Shapiro-Tagebuch (3) „forgeing" oder Forschung?

James Shapiro. Contested Will. London: Faber & Faber 2010.

14.  April 2010:

Abschnitt: "The evidence for Shakespeare", S. 254

Shapiros Buch ist in vier Hauptteile gegliedert: "Shakespeare", "Bacon", "Oxford" und wiederum "Shakespeare".

Im ersten Teil "Shakespeare" bringt Shapiro den Fälscher John Payne Collier (1789-1883) zur Sprache und zieht als Fazit, dass in der Regel der Großteil der Dokumente, die Collier über Shakespeares Geschäfte fand, richtig, alle Dokumente aber, die er über Shakespeares „kreatives Leben" fand, gefälscht seien (S. 74). Im letzten Teil „Shakespeare" beruft er sich für Shakespeares „kreatives Leben" gleichwohl auf eben diesen Collier.

"Einer derer, die Shakespeare erkannten und ihn mit Namen kannten, war George Buc. Buc war ein Staatsbeamter, Historiker, Buchsammler und schließlich Master of the Revels... Buc kannte Shakespeare gut genug, um ihn nach dem Verfasser eines alten und 1599 anonym erschienenen Stückes zu fragen, George a Greene, the Pinner of Wakefield, von dem er neulich ein Exemplar erworben hatte."

„One of those who recognised Shakespeare and knew him by name was George Buc. Buc was a government servant, historian, book collector and eventually Master of the Revels... Buc also knew Shakespeare well enough to stop and ask him about the authorship of an old and anonymous play published in 1599, George a Greene, the Pinner of Wakefield, a copy of which he had recently obtained." (S. 254).

Auf Seite 350, in seinem „Bibliographical Essay" nennt er die Quelle für seinen Bericht über eine Begegnung zwischen Sir George Buc und William Shakespeare. Seine Quelle ist Alan Nelson. Anders als Buc, das sollte bekannt sein, ist Alan Nelson kein „Historiker". Man kann nicht behaupten, Nelson hätte in seiner Oxford-Biografie Klio, die Muse der Geschichte, vergewaltigt, indem er gefälscht hätte. Nein, gewiss nicht: er und Klio haben sich nicht einmal geküsst. Seine natürliche Ignoranz hinsichtlich historischer Hintergründe, Arm in Arm mit seiner Abneigung, sich zu informieren, und seiner Neigung, gerade dies als professionelle Kompetenz zu promulgieren, erübrigt jeden Fälschungsversuch, sobald er das Terrain der Interpretation betritt.

Sir George Buc und Shakespeare sollen sich begegnet sein. Shapiro ahnt auch, wo das gewesen sein könnte.  Shakespeare könnte Buc an einem der Theater „The Curtain" oder „The Globe" über den Weg gelaufen sein. Oder vielleicht hätten sie sich auch an einem  Bücherstand im Buchhändlerviertel St Paul's Churchyard getroffen, wo Shakespeare gerade durch einige der vielen Bücher blätterte, die er für seine Stücke benutzte. Oder vielleicht haben sie sich an der Börse, dem Royal Exchange, getroffen.

(Wenn es im Buchhändlerviertel St. Paul's Churchyard gewesen sein sollte, war Shakespeare vielleicht gerade dabei, nach dem Stoff für Othello zu suchen, den er einige Jahre später schreiben würde. Nein, letzteres schreibt Shapiro nicht. Aber hat man einmal mit dem Mutmaßen angefangen, macht es über alle Maßen Mut und Spaß, damit fortzufahren.)

Was Shapiro indessen nicht erwähnt, ist: die Information über George Buc, der Shakespeare nach dem Verfasser von George a Greene, the Pinner of Wakefield gefragt haben soll, stammt von John Payne Collier!

Man musste, schreibt Shapiro wie andere vor ihm, jedes Dokument, das John Payne Collier entdeckt hatte, überprüfen. Die Frage, ob Bucs Vermerke auf dem Exemplar von George a Greene echt oder eine Colliersche Fälschung sei, ist überprüft worden. Die Frage wurde knapp in einem Artikel behandelt, der 1998 im Neuen Shake-speare Journal, Bd.2 abgedruckt ist („Eine Chronologie! Eine Chronologie! Mein Pferd für eine Chronologie!").

Recht ausführlich hat sich Samuel A. Tannenbaum 1933 mit der Frage beschäftigt, ob es sich um eine Fälschung handelt (Samuel A.Tannenbaum, Shaksperian scraps and other Elizabethan fragments, Port Washington, N.Y.: Kennikat Press Inc. 1966, S. 42-50).

Über die Verfasserschaft war man sich lange im Unklaren. 1811 hielt Ludwig Tieck es für ein Frühwerk Shakespeares. 1825 fand dann John Payne Collier ein Exemplar mit den beiden folgenden Vermerken: „Written by ............ a minister, who ac[ted] the pinner's part in it himself. Teste W. Shakespea[re]" und „Ed Juby saith that the play was made by Ro. Greene." Man beachte, dass die Anzahl Pünktchen zwölf ist, genauso viele wie die Anzahl Buchstaben in „Robert Greene". Shakespeare wäre der Name Robert Greene, der ihn 1592 angeblich so harsch angegriffen haben soll und nach manchem orthodoxen Literaturwissenschaftler sein großer Rivale, entfallen; er soll entweder ihn für einen Pastor gehalten haben oder an jemand anders als Greene gedacht haben. Der Pastor hätte außerdem nicht nur das Stück geschrieben, sondern dazu auch noch in dem Stück die Hauptrolle gespielt. Ed[ward] Juby war seit 1594 ein Schauspieler der Admiral's Men (ab 1604 Prince Henry's Men). 

Was schreibt Shapiro dazu? Wie erklärt er das sozialgeschichtlich kaum vorstellbare Ereignis, dass ein Pastor die Hauptrolle in einem Stück spielte, das der Titelseite zufolge von einem kommerziellen Ensemble, den Earl of Sussex' Men, aufgeführt wurde? Ohne jeglichen erkennbaren Anflug von Verwunderung kommentiert Shapiro:

„Shakespeare tat sein Bestes, um Buc zu helfen, und erinnerte sich, dass das Stück von einem Pastor geschrieben wurde, aber an dieser Stelle ließ ihn sein Gedächtnis im Stich. Die Gedächtnislücke war verständlich, denn seit der Aufführung von George a Greene waren viele Jahre vergangen. Shakespeare lieferte freiwillig ein ungewöhnliches Informationshäppchen: der Pastor hatte in seinem eigenen Stück die Rolle des ‚Pinner' gespielt."

Ein „Pinner" hatte die Aufgabe, streunendes Vieh wieder einzupferchen. Das Informationshäppchen bringt uns Shapiro zufolge Buc wie Shakespeare ganz plastisch vor Augen.

 „Bucs Begegnung in Fleisch und Blut mit einem Mann, den er sowohl als Schauspieler wie als Stückeschreiber kannte, legt nahe, dass wenn man einmal  damit beginnt, Shakespeare in seine eigene Zeit und Umgebung zurück zu versetzen, der Gedanke, er könnte sich aktiv verschworen haben, um jedermann, der ihn kannte oder mit dem er in Berührung kam, über die wahre Verfasserschaft der Werke, die seinen Namen trugen, zu täuschen, schrecklich weit hergeholt anmutet."

Tannenbaum, beileibe kein anti-Stratfordianer (es heißt, er soll mit Sigmund Freud gebrochen haben, weil dieser die Kandidatur Oxfords favorisierte), hält hingegen die Vermerke für eine Fälschung Colliers. 1831 veröffentlicht Collier The History of English Dramatic Poetry to the Time of Shakespeare. Darin verweist er auf seinen eigenen Fund.

"Es hat sich erst in den letzten Jahren herausgestellt, dass es sich um ein Werk Robert Greenes handelt, als ein Exemplar ans Tageslicht kam, auf dessen Titelseite in einer zeitgenössischen Handschrift aufgrund des Zeugnisses des Schauspielers Juby versichert wurde, es handele sich um ein Werk Greenes."

Und in einer Fußnote dazu:

 „In der gleichen Handschrift wird registriert, dass The Pinner of Wakefield von einem ‚Pastor' geschrieben wurde, wofür als Zeuge Shakespeare genannt wird. Greene war tatsächlich Kirchenmann gewesen und er war wohl derjenige, der gemeint war, obwohl für seinen Namen eine Leerstelle gelassen wurde."

So Collier.

Alexander Dyce, Herausgeber der Gedichte und Stücke Greenes (1861), akzeptierte Zuweisung und Kirchenlaufbahn. In seiner Greene-Biografie Life of Robert Greene übernimmt Professor Nicholas Storojenko die Zuweisung, verwirft aber den kirchlichen Beruf. In einem Artikel für The Modern Language Review (April 1916) verwarf Walter W. Greg zunächst die Zuweisung und hielt eine Fälschung für möglich. „Bis nicht das Original von irgendjemandem, der mit den Fälschungen Irelands und Colliers vertraut ist, überprüft worden ist, kann natürlich kein endgültiges Urteil gefällt werden."

Doch Sir A. Bond, seinerzeit Hauptbibliothekar des British Museum, hielt die Vermerke für authentisch und zitiert den angesehenen Bibliographen Ronald B. McKerrow (1872-1940), der es für möglich hält, dass die Präposition „by" im veralteten Sinn von „after" oder „in allusion to" verwendet wurde, was Bond zu der Bemerkung verleitet, der Schauspieler Juby wie der Schreiber der Notiz (Sir George Buc, selber Literat und Historiker!) seien keine sehr intelligente Personen gewesen. Wie gesehen, war Shakespeare zwar sehr intelligent, soll aber unter Gedächtnisstörungen gelitten haben.

F.W. Clarke, der 1911 das Stück für die Malone Society herausgab, zog den Wert der Memoranda in Zweifel: „Es bleibt zweifelhaft... wieviel Wert solchen anonymen Memoranda wie diesen beigemessen werden soll, wenn, wie in diesem Fall, die immanente Unterstützung für eine Zuweisung an Greene so schwach ist." Das Urteil trifft natürlich auch auf die isolierte Information zu Shakespeare zu. Dass sie zu isoliert ist, beweist Shapiro im Grunde selber, indem er sich einige Situationen ausmalen muss, in denen sich Shakespeare und Buc begegnet sein könnten, und „Fleisch und Blut", die nicht vorhanden sind, herbeibeschwören muss.

Greg hat später die Authentizität der Vermerke ebenfalls akzeptiert. Aber lässt sich an solchen hingekritzelten Vermerken George Bucs Handschrift zuverlässig nachweisen?

Tannenbaum ist dagegen der Meinung, man könne die Handschrift einigermaßen zuverlässig identifizieren... und zwar als die John Payne Colliers. Er vergleicht die Memoranda mit drei anderen Fälschungen. Es sind:

Erstens ein Exemplar des 1594 erschienenen Bühnenstückes, Locrine (das der Angabe auf der Titelseite zufolge von einem W. S. geschrieben, nachgesehen und verbessert worden sein soll). Hier macht der Text des Vermerks allein schon stutzig. 

<< Char[les] Tilney wrot[e] /Tragedy of this matter which/ he named Estrild:/ I think is this. it was l[?] /by his death. A [?] fellon hath published/ I made dũbe shewes for it./ wch I yet have. G. B.>>

In modernisierter Schreibweise:

"Charles Tilney wrote tragedy of this matter which he named Estrild. I think is this. It was l[ost?] by his death. A felon (fellow?) hath published. I made dumb shows for it. Which I yet have. G. B."

Charles Tilney war einer der Verschwörer, die unter Leitung Anthony Babingtons (Babington-Verschwörung) 1586 versuchten, Maria Stuart zu befreien. Tilney und die übrigen Verschwörer wurden im gleichen Jahr gehängt. Von Tilney ist keine schriftstellerische Tätigkeit bekannt. Estrild ist in dem Stück die Skythenkönigin. Übersetzt ergibt dies ungefähr:

„Charles Tilney schrieb eine Tragödie über diesen Stoff, der er den Titel Estrild gab. Ich denke, dies ist es. Es  [ging verloren?] bei seinem Tod. Ein Schurke hat es veröffentlicht [vielleicht ein nicht gefasster Mitverschwörer, vielleich muss man auch „fellow" lesen]. Ich machte für das Stück die Pantomimen, das ich jetzt habe. G. B."

Tannenbaum weist darauf hin, dass es ziemlich skurril seitens George Buc wäre, einen solchen Vermerk mit seinen Initialen zu unterzeichnen. Wozu eigentlich? Und soll er sich damit etwa die Anerkennung späterer Forscher haben verdienen wollen? Weiter soll er, der Master of the Revels, auch die Pantomimen, die „dumb shows", zu Beginn eines jeden Aktes entworfen haben.

Zusätzlich ist zu bedenken, dass nur Collier solche Vermerke durch George Buc auf den Titelseiten von Bühnenstücken gefunden hat.

Tannenbaum führt auch Schriftvergleiche mit 2 anderen solchen Texten durch, einmal auf der Titelseite eines Stückes, das bestimmt Robert Greene geschrieben hat, nämlich James IV, dessen Titel jedoch auf dem Exemplar merkwürdig anmutet: The Scottish Historie or rather fiction of English & Scottish matters comicall" und - bezeichnenderweise - in einem Exemplar von Daphnis Polystephanos, einem Gedicht, das Buc wirklich selbst geschrieben und 1605 König Jakob I. gewidmet hat, wohl, wie Tannenbaum vermutet, um sich damit eine eigene Vorlage für Bucs Handschrift zu schaffen.

In allen drei Fällen, George a Greene, James IV und Daphnis Polystephanos weist Tannenbaum eine ganze Reihe von Ungereimtheiten nach, die seine „Widerleger" nicht zurückgewiesen haben. Ob Walter W. Greg, R.C. Bald oder Charles A. Pennel, sie geben sich damit zufrieden, eines von Tannenbaums Argumenten zu relativieren und den Rest zu übergehen. Greg („Three Manuscript Notes by Sir George Buc", Library, 4th series, XII (1931) 307-321) weist darauf hin, dass die von Tannenbaum nachgewiesenen Nachbesserungen eher gegen eine Fälschung sprächen, da ein Fälscher tunlichst solche Nachbesserungen vermeiden würde, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen; eine, vor allem von Greg, erstaunlich merkwürdige Logik, denn wenn solche Nachbesserungen eher für die Echtheit sprächen, dann müsste doch ein Fälscher gerade darauf bedacht sein, eben solche Nachbesserungen vorzusehen, umso mehr dann, wenn ihm der erste Versuch in anderer Hinsicht nicht ganz gelang. R.C. Bald („The Locrine and George a Greene Title-Page Inscriptions" in Library, 4th ser., XV (1934) 295-305) begnügt sich damit, Gregs Argument etwas weniger schneidig (und zweischneidig) zu formulieren, indem er darauf hinweist, dass solche Verbesserungen nicht notwendigerweise auf eine Fälschung hinwiesen und sie zudem typisch für Buc wären. Charles A. Pennel („The Authenticity of the George a Greene Title-Page Inscriptions" in Journal of English and German Philology, Vol. 64, No 4 (1965) 668-676) ist etwas blauäugig, wenn er als Argument für die Echtheit anführt, dass Collier zwar fälschte, aber immer im Hinblick darauf, diese Fälschungen für sich selbst auszunutzen, während er in diesem Fall sich sehr distanziert zur eigenen Entdeckung verhalten hätte.

Collier war trickreicher und raffinierter. In einer der frühesten Ausgaben von Notes & Queries, in den 1850er Jahren,  erkundigte er sich einmal nach einer Ballade über die Schlacht von Azincourt (1415). Er habe eine Kopie, die leider an den Rändern zerfranst sei, so dass er nicht den ganzen Text habe. Er glaube jedoch, es müssten noch andere Exemplare existieren. Vielleicht hätte ein Leser von Notes & Queries eine bessere Kopie. Wäre dies so, wäre er, Collier, sehr dankbar, für eine entsprechende Nachricht. In den Jahren danach hat sich kein Leser gemeldet. Zumindest nicht in Notes & Queries. Es ist bekannt, dass Collier eine Vielzahl von Balladen selbst verfasst und sie als elisabethanische ausgegeben hat. Colliers Kopie war aller Wahrscheinlichkeit nach die einzige existierende. Und er hatte auch diese vermutlich selbst verfasst.

Shapiros „Evidenz" ist sehr isoliert und steht auf sumpfigen Grund.

© Robert Detobel 2010