doch in erheblichem Maße die Scheu, die durchschnittliche Leser vor mathematischen Darstellungen haben. Das ist vielleicht verständlich bei jemanden, der beruflich täglich mit Studenten und Kollegen umgeht, die diese Scheu nicht haben. Es ist aber schade und fast unverzeihlich, wenn ein Buch für eine Allgemeinheit von vor allem an Literatur Interessierten vorgelegt wird.
In dem locker und amüsant geschrieben Text fällt zunächst auf, dass die beiden Protagonistinnen Beatrice und Claudia, die keinerlei spezielle Vorbildung für Mathematik und Statistik aufweisen, sehr schnell in der Aufnahme der für sie neuen Methoden sind und offenbar keinerlei Schwierigkeit haben, alles, was Martin und James vorstellen und erläutern, sofort zu verstehen. Hier sind sie für den Fortgang das Buches angenehme Gesprächspartnerinnen für die beiden Herren, sie hätten aber viel eher auch Repräsentanten des durchschnittlichen Lesers sein sollen, der erheblich größere Verständnisprobleme haben wird.
Die Schwächen des Buches liegen vor allem in der didaktischen Präsentation. Die Berechnungen z. B. der »post probabilities«, und des »running degree of belief« übernimmt Martin, indem er das an einen »Prospero« übergibt. »Prospero« steht für die Software, die die Formeln des Anhangs anwendet. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenngleich »Prospero« an einen Zauberer denken lässt und damit den rationalen Berechnungen einen Anflug von etwas Geheimnisvollem gegeben wird. Das ist nicht günstig. Sinnvoller wäre es gewesen, darauf hinzuweisen, dass die Rechnungen im Prinzip zwar einfach, im Umfang aber mühsam sind, und man sie deshalb einem willigen (oder gezwungen) »Diener« überlässt, die Berechnungen selber aber nichts Geheimnisvolles haben.
Dazu wäre es sehr wünschenswert, dass wenigstens bei der ersten Berechnung der »post probabilitis« auf Seite 46 der Rechengang nachvollziehbar offengelegt würde: d. h. die Formel (S. 45) einmal ohne ∑- Zeichen entwickelt, also mit Zahlwerten ausgeschrieben würde und der interessiert Leser auch die Rechnung der Formel B.17 (S. 301) mindestens im Anhang wenigstens einmal an einem Beispiel mit einem Taschenrechner selber nachvollziehen könnte (es werden nur die vier Grundrechenarten benötigt).
Umgekehrt wird auf Seite 48ff. dem Leser viel zu viel an Rechnungen zugemutet und viele Leser werden gar mit dem »log«-Symbol erst recht abgeschreckt. Hier wäre es besser gewesen, diese ganze Rechnung in den Anhang zu verbannen, und es hätte gereicht, die Ergebnisse nur als Tabelle vorzustellen. Das gilt auch für die Berechnungen auf Seite 61-62. Sinnvoller wäre es hier, nur an einem Beispiel mit einfachen Zahlen zu zeigen, worum es geht, und die allgemeine Formulierung in der für die meisten ungewohnten Schreibweise nur im Anhang zu bringen.
Diese – für die Zielgruppe – didaktischen Ungeschicklichkeiten, betreffen den wissenschaftlichen Rang und die überzeugenden Ergebnisse nicht, stehen aber einer wünschenswerten Verbreitung des Buches sehr im Wege. Viele potentielle Leser werden spätestens auf Seite 46 aufgeben, da sie meinen, dass sie nicht genug von mathematischer Statistik verstünden. Das ist sehr schade. Es führt vermutlich dazu, dass die wirklich Interessierten es nicht lesen. (Diejenigen, die es leicht lesen könnten, weil sie mit den mathematischen Inhalten und Schreibweisen kein Problem haben, werden es wahrscheinlich auch nicht lesen, da sie an der Autorschaftsfrage um Shakespeare nicht so sehr interessiert sind.)
Auch wenn Einschränkungen zum didaktischen Vorgehen zu machen sind, den Inhalt betreffen sie nicht: Das Buch ist eine kaum zu überschätzende Leistung und ein großer Gewinn. Es verdient rückhaltlose Bewunderung, dass der Autor diesen völlig ungewohnten Weg in der Autorschaftsfrage beschritten hat und so zeigen konnte, wie sie lösbar ist.
Wer den Argumentationen des Buches nicht folgen will oder die Konsequenzen, zu denen es nötigt, abstreitet, sollte sich sehr gut in der Wahrscheinlichkeitslehre und mathematischen Statistik auskennen. Falls er versuchen sollte, allgemein und nicht mathematisch zu argumentieren, (es sei ja »nur« Wahrscheinlichkeitsrechnung, die Wirklichkeit könne anders sein) läuft er Gefahr, dass auf ihn das berühmte Zitat von Blaise Pascal (1623-1662), einem der Begründer der exakten Wahrscheinlichkeitslehre, aus einem Brief an Pierre de Fermat (1601-1655) über den Chevalier de Méré (1607-1685) Anwendung finden wird: »Il est très bon esprit, mais il n’pas géomètre«. (Er ist wohl ein kluger Kopf, aber kein Mathematiker. – Er hat keine Ahnung).
Peter A. Sturrock
AKA Shakespeare
A Scientific Approach to the Authorship Question
Palo Alto, Exoscience, 2013, 320 Seiten
ISBN 978-0-9842614-1-3