Irrtümer bei Matus

Aus einem bisher unbekannten Dialog Platons:

Sokrates: Sage mal, Kritias, kannst Du Dir vorstellen, William Shakespeare lebte noch und weilte unter uns?
Kritias: In einem gewissen Sinne lebt er doch weiter unter uns, Sokrates.
Sokrates: Dann würdest Du Dich auch nicht wundern, wenn er plötzlich vor Dir stünde, hier in Athen?
Kritias: Das allerdings würde mich sehr wundern. Ich meinte nicht, dass er weiterhin leibhaftig unter uns lebt.
Sokrates: Dann, Kritias, musst Du Deine Einbildung mächtiger anstrengen, bis Du Dich darüber nicht mehr wunderst.
Kritias: Worauf willst Du hinaus, Sokrates?
Sokrates: Nun, sagen wir, er lebt weiter und wir beide warten hier auf ihn. Wie würdest Du ihn Dir vorstellen? Krank, gesund, zufrieden, missvergnügt?
Kritias: Ich denke, er müsste sehr zufrieden sein, festzustellen, dass er in aller Munde ist?
Sokrates: Könnte es nicht sein, dass gerade das ihm auf den Magen geschlagen ist? Wenn ihm das ganze Gerede über ihn auf den Magen geschlagen ist, müssten wir uns ihn doch eher krank vorstellen?
Kritias: Ja, dann müssten wir uns einen kranken Shakespeare vorstellen.
Sokrates: Und  da soviel über ihn geredet wird und unter dem Vielen so selten Gescheites zu finden ist, glaubst Du nicht, dass sich das in seiner Physis niedergeschlagen haben müsste?
Kritias: Damit wäre sicherlich zu rechnen.
Sokrates: Und hältst Du es für möglich, dass sich Shakespeare ständig übergeben müsste?
Kritias: Auch das wäre gewiss möglich.
Sokrates: Was denn, Kritias, würdest Du ihm raten?
Kritias: Ich würde ihm natürlich raten, einen Arzt aufzusuchen.
Sokrates: Warum einen Arzt?
Kritias: Du hast recht, Sokrates, natürlich nicht irgendeinen Arzt, sondern einen Darm-Magen-Spezialisten?
Sokrates: Aber, da es sich um Shakespeare handelt, kann doch nur ein Literaturwissenschaftler, vorzüglich ein Anglist, der richtige Spezialist sein, nicht wahr, Kritias?
Kritias: Ich glaube, Sokrates, Du nimmst mich jetzt nicht mehr an die Hand, sondern auf den Arm.
Sokrates: Keineswegs. Du würdest also Shakespeare raten, nicht einen Literaturwissenschaftler, sondern einen Darm-Magen-Spezialisten aufzusuchen?
Kritias: Schlechterdings würde ich das.
Sokrates: Und Du würdest sehr klug handeln. Und wenn Du nun etwas über Autorrechte in Shakespeares Zeit wissen wolltest, würdest Du Dich doch gewiss an einen Literaturwissenschaftler wenden?
Kritias: Nein, Sokrates, ich würde mich auch in diesem Fall an einen Spezialisten wenden.
Sokrates: Und wer wäre hier dieser Spezialist? Das wäre doch zweifellos ein Rechtshistoriker?
Kritias: Ein Rechtshistoriker wäre sicher einer, von dem man Rat einholen könnte?
Sokrates: Könnte oder sollte?
Kritias: Du ertappst mich wieder auf eine Ungenauigkeit, Sokrates. Ja, das sollte man, sich an einen Rechtshistoriker  wenden.

...Dieser Rechtshistoriker heißt nicht Irvin Leigh Matus. Der hat zwar einige Verdienste, weil er bestimmte liebgewonnene Argumente des Oxfordianismus ausgemistet hat. Man könnte als Oxfordianer Matus freilich auch vorwerfen, dass er da noch zu wenig ausgemistet und es stattdessen vorgezogen hat, selber Mist zu produzieren. Das hat er, insbesondere wo er auf die Rechte des Autors zu sprechen kommt. Schon allein das Trompetenhafte seiner Behauptungen erweckt den Verdacht, dass er durch Selbstaufblähung mangelndes Wissen auszugleichen sucht.

In zwei Beiträgen soll dies gezeigt werden. Diese Dateien wurden vor fast zehn Jahren in Vorbereitung auf die beiden Artikel zu Autorrechten in The Oxfordian angelegt. Sie sind daher in englischer Sprache. Hier die jeweilige Kernaussage.

THE CASE OF GEORGE SANDYS'S TRANSLATION OF OVID'S METAMORPHOSIS

Bis 1621 hat George Sandys, später Lord Sandys, fünf Bücher von Ovids Metamorphosis übersetzt. Als Schatzmeister des Gouverneurs von Virginia verbringt er anschließend fünf Jahre in der Neuen Welt, wo er die zehn anderen Bücher übersetzt. Die ersten fünf Bücher werden 1621 gedruckt. Als George Sandys 1626 nach England zurückkehrt, halten die Verleger Robert Younge und Humphrey Lownes das Verlagsrecht. Woran aber? An den ersten fünf Büchern oder vorausgreifend auch an allen fünfzehn Büchern? Es ist keineswegs so klar. Der Eintrag aus dem Jahr 1621 lautet auf das gesamte Werk: „Ovid's Metamorphosis". (im Falle von George Chapmans Homer-Übersetzung waren im Eintrag die ersten sieben Bücher angegeben). 1626 erhält Sandys ein königliches Privileg von Karl I. für das gesamte Werk. Er selbst, Sandys, hat für die nächsten 21 Jahre das Copyright. Er verpflichtet den Verleger William Stansby, der das Werk bei der Druckergilde einträgt. Younge sperrt sich dagegen. Es hat den Anschein, als sei er nicht eindeutig im Unrecht. Dass die Rechtslage innerhalb der Druckergilde unklar ist erhellt auch daraus, dass Younge, obwohl er das inzwischen von der Druckergilde verfügte Verbot sowohl für ihn selbst als für Stansby missachtet hat, von dieser nicht bestraft wird und George Sandys schließlich, vielleicht um die verworrene Rechtslage zu umsegeln, das Werk an der Universität Oxford drucken lässt, wo die Londoner Druckergilde keinen Einfluss besitzt.  

Matus unterschlägt all dies und kann den Fall als Beispiel dafür nutzen, dass Autoren gegenüber Druckern und Verlegern völlig machtlos gewesen seien.

Matus unterschlägt dies selbstverständlich völlig „objektiv und vorurteilsfrei".   

THE CASE OF GEORGE WITHER

Der Dichter George Wither erhält 1623 ein königliches Privileg für seine Hymns of the Church. Das Privileg erstreckt sich auch auf den Psalter in Versen. Withers Hymnen und der Psalter sollten in einem einzigen Band erscheinen und verkauft werden. Das königliche Privileg für den Psalter hatte sich aber die Druckergilde bereits 1603 teuer erworben. Sie wehrt sich gegen die Gewährung ihres Privilegs an Wither. Mit Erfolg. Wither ist darüber erbost und schreibt The Scholar's Purgatory, eine Hetzschrift gegen die Druckergilde.

Von dem bestehenden Privileg der Druckergilde findet sich bei Matus kein Wort. So kann er Withers Hetzschrift als bare Münze betrachten und als Wasser auf seine Mühle verwenden. „Objektiv und vorurteilsfrei? Vielleicht. Aber nicht unterschlagungsfrei.

DIE INTERVENTIONEN DER LORD CHAMBERLAINS

Davon wird in den kommenden Tagen ausführlicher die Rede sein. Matus weist die oxfordianische These zurück, William Herbert, dritter Earl of Pembroke, Lord Chamberlain hätte im Mai 1619 interveniert, um die Herausgabe des Gesamtbühnenwerkes Shakespeares zu schützen. Matus hat damit Recht, hat allerdings selbst sehr wenig dazu zu sagen. Unsere These (die freilich eine längere Ausführung erfordern wird): Der Lord Chamberlain oder genauer: die Lord Chamberlains, denn es gab drei Interventionen, eine des jeweils amtierenden Lord Chamberlain (1619, 1637 und 1641), wollten nichts schützen, sondern nur den Anspruch ihres Amtes auf die Zensur von Bühnenstücken für den Druck schriftlich unterlegen (vergeblich letzten Endes). Auf den Gedanken, die drei Interventionen miteinander zu vergleichen, ist Matus nicht gekommen. Auf weitere Gedanken auch nicht. Es ist deshalb auch nicht nötig, Bezug auf ihn zu nehmen.

LYMAN RAY PATTERSON

Er ist der Rechtshistoriker, den Kritias aufsuchen wird. Er schrieb 1968 Copyright in Historical Perspective. Auf dieses Werk bauen die beiden Aufsätze in The Oxfordian auf. Einige Anmerkungen:

  1. Der Ausdruck „Copyright" wurde von der Stationers' Company überhaupt nicht verwendet. Wie Patterson hervorhebt, war das Recht eines Verlegers buchstäblich ein „Kopierrecht" und ein Recht, das Werk zu verkaufen. Was man in der deutschen Fachsprache zumeist als „Vervielfältigungsrecht" bezeichnet. Heute besteht ein „Copyright" aus einem materiellen und intellektuellen Recht. Intellektuelle Rechte waren damals nicht voll ausgebildet. Aber sie existierten. Sie lagen beim Autor!
  2. Ein Verleger war nicht gehalten, vorher die Genehmigung des Autors einzuholen. In der Praxis geschah dies aber meist. Die Verwunderung darüber, dass unter angeblich anarchischen Verhältnissen, bei angeblicher völliger Rechtlosigkeit des Autors so wenig Raubdrucke ersschienen, erklärt sich damit von selbst.
  3. Es gab natürlich Raubdrucke. Es gab auch „herrenlose" Werke. Anonym aufgeführte Bühnenstücke zum Beispiel. Aber auch andere Werke, die in Manuskript zirkulierten und deren Autoren aus Gründen des sozialen Rangs ihre Werke nicht drucken ließen. Oder wenn sie gedruckt wurden, nicht einschritten.
  4. Ein Einschreiten war möglich. Wenn auch die Genehmigung des Autors nicht erforderlich war, so reichte es doch aus, dass der Autor Klage bei der Druckergilde einreichte. Es gibt mehrere solcher Fälle. In allen Fällen musste der Verleger dem Autor das Manuskript zurückgeben.
  5. Das Copyrightsystem der Londoner Druckergilde (Stationers' Company) selbst beruhte auf dem intellektuellen Eigentum des Autors.

            Diese individuelle Berechtigung zur Schaffung der Verlagsrechtsquelle, d. h.
            zum Unternehmen des Drucks und Verlags, konnte nur in Gestalt einer
            Berechtigung am Werk selbst bestehen."

"Berechtigungen am Werk selbst besaß nur der Urheber. Sie verkörperten sich im Sacheigentum am Werk und dem ideell und persönlichkeitsrechtlich beinhalteten Recht zur Veröffentlichung des Werks." (Walter Bappert, Wege zum Urheberrecht, Frankfurt am Main 1962, S. 168). Eine analoge Feststellung trifft Patterson für das Copyrightsystem im England des 16. und 17. Jahrhunderts. 

Für all diejenigen, die glauben, die These, Shakespeare sei ein Aristokrat gewesen, könne sich nur dem Snobismus verdanken, folgendes Zitat aus Frank Arthur Mumby, Publishing and Bookselling, London 1974 (Erstauflage 1930), S. 80, Kapitel: Shakespeare's publishers: A Shakespearean Problem:

„Shakespeare wusste genau, dass sich in jener Zeit niemand Hoffnung machen konnte, als eine hoch angesehene Persönlichkeit zu gelten, wenn er sich darauf einließ, mit irgendeinem Verleger oder Buchhändler ein Geschäft abzuschließen. Sir Philip Sidney gestatte  nicht, dass auch nur eines seiner Werke zu seinen Lebzeiten in Druck erschien; Professor Pollard bemerkt in seiner bibliografischen Studie 'Shakespeare Folios and Quartos',  dass, hätte irgend jemand Sidney Geld für seine Defence of Poesie oder seine Astrophel and Stella angeboten, er ernsthaft in die Gefahr gekommen wäre, die Treppe hinuntergeschmissen zu werden'.  Unser Vorschlag, dass Shakespeare ähnliche Ansichten vertreten haben könnte, ist nur dann der Betrachtung wert, wenn wir annehmen, Shakespeare sei sowas wie ein Snob gewesen oder eher noch: ein natürlicher Aristokrat."

© R. Detobel