Shapiro-Tagebuch (1) Shapiros Umgang mit Zahlen

James Shapiro. Contested Will. London: Faber & Faber 2010.

12. April 2010:

Abschnitt: "The evidence for Shakespeare", S. 253:

"Wenn ich gefragt werde, wieso ich so sicher bin, dass Shakespeare der Autor ist, verweise ich auf verschiedene Beweisarten. Die erste betrifft das, was die frühen gedruckten Texte offenbaren; die zweite das, was Schriftsteller, die Shakespeare kannten, über ihn sagten. Nach meiner Auffassung reicht jede für sich aus, seine Verfasserschaft zu bestätigen - und die Geschichten, die sie erzählen, erhärten sich gegenseitig... Die schiere Anzahl preisgünstiger Quartos von Shakespeares Werken, die nach 1594 die Londoner Buchhhandlungen füllten, ist schwindelerregend und war noch nie dagewesen. Kein anderer Dichter oder Stückeschreiber erreicht annähernd die ungefähr siebzig Druckausgaben - und dabei sind nur die Ausgaben gezählt, die zu seiner Lebenszeit erschienen; nicht einbezogen sind das Quarto von Othello, das zuerst 1622 gedruckt wurde, und die Stücke die erst ein Jahr danach im Ersten Folio gedruckt wurden. Druckauflagen waren in der Regel auf fünfzehnhundert Exemplare beschränkt. Wenn umsichtige Verleger nur tausend Exemplare druckten und verkauften, so ist es wahrscheinlich, dass fünfzigtausend Bücher mit Shakespeares Namen (denn einige waren anonym veröffentlicht) zu seinen Lebzeiten zirkulierten - und das zu einer Zeit, da London nur zweihunderttausend Einwohner zählte."

im Original:

"When asked how I can be so confident that Shakespeare was their author, I point to several kinds of evidence. The first is what early printed texts reveal; the second, what writers who knew Shakespeare Said about him. Either of these, to my mind, suffices to confirm his authorship - and the stories they tell corroborate each other... The sheer number of inexpensive quartos of Shakespeare's works that filled London's  bookshops after 1594 was staggering and unprecedented. No other poet or playwright came close to seeing seventy or so editions in print - and that's counting only what was published in Shakespeare's lifetime and doen't include Othello, first printed in 1622, or any of the eighteen plays first published in the First Folio a year later. Print runs were usually restricted to fiteen hundred copies. If cautious publishers printed and sold only a thousand copies ,it's likely that fifty thousand books bearing Shakespeare's name (for some were published anonymously) circulated during his lifetime - at a time when London's population was only two hundred thousand."

Die Rechnung lädt zum Schmunzeln ein: fünfzigtausend Shakespeare-Quartos bei zweihunderttausend Londonern, das ist ein Shakespeare-Quarto für jeden vierten Londoner, pro Quarto-Londoner gleichsam.

So schwindelerregend das sein mag, Shapiro tut ein Übriges, beim Leser noch mehr Schwindel zu erregen.

Prüfen wir seine „Buchhaltung".

Liste der Shakespeare-Stücke, die vor 1616 in Quartoformat herausgegeben wurden:

Lfd. Nr.

Titel

Anzahl Quartos

Quartos mit Namen auf Titelseite

Quartos ohne Namen auf Titelseite

1.

2, Henry VI

2

0

2

2.

3, Henry VI

2

0

2

3.

Richard III

6

5

1

4.

Titus Andronicus

3

0

3

5.

The Taming of the Shrew

1

0

1

6.

Love's Labour's Lost

1

1

0

7.

Romeo and Juliet

3

0

3

8.

Richard II

5

4

1

9.

A Midsummer-Night's Dream

1

1

0

10.

King John (Troublesome Reign

2

0

2

11.

Merchant of Venice

1

1

0

12.

1, Henry IV

5

4

1

13.

2, Henry IV

1

1

0

14.

Much Ado About Nothing

1

1

0

15.

Henry V

1

1

0

16.

Hamlet

3

3

0

17.

Merry Wives of Windsor

1

0

1

18.

Troilus and Cressida

2

2

0

19.

King Lear

1

1

0

20.

Pericles

3

3

0

 

SUMMEN  

45

28

17

Wir kommen nicht auf die Zahl 70, sondern insgesamt 45, davon nur 28 mit Shakespeares Namen.

Und die Liste ist, was die Stücke betrifft, eher großzügig angelegt, denn The Troublesome Reign of King John (Pendant zu Shakespeares King John) sowie The Taming of A Shrew (Pendant zu Shakespeares The Taming of the Shrew) werden im Allgemeinen nicht als Shakespeare-Stücke betrachtet. Die Gesamtzahl ginge damit auf 43 zurück.

Die Gedichte Venus and Adonis, The Rape of Lucrece, der Gedichtband The Passionate Pilgrim und die Sonnets sind nicht mitgezählt. Sie brächten die Zahl aber auch nur auf 47 oder 49, die Zahl mit Shakespeares Namen auf der Titelseite nur auf 3 mehr: 30, denn von den  Sonnets erschien nur ein Quarto vor 1616. Vom Passionate Pilgrim erschienen 2, aber diese enthalten manches Gedicht, das nicht als Shakespeares gilt. Shakespeare hat dagegen nicht protestiert, was Shapiro natürlich nicht erwähnt.

Die Gedichte Venus and Adonis und The Rape of Lucrece wiesen, wie Shapiro selbst an anderer Stelle bemerkt, den Namen William Shakespeare nicht auf der Titelseite aus, sondern nur unterhalb der Widmung.

Doch wollen wir nachsichtig sein wie Shapiro selbst und helfen wir ihm dabei, so nahe wie möglich an die Zahl 70 heranzukommen. Rechnen wir diese beiden Gedichte, Venus and Adonis (2 Quartoausgaben) und The Rape of Lucrece (1 Quarto-Ausgabe) trotzdem dazu. Und auch die beiden Quartos von The Passionate Pilgrim. Dann sind wir bei 33, fast die Hälfte von 70 schon. Das ist noch nicht ganz „ungefähr 70".

Ja, und dann erlebten die Gedichte Venus and Adonis und The Rape of Lucrece noch mehr Neuauflagen. Allerdings in Octavo-, nicht wie die Erstausgabe (und auch die Zweitausgabe von Venus and Adonis) in Quarto-Format. Shapiro muss wissen, was er schreibt. Und er schreibt „Quarto". Doch sehen wir es ihm nach. Rechnen wir auch die dazu. Insgesamt sind es bis 1616: für Venus and Adonis: 8, für The Rape of Lucrece: 5, insgesamt 13.

Wir sind jetzt bei 46.

Wo könnte noch etwas zu holen sein?

Nur noch bei 2 Stücken. Der Name Shakespeare erscheint vor 1616 noch auf der Titelseite von 2 Stücken: 1605 von The London Prodigal und 1608 von A YorkshireTragedy.

Es gilt als ausgeschlossen, dass Shakespeare sie schrieb. Er hat dagegen nicht protestiert. Doch das erwähnt Shapiro wieder nicht.

Shapiro will ja nur zählen und durch Zahlen beeindrucken. Er zählt schlecht und beeindruckt nicht.

Lassen wir all seine Fahrlässigkeiten (er selbst will ja auch nett sein) großzügig, allzu großzügig wahrlich, durchgehen, kommen wir auf die Zahl 48.

Immer noch weit von 70 entfernt. Und die schon erheblich frisierte Bilanz braucht noch mehr Hochstapelei.

© Robert Detobel 2010