Nach Geenblatts Erfindungen: Shapiros Verdrehungen

Die von einem nicht geringen Teil der angelsächsichen Presse und vermutlich einem noch größeren Teil der deutschsprachigen Presse hochgejubelte Shakespeare-Biografie Stephen Greenblatts wird wohl nur einen Herbst getanzt haben. Die harscheste Kritik formulierte - völlig zu Recht - Alastair Fowler in Times Literary Supplement (20. Februar 2005). Fowler wirft Greenblatt vor, seine Leserschaft mit „Spielzeuggeschichte" („toy history") zum Narren zu halten und listet Fehler und Ungenauigkeiten auf. Er hätte noch zahlreiche hinzufügen können, darunter gravierende. So läßt Greenblatt (S. 245) den Schriftsteller Thomas Nashe 1600 oder 1601 von seinem alten Vater zu Grabe tragen: Nashes Vater starb im Januar 1587! Ein durch Kursivdruck deutlich als Zitat gekennzeichnetes Zitat Gabriel Harveys in einem Werk Nashes gibt er als Nashes eigene Meinung zu Robert Greene aus (S. 237). Die erste vollständige englische Bibelausgabe und das Book of Common Prayer siedelt er in den 1520er Jahren an (S. 97); erstere erschien 1539, letzteres 1549. Die Liste könnte noch erheblich verlängert werden. Obwohl Greenblatts Buch Fehler in Hülle und Fülle enthält, ist zum Beispiel dem Rezensenten der „TAZ" nichts aufgefallen - was nicht sonderlich erstaunlich ist. Auch nicht länger verwunderlich, daß der Rezensentin der „Zeit" nichts aufgefallen ist. Von der „FAZ" ist man in Sachen Sachlichkeit nun doch Beßres gewohnt; aber auch dieser Rezensent fand offenbar nichts zu beanstanden. „TAZ", „FAZ" und „Zeit" geeint in Nichtssagendheit, es geschieht nicht alle Tage. Kritisch äußerten sich „SZ", „NZZ" und „Literaturen".

Greenblatts Shakespeare-Biografie gilt inzwischen in Fachkreisen als reine Phantasie, wenn nicht Phantasterei. Sich auf sie zu berufen, würde vermutlich die Glaubwürdigkeit der Orthodoxie allzu sichtlich untergraben. Peter Ackroyds Biografie mit dem bescheidenen Titel "Shakespeare:The Biography" wird die vakante Stelle nicht ausfüllen können. Sie enthält neben Fehlurteilen auch einige Albernheiten, wie die Behauptung, die Elisabethaner würden sich beim Geschlechtsakt nicht ausziehen. Man fragt sich, ob das vielleicht geschah, um schneller weglaufen zu können, wenn sie erwischt wurden? Ackroyd bleibt die Erklärung schuldig.

In einer Sammelrezension in The New York Review of Books (Mai 2006) preist Anne Barton James Shapiros Buch 1599: A Year in the Life of William Shakespeare. "Mit bemerkenswerter Zurückhaltung unternimmt es Shapiro, die Chronik der Ereignisse im Jahr 1599 aufzuzeichnen - sozusagen die Hauptnachrichten - ohne ungebührliche Spekulation über die Art, wie Shakespeare darauf reagierte". Der Ausdruck „ungebührliche Spekulation" mag sich auf das ebenfalls rezensierte Buch Ackroyds beziehen; es könnte auch als stillschweigende Referenz auf Greenblatt verstanden werden.

Indes geht Shapiro nicht grundlegend anders als Greenblatt vor. Nur in der Häufung der Spekulation unterscheiden sie sich. Wie Greenblatt, und möglicherweise noch „ungebührlicher", scheut sich Shapiro nicht vor groben Entstellungen, wenn es gilt, dem Bild Shakespeares mit einer Schicht Wirklichkeit anzustreichen. Im dritten Kapitel beschreibt er die Beerdigung Edmund Spensers im Januar 1599. Spensers Dichterkollegen warfen ihre Elegien in sein Grab. Sie werden wohl auch ein Exemplar für sich behalten haben, denn mehrere dieser Gedichte sind erhalten. Der Name Shakespeare ist nicht dabei. Das will erklärt sein. Shapiro bietet diese Erklärung an: „Unlike most of his fellow writers, Shakespeare had a strong aversion to heaping praise on the work of the living or the dead. Rather than be seen carrying the hearse or ostentatiously tossing a poem into the grave, it's more likely that Shakespeare went home after the funeral and paid a quieter tribute, paging through a well-worn [wie aus der Wirklichkeit gegriffen, dieses ausgefranste Exemplar!] copy of Spenser's poetry. Yet as he heard Spenser publicly eulogized as England's greatest poet, Shakespeare could not have remained disinterested. Spenser, after all, had chosen paths Shakespeare had rejected. He had pursued his poetic fortune exclusively through aristocratic - even royal - patronage, and had done so in

                  description of fairest wights,
And beauty making beautiful old rhyme
In praise of ladies dead an lovely knight.

So Shakespeare puts in Sonnet 106, deliberately echoing Spenser's archaisms." (S. 80)

Und dies sollte "zurückhaltende Spekulation" sein! In Sonett 76 bezeichnet Shakespeare seine Dichtung selbst als „barren of new pride". Shakespeares Sonett 106 hat auch überhaupt nichts mit Spensers Archaismen zu tun. Spensers Archaismus besteht darin, daß er alte, teils noch auf Chaucer zurückgehende Wörter benutzt. Weiter schreibt er durchweg „ye" for „you" und „thee" und benutzt gerne das altertümelnde Präfix „y" im Partizip Perfekt, die Entsprechung des deutschen Präfix „ge", etwa „y-clept" („genannt"). Eine leichte ironische Pointe gegen Spenser enthält vermutlich Sonett 46 im Delia-Zyklus Samuel Daniels:

Let others sing of Knights and Palladines,
In aged accents, and untimely words.

Aber Shakespeares Sonett 106 nimmt eine völlig andere Wende und enthält keine Spenserschen „aged accents". Möglicherweise hat Shapiro Daniels Sonett 46 vor Augen gestanden. Und geschickt geflickt.

In Kapitel I haben wir es dann schon fast mit einer regelrechten Fälschung zu tun. Dort ist die Rede vom Schauspieler William Kemp, der zum Ensemble der bis zum Frühjahr 1599 zum Lord Chamberlain's Men gehörte. Dann verließ er das Ensemble. Am 11. Februar 1600 startet er seine Moriskentanztour von London nach Norwich, die bis zum 11. März 1600 dauert. Kemp legt die Strecke tanzend zurück. In einer kleinen Schrift Kemps Nine Daies Wonder: Performed in a Morrice from London to Norwich. Wherein euery dayes iourney is pleasantly set downe, to satisfie his friends the truth, against all lying Ballad-makers; what he did, how hee was welcome, and by whome entertained beschreibt er diese Tour und wettert, wie aus dem Titel zu ersehen ist, gegen die Balladenmacher, die Lügen über ihn verbreitet haben. Er nennt sie "shake-rags", "Lumpenschwinger" , und faucht sie an (Hervorhebungen von mir):

"Kemps humble request to the impudent generation of Ballad-makers and their coherents ; that it would please their rascalities to pitty his paines in the great journey he pretends, and not fill the country with lies of his neuer done acts as they did in his late Morrice to Norwich.

To the tune of Thomas Delones Epitaph.

MY notable Shakerags, the effect of my suit is discouered in the Title of my supplication. But for your better vnderstandings: for that I know you to be a sort of witless beetle-heads, that can understand nothing, but what is knocked into your scalps; These are by these presents to certify vnto your block-headships, that I, William Kemp, whom you had never rent asunder with your vnreasonable rimes, am shortly God willing to set forward as merrily as I may; whether I wish ye, employ not your little wits in certifying the world that I am gone to Rome, Jerusalem, Venice, or any other place at your idle appoint. I knowe the best of you by the lies you write of me, got not the price of a good hat to couer your brainless heads..."

Mit Shakespeare hat das nicht das Geringste zu tun. Shapiro, auf die Uninformiertheit der Leser setzend, schreibt: „The parting of ways between Kemp and Shakespeare was less than friendly (a year later, having left the company, Kemp was still muttering about 'Shakerags')."

Erfunden und erstunken. Shapiro hält sich mit Spekulationen maßvoll zurück, um sie dann und wann um so maßloser einstreuen zu können.

© R. Detobel

© Neues SHAKE-SPEARE Journal 2008