Die Autorschaftsfrage und Das Shakespeare Handbuch: Die Lord Chamberlains

X. BÜHNENSTÜCK UND LESESTÜCK

Die Lord Chamberlains benutzten das Theater offenbar, um politische Stimmung zu machen. Neu war das nicht. Bereits Thomas Cromwell hatte in den 1530er Jahren die Dienste eines Stückeschreibers benutzt, um die antipapistische Stimmung  anzuheizen. John  Bale, ein ehemaliger Karmeliter, verwandelte in seinem Stück Kynge Johan, den Bösewicht der Robin-Hood-Sage, King John, in einen Märtyrer für die englische Sache gegen Rom. 1559, im ersten Regierungsjahr Elisabeth', beschwerte sich der spanische Botschafter bei der Königin über die antispanische Stimmungsmache im Theater und nannte Staatssekretär William Cecil, den späteren Lord Burghley, als Anstifter (David Bevington. Tudor Drama and Politics. Cambridge, MA, 1968, S. 127-128).

Die Kontrolle über die zur Aufführung anstehenden Stücke hatte der Lord Chamberlain seit 1581 inne, als die Befugnisse des damaligen Master of the Revels Edmund Tilney erheblich erweitert wurden. Die Kontrolle über die zum Druck anstehenden Stücke hatten sie  von 1607 bis Mitte 1637 ebenfalls inne, aber nur faktisch und damit im Prinzip jederzeit widerrufbar - wie es im Juli 1637 geschah. Ihr Bestreben, die Kontrolle über den Druck von Bühnenstücken auch rechtlich zu verankern, wäre vollkommen überflüssig gewesen, wenn Bühnenversion und Druckversion eines Stückes mehr oder wenig identisch gewesen wären. Das allerdings waren sie in vielen Fällen nicht, auch wenn die Vorstellung, dass ein gedrucktes Stück von der Bühnenvesion erheblich abweichen konnte, manchem heutigen Betrachter vielleicht gegen den Strich geht.

In dem Vorwort zu der 1647 erschienenen Folioausgabe der Bühnenstücke von Beaumont und Fletcher schreibt der Verleger Humphrey Moseley: „One thing I must answer before it bee objected; 'tis this: When these Comedies and Tragedies were presented on the Stage, the Actours omitted some Scenes and passages (with the Authour's consent) as occasion led them; and when private friends desir'd a Copy, they then (and justly too) transcribed what they Acted. But now you have both All that was Acted, and all that was not; even the perfect full Originalls without the least mutilation."

Als die Stücke auf der Bühne gespielt wurden, so Moseley, ließen die Schauspieler (mit der Zustimmung der Verfasser) bestimmte Szenen und Stellen weg; und wenn private Freunde eine Kopie wünschten, schrieben die Schauspieler berechtigterweise nur das ab, was sie auf der Bühne gespielt hatten. „Doch hier habt Ihr nun sowohl das, was auf der Bühne gespielt wurde, als das, was dort nicht gespielt wurde, eben die wahren und vollständigen Fassungen."

Auf der Titelseite von John Websters Duchess of Malfi (1623 gedruckt) heißt es: „The perfect and exact Coppy, with diverse things Printed, that the length of the Play would not beare in the Presentment." "Die vollständige und genaue Fassung, in der Etliches gedruckt ist, was bei der Aufführung wegen der Länge entfallen musste."

Im Vorwort zur Quarto-Ausgabe seiner Tragödie Sejanus (1605) weist Ben Jonson die Leser darauf hin, dass der gedruckte Text nicht mit dem Bühnentext identisch ist. Auch der gedruckte Text seiner Komödie Poetaster (1602) ist gegenüber der Bühnenfassung erheblich erweitert worden.

Mit anderen Worten: Bühnenstücke hatten außer einem Spielwert auch einen Lesewert.

"Containing more than has been Publickely Spoken or Acted"

Auf ein anderes Beispiel wird nun etwas näher eingegangen, weil es vielleicht noch einige andere und meines Wissens bisher zu einem Gutteil unbeachtet gebliebene Zusammenhänge ins Blickfeld rückt: Ben Jonsons Komödie Every Man Out of His Humour.  

Ben Jonsons Komödie Every Man in His Humour wurde 1598 von Shakespeares Ensemble, den Chamberlain's Men, uraufgeführt. Ebenso 1599 Every man Out of His Humour. Über dieses Stück kam es zum Zerwürfnis zwischen Ben Jonson und den Chamberlain's Men. Die beiden folgenden Stücke Jonsons, Cynthia's Revels und Poetaster, werden nicht mehr von den Chamberlain's Men gespielt. Erst mit der Uraufführung der Tragödie Sejanus am zweiten Weihnachtstag 1603 scheint der Streit zwischen Autor und Ensemble beigelegt. Hingegen wird Thomas Dekkers Satiromastix 1601 von den Chamberlain's Men gespielt. Satiromastix ist im Wesentlichen eine Satire auf Ben Jonson, in der dieser als Horace (Anspielung auf Jonsons römisches Dichteridol Horaz) dargestellt wird.

In seinem apologetischen Dialog zu Poetaster kommt Jonson kurz darauf zu sprechen. „Was die Schaupieler betrifft, es ist wahr, ich tadelte sie, / Aber doch nur einige und diese so moderat, / Dass alle anderen unbetroffen hätten stillhalten können, / Hätten sie nur den Verstand oder das Selbstverständnis gehabt, / Gutes von sich selbst zu denken. Aber in ihrer Unfähigkeit, / glaubten sie, dass jedes angeprangerte Laster auf ihre ganze Zunft gemünzt war: /... Was sie gegen mich getan haben, / Berührt mich nicht... / Nur tuts mir leid für einige von ihnen, / die von Natur aus besser sind und von den anderen mitgezogen wurden / Auf diese niederträchtige Bahn." Poetaster enthält eine Szene, in der Schauspieler eher milde veralbert werden.

Doch was haben die Schauspieler gegen Ben Jonson getan? Möglicherweise meint Jonson die Aufführung von Dekkers Satire. Was haben sie darüber hinaus getan? Dazu lässt sich soviel feststellen: sie haben ihren Autor Ben Jonson nach Every Man Out of His Humour (EMOH) vor die Tür gesetzt. Es drängt sich sofort die Frage auf, warum sie dieses Stück überhaupt aufführten? Der Streit entzündete sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht an dem Stück, wie es 1599 aufgeführt wurde, sondern wie es, in einer erheblich längeren Version, 1600 gedruckt wurde. Auf der Titelseite findet sich die Angabe „AS IT WAS FIRST COMPOSED/ by the Author B. I. / Containing more than has been Publickely Spoken or Acted." 

Thomas Dekkers Satiromastix wurde ungefähr zur gleichen Zeit aufgeführt wie Jonsons Poetaster. Anspielungen auf letzteres Stück sind bei Dekkers nicht zu finden, wohl jedoch auf seine drei anderen Stücke vor 1601 und in V. 2 auf Every Man Out of His Humour, wie aus dieser Stelle ersichtlich, wo der Waliser Sir Vaughan Horaz/Jonson droht: „when you Sup in Tavernes, amongst your betters, you shall sweare... to keepe you out of the terrible daunger of the Shot, upon payne to sit at the upper ende of the Table, a'th left hand of Carlo Buffon." „ wenn du in Tavernen mit du sollst schwören.., um dich aus der [satirischen] Schusslinie zu halten, bei Strafe, am oberen Ende des Tisches neben Carlo Buffone zu sitzen." Carlo Buffone ist der Possenreiter in Jonsons EMOH, dem in V. 3 in einer Taverne der Mund mit Wachs versiegelt wird. Dekker suggeriert hier vermutlich, dass dem arroganten Jonson gleiches widerfahren könnte, wenn er nicht etwas bescheidener wird.

Knight or Gentleman

Kurz davor hat Dekker uns noch etwas Anderes mitzuteilen. Es existiert eine Tradition, derzufolge es Shakespeare selbst war, der 1598 Jonsons Stück Every Man in His Humour absegnete und Jonson als Autor in sein Ensemble einführte. Worauf diese Behauptung fußt, ist mir nicht bekannt, aber es könnte folgende Stelle in V. 2 von Dekkers Stück sein, wo wieder der Waliser Sir Vaughan Horaz/Jonson verdonnert: „Moreover and Inprimis, when a Knight or Sentlemen [Gentleman] of urship [worship], does give you his passe-port, to travaile [travel] in and out to his Company, and gives you money for Gods sake; I trust in Sesu [Jesus], you will sweare (tooth and nayle) not to make scalde and wry-mouthed Iestes upon his Knight-hood, will you not?" "Weiter und erstens, wenn ein Ritter oder Gentleman hohen Ranges dir einen Reisepass gibt, um in seine Gesellschaft ein- und auszugehen, und dir gnädig Geld gibt, so will ich bei Jesus hoffen, dass du mit aller macht schwören wirst, keine abgebrühten und ranzigen Witze über sein Rittertum zu machen, willst du wohl?" Man muss davon ausgehen, dass Dekker hier auf ein reales Ereignis anspielt. Die Gesellschaft, von der die Rede ist, kann eigentlich nur die Schauspielergesellschaft der Lord Chamberlain's Men, Shakespeares Ensemble sein. Doch wer ist dieser Ritter oder Gentleman hohen Ranges („of worship")? Ganz gewiss nicht Shakespere of Stratford, denn „Knight" und „Gentleman" sind hier nicht als soziale Schichten, sondern als Formen der Lebensführung, ritterlich oder gentleman-like, zu verstehen. Das soziokulturelle Ideal des „Gentleman" verdrängte immer mehr das des „Ritters", aber beide bestanden immer noch nebeneinander. Daher spricht Dekker wahlweise von einem „Knight or Gentleman". In The Art of English Poesie spricht der Verfasser von Edward de Vere als dem Ersten unter den Hofdichtern: „of which number is first that noble Gentleman Edward Earle of Oxford." (The Arte of English Poesie by George Puttenham. Edited by Gladys Doidge Willcock and Alice Walker. Cambridge: At the University Press, 1936, S. 61). "That noble Gentleman" und Dekkers "Gentleman of worship" sind synonyme Ausdrücke. Nun war der nominelle Schirmherr des Ensembles George Carey, 2. Baron of Hunsdon, Lord Chamberlain of the Royal Household. Doch wissen wir, dass auch Edward de Vere in irgendeiner Form an dem Ensemble beteiligt war. Robert Armin, der seit Anfang 1599 (nach dem Weggang William Kempes) die Narrenrollen im Ensemble spielte, berichtet in einer kurzen Schrift Quips Upon Questions, dass er Weihnachten 1599, am Vorabend einer Aufführung bei Hofe, zu seinem Lord nach Hackney ging. Lord Hunsdon wohnte nicht in Hackney, sondern im Blackfriars-Viertel. Edward de Vere, Lord great Chamberlain of England, wohnte dort (Abraham Feldman. „Shakespeare's Jester - Oxford's Servant" in The Shakespeare Fellowship Quarterly, Autum 1947, S. 39-43).

Nun erlaubt sich Ben Jonson in EMOH einige Seitenhiebe gegen Shakespeares romantische Komödien. Es ist mehrfach angemerkt worden, dass die Zeilen 516-520 in III. 1 von EMOH auf Shakespeares  Stück Twelfth Night (Was Ihr Wollt) anspielen: „That the argument of his comedy might have been of some other nature, as of a duke to be in love with a countess, and that countess to be in love with the duke's son, and the son to love the lady's waiting-maid: some such cross-wooing, with a clown to their serving-man, better than to be thus near and familiarly allied to the time." Genau das war das Programm, unter dem Jonson mit seiner Auffassung von Komödie gegen Shakespeares romantische Komödie angetreten war: "näher und enger anlehnend an zeitgemäße Verhältnisse". Für Jonson war es u. a. unrealistisch, dass Zwillinge wie Viola und Sebastian in Twelfth Night einander nicht erkannten. Die Anagnorisis, das Wiedererkennen, war ein Topos des Ritterromans (den Shakespeare allerdings zur Freilegung des Unbewussten benutzt); sie setzt zunächst ein Nicht-Wiedererkennen voraus. Darüber mokiert sich Jonson in II. 1, als er den Ritter Puntarvolo die „lady-in waiting", die Kammerfrau mit der eigenen Frau verwechseln lässt. Carlo Buffone spottet: „What? A tedious chapter of courtship after Sir Lancelot and Queen Guinevere? Away! I mar'l in what dull cold nook he found his lady out, that (being a woman) she was blessed with no more copy of wit but to serve his humour thus." (Zeilen 345-349). "Was? Ein nerventötendes Kapitel höfischer Liebe nach Lanzelot und Königin Guinevere? Fort! Ich wundere mich, in welcher öder kalter Ecke er seine Dame gefunden hat, die, da sie ein Weib ist, mit nicht mehr Hirnmasse gesegnet ist, als seiner Laune auf diese Art und Weise dienstbar zu sein."

Spitzen also gegen Shakespeare. Und in I. 1 ebenfalls eine Spitze gegen Edward de Vere als Dichter von „My mind to me a kingdom is". Trotz der 1975 von Steven W. May vorgebrachten Argumenten für Edward de Vere anstelle von Sir Edward Dyer als Verfasser dieses Textes (Steven W. May. "The authorship of 'My mind to me a kingdom is' " in The Review of English Studies, New Series, Vol. XXVI, no. 104, November 1975, S. 385-394) schreibt Helen Ostovich, die Herausgeberin der Quarto-Ausgabe von Jonsons Stück in der Reihe "The Revels Plays" (Manchester 2001) weiterhin Dyer zu. Bei dem Liedertext handelt es sich, wie in der nächsten Folge in einer einfachen tabellarischen Gegenüberstellung nachgewiesen werden wird, um eine Übertragung stoischen, insbesondere Senecaschen Gedankenguts in die poetische Form eines Liedertextes. Jonson:

MACILENE.  "Viri est, fortunae caecitatem facile ferre."

'Tis true; but, Stoic, where, in the vast world,
Doth that man breathe, that can so much command
His blood and his affection? 

......

There is no taste in this philosophy;
'Tis like a potion that a man should drink,
But turns his stomach with the sight of it.
I am no such pill'd Cynick to believe,
That beggary is the only happiness;
Or with a number of these patient fools,
To sing:  "My mind to me a kingdom is,"
When the lank hungry belly barks for food,

Es ist die Pflicht eines Mannes, Fortunas blindes Walten mit Gleichmut zu ertragen./
Es ist wahr, aber stoisch. Wo in der weiten Welt/
Lebt der Mann, der so sein Blut und seine Leidenschaften beherrscht?...
Diese Philosophie will nicht richtig munden./
Sie ist wie ein Heiltrank, den ein Mann nehmen sollte,/
Der aber beim Anblick den Magen umdreht./
Ich bin kein solch abgewetzter Zyniker zu glauben,/
Dass Bettlertum der einzige Glücksstand ist; /
Oder, um mit einigen dieser duldsamen Narren/
Zu singen 'Mein Geist ein Königreich mir ist'/
Wenn der hagere hungrige Bauch nach Nahrung schreit."

Dass Bettlertum der einzige Glücksstand ist" -
auch das erinnert an einen Liedertext Edward de Veres.:

Were I a King

Were I a king I might command content;
Were I obscure unknown would be my cares,
And were I dead no thoughts should me torment,
Nor words, nor wrongs, nor love, nor hate, nor fears;
A doubtful choice of these things which to crave,
A kingdom or a cottage or a grave.

So schießt denn Ben Jonson in EMOH einige Pfeile gegen Shakespeare ab. Und auch gegen Edward de Vere.

© 2010 R. Detobel


weiter zum XI. Teil ---------- zurück zum I. Teil