Abschließendes zu Doktor Pangloss

"Doktors Pangloss" aus Voltaires Satire Candide, ou l'Optimisme (1759) /Candide: or, All for the Best.

Das Verständnis der frühen Neuzeit erschweren dem modernen Leser mehrere Faktoren. Sozioökonomische zum Beispiel. Es ist gar nicht so einfach zu bestimmen, was eine Aristokratie ist. Das greifbarste Zeichen, der Adelstitel, kann irreführend sein. In einigen Fällen empfiehlt es sich von „Oberschicht" (wie Niklas Luhmann etwa) oder von „Elite" zu reden, denn aristokratischer Titel und Oberschicht sind keineswegs immer deckungsgleich. Es fängt damit an, dass „adelige Lebensführung" nicht am Vermögen, sondern an den Ausgaben gemessen wurde. Als adelig lebend galt in England derjenige, der jährlich mindestens £1000 ausgab. Es herrschte kein berufsbürgerlicher Wirtschaftsethos „des Sparens für künftigen Gewinn", sondern ein „Ethos des Statuskonsums" (Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft, Frankfurt/M. 1983, S. 103). Verhalten war eine andere Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Elite oder, um Elias' Terminus zu verwenden, zur „guten Gesellschaft" zu gehören. Die Anerkennung dieser Zugehörigkeit erfolgte informell. Der Aristokrat „gehört, unbeschadet seines Adelstitels, nur so lange faktisch zu der betreffenden »guten Gesellschaft«, so lange die anderen es meinen, nämlich ihn als zugehörig betrachten." (Elias, S. 145).

Lasst uns eine Weile innehalten und ermessen, was Nelsons Biografie hätte werden können. Denn £1000 war die Annuität, die Edward de Vere 1586 erhielt. Es liegt die Annahme nahe, dass ihr Zweck war, de Vere zu ermöglichen, gemäß dem „Ethos des Statuskonsums" zu leben. Die Annahme liegt sehr nahe, denn um 1663 herum trägt der Stratforder Vikar John Ward in sein Tagebuch ein: „he supplied the stage with 2 plays every year, and that had an allowance so large, that he spent at the rate of a 1,000l. a year, as I have heard. John Ward schreibt dies nicht über Edward de Vere, sondern über Shakespeare. Shakspere soll also eine Summe erhalten haben, die es ihm ermöglichte, jährlich £1000 zu spenden, also „adelig zu leben".  Aber dies ist dann in Wahrheit doch wohl Shakespeare, nicht Shakpere, denn, so sehr die Stratfordianer derzeit auch bemüht sein mögen, etwas vom Shakespeare-Mythos zurückzugewinnen, um ihre Biografien etwas lebendiger zu gestalten, diesen Mythos, der dies nur ist, wenn man ihn auf den Mann aus Stratford bezieht, diesen schlafenden Hund werden sie wohl nicht wiedererwecken.  

Und, so Elias, ein Aristokrat gehörte nur dann zur „guten Gesellschaft", so lange er nach Meinung der Anderen, in den Augen der Anderen dazu gehörte. Nein, sagt Shakespeare, im Sonett 121, nicht darin liegt der Sinn des Lebens, nicht darin, wie man in den Augen der Anderen erscheint, sondern in dem, was man vor sich selbst ist:

And the just pleasure lost, which is so deemed,
Not by our feeling, but by others' seeing.

Doch Shakespeares zeitweilige Ausgrenzung hatte stattgefunden. Sonett 29:

When in disgrace with Fortune and men's eyes,
I all alone beweep my outcast state,

Shakespeare hatte in den "Augen der Anderen" das Recht verwirkt, zur "guten Gesellschaft" gerechnet zu werden.

Aber so etwas war von Doktor Pangloss in der letzten und daher besten aller Welten nicht zu erwarten. Für das Versäumnis entschädigt er uns fürstlich mit Albernheiten zum altenglischen Recht.

Sich an geeigneter Ort und Stelle zu erkundigen, das hat er wieder nicht für nötig befunden. Dr. Pangloss „modernisiert" zwei Rechtstermini, passt sie dem heutigen Sprachgebrauch an, verrät aber zugleich seine totale Unkenntnis. Für „seisin" schreibt er durchweg „seizin", für „entry" durchweg „entrance". „Seisin" und „entry" sind aber feste Rechtsbegriffe. Rechtshistoriker schreiben sie auch heute noch so, müssen ja. „Livery of seisin", was man ungefähr als „Vollzug (Erbringung, Lieferung) der Inbesitznahme" übersetzen kann, war ein formaler Akt, ein notwendiger Akt, ohne die keine Landübereignung gültig war. Und wie im englischen Text (siehe Zitat aus W.S. Holdsworth,  A History of English Law) erläutert, leitet es sich von „be-sitzen" ab. Der Akt, das Land zu „be-sitzen", „sich drauf zu setzen" sanktionierte den Besitz des Landes. Es ist falsch und albern zugleich, dieses Wort mit „z" zu schreiben, denn da erhält man so ziemlich die gegenteilige Bedeutung von „Beschlagnahme". Ebenso falsch und albern ist es, „entrance" statt „entry" zu schreiben. „Entry" war das Pendant für „livery of seisin" für Land, dessen Pacht befristet war. Die Pachtfrist konnte sich auf einige wenige Jahre beschränken; sie konnte sich im Prinzip auch auf tausend Jahre erstrecken. Solches Land, einerlei ob die Frist 2 oder 1000 Jahre betrug, galt im common law nicht als „real estate", als „wirklicher Landbesitz", sondern als „real chattle" im Gegensatz zu „personal chattle", bewegliche Güter. Die Unterscheidung ist nicht unwichtig, denn sie spielt eine entscheidende Rolle innerhalb einer Rechtsinstitution, die in der englischen Rechtsgeschichte eine eminente Rolle spielt, der „Use" oder „Trust" („Treuhand"). Nelson macht denn an einer Stelle auch den Fehler, ein solches Treuhandverhältnis als Rechtsfiktion zu bezeichnen.

Das hätte man alles als etwas Sekundäres gnädig übersehen können, wenn die Ignoranz nicht in dieser skurrilen Arroganz dahergekommen wäre. Und deshalb wollen wir uns doch noch kurz Kapitel 36 „Alienations" vorknöpfen. Dort heißt es im Originalton: „To follow the disposition of property in Elizabethan England requires an elementary understanding of sales, alienations, leases and mortgages." "Um der Verfügung über Eigentum im elisabethanischen England  folgen zu können, ist es nötig, ein elementares Verständnis von Verkauf, Veräußerung, Vermietungen und Hypotheken zu erwerben." Nelson schickt sich an, dem Leser dieses elementare Verständnis zu vermitteln. Was dann folgt, zeigt, dass ihm selbst ein solches elementare Verständnis gänzlich fehlt. 

Wie ausführlicher in den englischen Texten dargelegt, sind „purchase" („Erwerb") und „alienation"(„Veräußerung")  zwei komplementäre Oberbegriffe für den Eigentumsübergang, der nicht im Erbgang erfolgt. „Purchase" beinhaltet mehr als „Kauf"; es umfasst auch Schenkungen und andere Übereignungsformen. „Alienation" beinhaltet mehr als „Verkauf"; es umfasst eben reziprok alle Formen, die durch den Begriff „purchase" abgedeckt sind. Bereits Nelsons beide ersten Sätze nach seinem huldvollen Angebot, dem Leser ein elementares Verständnis zu ermöglichen, sind völlig verkehrt. Der erste Satz: „A sale is the irrevocable transfer of property to another, usually for a monetary consideration or its equivalent." "Consideration" übersetzt man am besten als "Gegenleistung": "Ein Verkauf ist der unwiderrufliche Übergang von Eigentum auf einen Anderen, üblicherweise gegen eine monetäre Gegenleistung oder sein Äquivalent." Kritische Leser werden sich fragen, ob „transfer", „Übergang" nicht immer „auf einen Anderen" zu beziehen ist. Richtiger hätte der Satz gelautet: „A sale is the transfer of property for a consideration, usually in money." Mit dem zweiten Satz stellt er alles auf den Kopf: "An alienation is the sale of property in which the Crown has an interest..." Nicht „alienation", „Veräußerung" ist ein „sale", „Verkauf", sondern umgekehrt: der Verkauf ist zwar die geläufigste Form der Veräußerung, aber eben doch nur eine Form unter mehreren. Zu behaupten, Veräußerung sei der Begriff, der den Verkauf von Kronland bezeichnet, ist eine Dummheit.

Der Rest von Nelsons „Unterricht" ist, kann auch nur der gleichen Qualität sein. Das ist in den englischen Texten etwas ausführlicher erläutert und wird deshalb hier ausgespart.

Die Erklärung bietet William Holdsworth im dritten Band seines History of English Law auf  einem Silbertablett. Aber Holdsworths History, ein Klassiker der englischen Rechtsgeschichtswissenschaft, ist für den „professional" Nelson vielleicht bloß „an amateur".

© Robert Detobel