Nachtrag zu Doktor Pangloss

Der Erfinder des Waldherings und Tiefbohrentdecker des geräucherten Herings unter dem Arktikeis glänzt auf dem Feld der Geschichte nicht weniger als auf dem der Zoologie. Er ist dazu ja auch mit einem idealen Körperbau gesegnet, denn der allerbeste Resonanzboden für das Großmaul ist der Hohlkopf. Will man das Großmaul stopfen, muss man versuchen, den Hohlkopf zu füllen.

Im Interview mit dem BBC Oxford tönt Professor Nelson:

"Any visiting noblemen attending a commencement could just walk up and ask for a degree and he'd be given one."

"Jeder einer universitären Abschlussfeier beiwohnende Aristokrat hatte nur anzutanzen und um einen akademischen Grad zu bitten und schon hatte er den."

Einer der sehr wenigen englischen Artikel, der sich mit dem Ansturm der Aristokratie auf die Bildungseinrichtungen beschäftigt, ist schon mehr als ein halbes Jahrhundert alt (J. H. Hexter, „The education of the aristocracy in the Renaissance" in The Journal of Modern History, Volume XXII, March 1950, S. 1 - 20). Schon im 10. Jahrhundert hatte es vor allem an den Höfen gebildete Aristokraten gegeben, aber in ihrer großen Mehrheit blieb die Aristokratie Bildung als einer den Charakter verweichlichenden Beschäftigung abgeneigt, die dem Kleriker eignete, nicht jedoch dem Krieger. Und dies blieb so bis ins 15. und 16. Jahrhundert hinein. Noch in Florenz, dem Zentrum des renaissancistischen Humanismus, wünschte sich Mitte des 15. Jahrhunderts Leon Battista Alberti einen Adligen häufiger mit einem Buch in der Hand als mit einem Falken auf der Faust zu sehen (Vom Hauswesen, Zürich 1962, S. 85). Ein nicht unähnliches Beispiel für England im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts zitiert Hexter: Ein englischer Gentleman erklärte dem humanistischen Diplomaten Richard Pace:

„Es geziemt den Söhnen von Gentlemen, ein Horn schön zu blasen, geschickt zu jagen und einen Falken elegant zu tragen und abzurichten. Das Lernen aus den Büchern ist etwas für Bauern."

Alle gelehrten Männer seien Bettler; eher wolle er seinen Sohn gehängt sehen als gelehrt." (S. 2). Essen, Saufen, auf die Jagd gehen, Falken abrichten, gar Fluchen, das gehörte zu einem Adeligen. Noch ca. 1567 wettert der Humanist Roger Ascham in seinem Erziehungshandbuch The Scholemaster gegen eine solche Einstellung bei vielen Adeligen.

Doch da hatte sich schon vieles gründlich geändert. Ab etwa 1525 ist immer deutlicher ein Ansturm der Adeligen auf die Universitäten festzustellen. Hexter nennt Zahlen. An der Universität Oxford kommen zwischen 1550 und 1575 auf 5 „commoners" drei Adelige, Anfang des 17. Jahrhunderts ist das Verhältnis fünf zu sechs. Und, fügt Hexter in einer Fußnote hinzu, die Zahlen müssten, um das wahre Verhältnis wiederzugeben, für die Aristokraten nach oben korrigiert werden, da eine schwer definierbare Zahl Adeliger zwar die Universität besuchte, jedoch keinen Wert darauf legten, sich immatrikulieren zu lassen (S. 8).

Wie erklärt sich diese merkwürdige, scheinbar etwas blasierte aristokratische Haltung?

Bereits im 10. Jahrhundert waren gebildete Hofadelige bemüht, sich vom Klerus durch einen gewissen verspielten Witz ("facetiae")  von den ernsteren Kleriker sozial abzugrenzen (siehe Stephen C. Jaeger, The Originsof Courtliness: civilizing trends and the formation of courtly ideals 939-1210, Philadelphia 1985). Aber auch noch bei Castiglione in seinem Buch vom Hofmann, in dem Bildung dem Adeligen vorbehaltlos empfohlen wird, findet sich dieses Bedürfnis der sozialen Abgrenzung wieder, nun nicht mehr gegenüber dem Klerus oder dem „clerk" (Schreiber), sondern gegenüber dem humanistischen Gelehrten („scholar"). Castiglione sieht in der Bildung zwar eine Grundvoraussetzung des Hofmannes, legt ihm aber gleichzeitig nahe, der Bildung mit einer äußerlichen Sprezzatura, Nonchalance zu begegnen, in einer Weise, die den Eindruck erweckt, Bildung sei ihm nicht das Wesentliche, sondern nur eine Zierde zu seiner eigentlichen Berufung, dem Waffenhandwerk. Und der anonyme englische Verfasser von The Arte of English Poesie (1589 gedruckt), in dem wie in Castiglione Buch vom Hofmann eine enge Verbindung zwischen Kunst, zumal Poesie, und dem Verhalten des Hofmannes gelegt wird, warnt den Hofmann und den Hofdichter davor, sich wie ein Gelehrter („schollerly affectation") zu gerieren. (S. 302)

Auf die Bedeutung solcher sozialen Distanzierungen des Adels zur Legitimation seines politischen Führungsanspruchs haben u. a. Max Weber und Norbert Elias hingewiesen, einerseits zur Händlerschaft hin durch die Betonung des Dienstes am Fürsten und am Gemeinwohl im Gegensatz zum Gewinnstreben des Händlers (dem wohl nicht viel anderes übrig blieb), andererseits zum Gelehrten hin durch die Betonung der Nonchalance gegenüber Bildung im Gegensatz zu dem seine Bildung herausstellenden Gelehrten (dem auch nicht viel anderes übrig blieb, wollte er seine Bildung verwerten). Damit hängt es zusammen, dass Adelige nicht soviel Wert auf eine Immatrikulation oder einen formellen akademischen Abschluss legten.

In der Natur der Verhältnisse hätte es eher gelegen, ganz anders als der geschichtlich völlig unbedarfte Professor Nelson daherlabert, dass ein Aristokrat nicht um einen akademischen Grad bittet, sondern ihn gar nicht anstrebt.

Aber eine schöne Arie hat Tenor Nelson im Duett mit der Sopran Emma Smith mir da gesungen, eine Arie würdig einer opera buffo, komponiert von einem Kirmes-Mozart:

Cantamo, lodamo
Si semplic' uomo

Das soll niemand deprimieren. Im Gegenteil, es stimmt frohgemut. Ich bin dabei, meinen Hund zu trainieren. Das Bellen kann er schon perfekt intonieren, das Winseln muss er noch perfektionieren. Dann setzte ich ihm einen schwarzen rechteckigen Hut auf. Dann hat er beste Aussichten, demnächst als Experte zu einem Interview eingeladen zu werden. Als Experte zu irgendeinem Thema, einerlei welchem.

Und dann zu dieser Aussage Nelsons über Oxfords Poesie:

Professor Nelson was much more dismissive:

"They range from okay-middle-of-the-road standard for the time to downright execrable."

"Sie reichen von mehr-recht-als-schlecht zu recht gräßlich."

But Professor Nelson said:

"The very worst poem that he wrote is clearly dated to 1572 when he was 22 years old."

"Aber sagt Professor Nelson: "Das allerschlechteste Gedicht schrieb er 1572, als er 22 Jahre alt war".

Das kann mein Hund jetzt schon sehr gut: einmal laut bellen und dann noch einmal lauter.

© R. Detobel