Kritik Ein Kommentar zu Daniel Kehlmann

Bilder und Zeiten, Daniel Kehlmanns Rede zur Eröffnung der Shakespeare-Tagung, FAZ vom Samstag, dem 26. April 2008.

Gestatten Sie mir ein kurzes Vorwort. Ich gehe nicht davon aus, daß dieses Schreiben abgedruckt wird. Dazu ist es zu lang. Ich gehe allerdings davon aus, daß das Schreiben an den Autor weitergeleitet wird. Dazu ist es so lang.

Ich gehe nicht davon aus, daß der Verfasser auf diese Antwort eine Erwiderung an mich zu schicken wünscht. Sollte er es aber wider Erwarten doch wollen, gestatte ich Ihnen, ihm meine E-Mail-Anschrift mitzuteilen, ausdrücklich, falls Ausdrücklichkeit zu den Erfordernissen gehören sollte. Und sei es, daß er mir nur höflich vorzuhalten begehrt, was für ein beschränkter Faktenhuber ich bin. Seis dann drum. In der Beschränkung zeigt sich der Meister, in der Beschränktheit der Schulmeister. Ist ja auch ein Beruf, wenngleich nicht meiner.

 Daniel Kehlmann: „Fünf Faden tief"
 Der Text kann im FAZ-Archiv aufgesucht werden.

 

In seiner Rede zur Eröffnung der Tagung der Deutschen Shakespeare Gesellschaft in Wien, „Fünf Faden tief" beruft sich Daniel Kehlmann auf das Primat der poetischen Wahrheit und verbittet sich jeden Versuch, „den „Sturm" vorzudatieren". Man müsse ein solches Unterfangen „entschlossen ignorieren als einen Versuch, die überzeugendste Wahrheit, die je aus Dichtung gesprochen hat, mit Faktenkram zuzuschütten".

Was ist denn diese „entschlossen zu ignorierende überzeugendste Wahrheit"? Es ist wohl die Antwort auf die Frage, ob Shakespeare eigentlich selbst gewusst habe, „wie absurd gut, wie ungeheuerlich perfekt er war? Und wenn ja, hat er dieses Bewusstsein in seinem Werk reflektiert, wie es ist und was es heißt, Shakespeare zu sein?"

Zweifellos hat Kehlmann Shakespeares Sonette gelesen. Aber hat er etwa Sonett 81 übersehen? Denn dort beantwortet Shakespeare ausgerechnet diese Frage direkt selbst. Es heißt (in einer dem Wortlaut des englischen Originals angenäherten Fassung von Gottlob Regis):

Du ruhst in Menschenaugen eingesargt.
Mein Freundesvers wird sein dein Monument;
Daß dich noch ungeborne Augen lesen
Und kommender Geschlechter Mund dich nennt.
  Die Macht hat mein Gedicht: daß Du lebst fort,
  Wo Atem atmet tiefst: im Menschenwort.

Wie sollte man das anders verstehen, als daß der Dichter seinen Sonetten Ewigkeitswert beimisst? Ja, wie anders denn? Zugleich aber lesen wir in den Zeilen unmittelbar davor dies:

Dein Angedenken rafft kein Tod von hinnen,
Da jedes Teil von mir g'tilgt ist aus dem Sinn, 
Fortan unsterblich wird dein Name leben,
Wo ich, g'storben, für alle Welt es bin.
Mir kann die Erd' gemeines Grab nur geben;

Soll man jeden Versuch, bei - gelinde sei es gesagt - bei diesem Paradox zu verweilen, auch ignorieren? Ebenfalls „entschlossen" oder vielleicht noch entschlossener?  Wie anders soll man dies verstehen als: meine Gedichte werden gelesen werden, solange die Menschen atmen, aber mein Name wird vergessen sein. „My name be buried where my body is" (Sonett 72). Lass uns nicht in Beschwörungen ausbrechen, sondern innehalten: Shakespeares Name wird mit seinem Körper beeerdigt werden, für immer vergessen sein, schreibt der Dichter -  so er denn mit wirklichem Namen Shakespeare heißt. Nun kann das auf den Namen William Shakespeare schwerlich zutreffen, denn die Sonette wurden nach dem Erscheinen der beiden Epyllien „Venus und Adonis" und „Lucrezias Schändung" geschrieben. Wegen dieser beiden Epyllien hatte ein anderer, nicht der einzige, Dichter, Richard Barnfield, Shakespeare 1598 ewigen Ruhm gekündet: „Live ever you, at least in Fame live ever;/ Well may the Body dye, but Fame dies never." Hier widerspricht der Dichter Barnfield dem Dichter Shakespeare. Jener sagt: dein Körper mag sterben, aber dein Dichterruhm stirbt niemals; dieser sagt: meine Poesie wird ewig leben, aber mein Name wird mit meinem Körper begraben sein. „Name" und „fame" gehören doch zusammen?

Es ist ohne weiteres einsehbar, daß die Antwort auf die Frage, ob Shakespeare selbst gewusst habe, wie absurd gut, wie ungeheuerlich perfekt er war, eigentlich von diesem Sonett 81 auszugehen hätte. Die hier gegebene Antwort scheint mir eindeutig ja zu sein, sie kommt von Shakespeare selbst und folglich als poetische Wahrheit. Dagegen kann die Antwort auf die Frage, ob er es uns irgendwo verraten habe, wie es ist und was es heißt, Shakespeare zu sein, nur zum Teil mit ja beantwortet werden. Die Antwort muß Daniel Kehlmann sicher absurd anmuten, denn Shakespeare schreibt, daß er selbst, der Dichter, völlig vergessen sein wird.

Es ist auch ohne weiteres einsehbar, daß bei der feierlichen Eröffnung einer Shakespearetagung die Antwort auf die Frage überhaupt nicht vom Sonett 81 ausgehen kann. Fragen sind, wenn sie keine rhetorischen sind, bei feierlichen Eröffnungsreden überhaupt fehl am Platze. Sie stören die Feierlichkeit. Auch Substanz ist bei solchen Anlässen nicht allzusehr gefragt. Wesentlich ist Brillanz. Und wie das Wintersonnenlicht hoch in den Bergen in einer sonst kahlen Landschaft vom weißen Schnee am hellsten reflektiert wird, so leider auch allzu oft die Brillanz in der rhetorischen Hochstimmung einer Eröffnungsrede von einer weißleeren Faktenfläche. Freilich - manchmal stört die Substanz das Lichtperlenspiel doch und schleicht sich ein im Gewand der Peinlichkeit.

Am Ende seiner Rede kommt Daniel Kehlmann offenbar nicht ohne etwas „Faktenkram" aus. „Dort in der Provinz hielt Shakespeare Prosperos Versprechen und erwarb als mehrfacher Hausbesitzer ein standesgemäßes Grab, dessen Inschrift bis heute seinen Fluch verkündet gegen jeden Verehrer, der die Platte heben und hineinsehen möchte. Er wollte in Ruhe gelassen werden..." Das ist alles rhetorisch etwas zu hoch geblasen; es gerät verkehrt und schließlich peinlich. „Mehrfacher Hausbesitzer": es waren deren zwei und in Verbindung mit dem Beiwort „dort" sogar nur eines, denn das zweite stand in London; als er dieses eine Haus kaufte war es nach der gängigen Chronologie nicht Prospero, der nach Stratford zurückkehrte, sondern der entthronte Richard II., denn er kaufte es 1597. „Standesgemäßes Grab": vielleicht ist das Monument gemeint; das steht jedoch ein Stück weit vom Grab entfernt; das „standesgemäße Grab" trägt nicht einmal Shakespeares Namen. Peinlich wird's dann beim Fluch. Die Verse auf dem Grabstein sind wohlweislich nicht zitiert:

Good Frend for Jesus sake forbeare,
To dig the dust encloased  heare!
Bleste be the man that spares thes stones,
And curst be he that moved my bones.

Mark Twain hat an diesen Knittelversen bereits vor knapp hundert Jahren seinen Sarkasmus gewetzt. Man kann also auf ihn verweisen. Sarkastischer, wenn auch ungewollt, fällt die Interpretation eines Shakespeareforschers (James Halliwell-Phillipps) des 19. Jahrhunderts aus: Er meinte, dies sei wahrscheinlich ein Allerweltsvers gewesen mit dem Ziel zu verhindern, daß bei Platzschaffung für neue Gräber auf dem Friedhof frühzeitig die Knochen ausgegraben und in das dazu erbaute Knochenhaus abgelagert würden. Die Deutung hat was für sich, bedenkt man, daß „to move" auch bedeutet „von einem Ort an einen anderen zu ziehen" und, wenn es sich um Gebeinde handelt, „zu bringen".

Wie der Eröffnungsredner das wiedergibt, ist es wirklich Faktenkram, ganz gewiss beim „hochpoetischen" Text des Fluches. Soll man es so verstehen, daß Faktenkram bei der Datierung des „Sturms" entschlossen zugunsten der poetischen Wahrheit ignoriert zu werden habe, aber am Ende auf den Faktenkram durchaus beherzt zuzugreifen sei, um der „poetischen Wahrheit" mit hinkenden Fakten Beine zu verpassen?

© R. Detobel