Shapiro-Tagebuch (15) Etwas über Aristokratien

Die Frage, die James Shapiro mit seinem Buch stellt: "Wer schrieb Shakespeare?" [Contested Will - Who wrote Shakespeare?] ist ohne genaue Kenntnis davon, was Aristokratie im 16./17.Jahrhunder war, nicht zu lösen. Am Ende von Teil 14 hieß es deshalb:

Es wird zu prüfen sein, ob Bates und Shapiros Vorstellung von Aristokratie geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen entspricht."

Wer ahnt, ist sich nicht restlos sicher und hegt zumindest noch einige Zweifel. Wer sich ganz sicher ist, hegt nicht mehr den geringsten Zweifel und hat in der Regel keine Ahnung. Sowohl Jonathan Bate 1997 [The Genius of Shakespeare] als auch James Shapiro 2010 [Contested Will - Who wrote Shakespeare?] sind ganz sicher: ein aristokratischer Schriftsteller hätte niemals mit einem gemeinen Schriftsteller zusammengearbeitet. Eine Grenze lag zwischen ihnen, wie die Berliner Mauer zwischen den unterschiedlichen und feindlichen Gesellschaftssystemen West- und Ostdeutschlands. Oder um im Sozialfach zu bleiben, wie die Grenze zwischen den Brahmanen und den Parias, den Unberührbaren, im indischen Kastensystem.

Weder Bate noch Shapiro halten es für nötig zu spezifizieren, wie sie sich eine aristokratische Gesellschaft vorstellen. Doch ist das nicht augenfällig, wie man sich sie vorzustellen hat? Ist da nicht der Hochadel, die „peerage": Herzog, Marquis, Graf (Earl), Viscount, Baron, die alle mit Lord angeredet werden? Und der niedere Adel, die „Knights" oder Ritter, die alle mit „Sir" angeredet werden? Dann folgten in der sozialen Hierarchie die Esquires und die Gentlemen. Gehörten die beiden letzteren Gruppen noch zum niederen Adel, zur „Gentry"?

Hier häufen sich bereits die Ambiguitäten, wenn man vermeint, in der Titelhierarchie eine zuverlässige, eindeutige Richtschnur zu finden. Es gab auch Lords, die kraft ihres Amtes Lord waren, obwohl sie nicht dem Hochadel angehörten. Der ranghöchste Lord überhaupt, der Lordkanzler (was heute der Justizminister wäre) war oft kein Mitglied des Hochadels, die Lord Chief Justices der drei Common-Law-Gerichte: King's (Queen's) Bench, Common Pleas und Court of Exchequer gehörten so gut wie nie dem Hochadel an. Der Vorsitzende des Court of Exchequer wurde nicht Lord Chief Justice gennant, sondern Chief Baron, obwohl er nach der sozialen Hierarchie kein Baron war. Und alle Richter des Court of Exchequer trugen den Titel „Baron".

In seiner rororo-Monographie über Shakespeare bemerkt Alan Posener richtig: „Die Wirklichkeit erweist sich als etwas unordentlicher". (S. 103). Zu unordentlich für Posener, der sich ganz sicher ist, keine Zweifel hat, denn er fährt fort: „Zwar zog sich Shakespeare um diese Zeit aus der Schauspielerei und aus London zurück: er widmete sich seiner Familie, seinen Freunden und seinen Grundstücksgeschäften in Stratford, wie es sich für einen Gentleman gehörte." Was Posener aber nicht beachtet ist, dass die Art der Geschäfte, die Shakespeare während der von Posener gemeinten Zeit tätigte, ihn als Gentleman: völlig disqualifizierten. In einem gewissen Sinne hat Posener Recht. „Gentleman" war Shakespeare aus Stratford zwar, aber doch auch kein Gentleman, wie es zum Beispiel sein Herausforderer Oxford war, den der Verfasser von The Arte of English Poesie, dem bedeutendsten stiltheoretischen Werk der elisabethanischen Ära, beschreibt als „That noble Gentleman Edward Earle of Oxford" (herausgegeben von Gladys D. Willcock und Alice Walker, Cambridge 1936, S. 61).

„Gentleman" ist nicht immer gleich „Gentleman". Der (wie Shakespeare aus Stratford) zu einem Wappen berechtigte Gentleman war nicht unbedingt ein Gentleman im sozialkulturellen Sinne. Er war es dann nicht, wenn er Geschäfte machte wie Shakespeare aus Stratford. Mit „Gentleman" wurde zugleich ein Verhaltensideal bezeichnet. Um als Gentleman im sozialkulturellen Sinne zu gelten, wie in Henry Peachams 1622 erschienenen Buch The complete Gentleman gemeint, war es Bedingung, sich solcher Geschäfte zu enthalten. Zu den Verhaltensnormen eines Gentleman gehörten in erster Linie die „liberality" (Großzügigkeit) und die „hospitality" (Gastfreundschaft) - siehe u. a. Lawrence Stone, The Crisis of the Aristocracy 1558-1641, Oxford 1965, S. 39ff.)

Victor G. Kiernan, ein angesehener Historiker, findet es gar nicht so einfach zu bestimmen, was eine Aristokratie ist. In The duel in European history: honour and the reign of aristocracy (Oxford 1988, S. 50) schreibt er: „Es ist alles andere als leicht zu definieren, was eine wahre Aristokratie ist, und die Auffassungen des sechszehnten Jahrhunderts darüber sind in vielen Hinsichten schwankend und dehnbar. Ein Titel war eine Gewähr, Grundbesitz könnte eine bessere gewesen sein."

Halten wir für diesen Abschnitt fest: Reichtum könnte eine andere Bedingung als ein Titel gewesen sein.

Doch ein reicher Lord, der sich geizig gebärdete, würde nicht als wirklich adelig angesehen, weil er nicht „nobel lebte" oder anders ausgedrückt: die beiden Eigenschaften der „liberality" und „hospitality" vermissen ließ. Status wurde nicht an der Größe des Vermögens gemessen, sondern an der Höhe der Ausgaben. Nach Sir Thomas Smith, Professor für Zivilrecht („equity law") und Griechisch in Cambridge und zeitweilig Secretary of State (nach heutiger Funktionsfülle Innen- und Außenminister) in De Republica Anglorum gehörte zum Hochadel (ab Baron), wer 1000 Pfund im Jahr spendete (auch nach William Harrison, Description of England).

Norbert Elias (Die höfische Gesellschaft, Frankfurt/Main 1983, S. 102-103) unterstreicht, wie schwierig es ist für den modernen Betrachter, der mit dem „Ethos des Sparens für zukünftigen Gewinn" auf- und zusammengewachsen ist, die höfische Gesellschaft zu verstehen.

„Von diesem berufsbürgerlichen Verhaltenskanon unterscheidet sich der des Prestigeverbrauchs. In Gesellschaften, in denen dieses andere Ethos, das des Statuskonsums (status consumption ethos) vorherrscht, hängt allein schon die bloße Sicherung der vorhandenen gesellschaftlichen Position einer Familie und noch weit mehr die Erhöhung des gesellschaftlichen Ansehens, der gesellschaftliche Erfolg, davon ab, daß man die Kosten seiner Haushaltung, seinen Verbrauch, seine Ausgaben überhaupt, in erster Linie von dem gesellschaftlichen Rang, von dem Status oder Prestige, das man besitzt oder anstrebt, abhängig macht."

Im England des 16. und frühen 17. Jahrhunderts waren also Ausgaben von 1000 Pfund pro Jahr die Richtschnur für einen Angehörigen des Hochadels. Deshalb wohl erhielt Edmund, 3. Baron Sheffield, der das wichtige Amt des Lord President of the Council of the North versah, von Jakob I. 1000 Pfund im Jahr. Es ist zum Verständnis des Folgenden wichtig zu betonen: Das Amt war ebenso wie das des Lord President of Wales ein sehr wichtiges. Vergleichbar sind diese beiden Ämter mit dem Amt des Vizekönigs von Irland. Zwar waren Wales und der Norden besser in das Königreich England integriert als Irland, aber wegen regionaler Partikularismen waren auch von dort her Unruhen zu befürchten (wie die beiden von Nordengland ausgehenden Rebellionen von 1536, die sogenannte Pilgrimage of Grace, und die Northern Rebellion 1569 zeigen). Deshalb wurde dort ein eigener Kronrat oder Geheimrat eingerichtet. Lord Sheffield war Präsident dieses Rates für den Norden.

Es wäre jedoch nicht richtig, den Betrag von 1000 Pfund als ein für die Ausübung des Amtes bestimmtes „Gehalt" aufzufassen. Es handelte sich um eine Schenkung der Krone. Das mit hohen Ämtern verbundene direkte Gehalt war zumeist lächerlich klein, was wiederum mit der adelsspezifischen Auffassung des Dienstes an den Monarchen zusammenhing, der nicht den äußeren Anschein des Erwerbs haben soll. In Wirtschaft und Gesellschaft hat Max Weber auf die Entstehung dieser adeligen Abkehr vom Erwerb aus dem Feudalismus hingewiesen und es als eine wesentliche Bedingung der Aristokratie herausgestellt, sich durch diese Haltung von den anderen Ständen, insbesondere den Händlern, abzugrenzen, eine Bedingung, die auch für die höfische Aristokratie zutraf (Elias, passim). Die mit dem Amt verbundenen Kosten mussten aus dem Amt selbst bestritten werden, etwa durch Steuer- oder Zolleinnahmen oder durch Ämterverpachtung. Offenbar strömten Lord Sheffield zu wenig Einnahmen aus mit dem Amt verbundenen Quellen zu, was ihm dann wieder verwehrte, durch angemessene Ausgaben seinen adeligen Status aufrecht zu erhalten. Darüber hatte er sich 1604 bei König Jakob beschwert: nicht dass ein so wichtiges Amt so schlecht bezahlt würde, sondern dass er nahezu ruiniert sei. Jakob hatte ihm dann eine Annuität von 1000 Pfund gewährt, genau den Betrag, den ein „Peer" statusgemäß jährlich auszugeben hatte. Lord Sheffield fand die Summe zu gering.

Und dass er sich beschwerte, darüber beschwerte sich wiederum der König in einem Brief an seinen wichtigsten Minister Robert Cecil (G.P.V. Akrigg, Letters of King James IV & I, Berkeley 1984, S. 242-4). Der Brief ist nicht datiert. Es lässt sich jedoch der Zeitraum, in dem er geschrieben wurde, einigermaßen genau bestimmen. Er ist an Robert Cecil, Viscount von Cranborne, gerichtet. Im Januar 1605 wurde Cecil in den nächsthöheren Rang eines Earl (of Salisbury) erhoben. Es ist in dem Brief auch vom 17. Earl of Oxford in einer Weise die Rede, die impliziert, dass er verstorben ist. Der Brief muss nach Oxfords Todestag, dem 24. Juni 1604, und vor Januar 1605 geschrieben worden sein.

Jakob begründet seinen Entschluss, Lord Sheffield nicht mehr als 1000 Pfund zu gewähren, so:

„Als sein Vermögen ruiniert war, erhielt der Große Oxford nicht mehr von weiland der Königin. Ich selbst gebe meiner einzigen nahen Cousine Arabella nicht mehr. Nee, ein fremder Fürst aus Deutschland, der voriges Jahr hier war, erhielt nicht mehr." Nun erwähnt Jakob einmal Sheffields Dienst, aber nur allgemein, ebenso allgemein wie an folgender Stelle die Dienste des Lord Cromwell. „Oh, dann rechnete er [Sheffield] vor, dass ich jedem englischen Adeligen, dessen Vermögen in Trümmern lag, geholfen hätte, nur ihm nicht, der er  zumindest dem vergangenen Staat [dem Staat Elisabeth' I.]  Dienste  erwiesen hätte. Ich erwiderte ihm, dass er sich darin sehr irrte und ich täglich vom armen Lord Cromwell, der in den Kriegen genauso tapfer wie er dem Staat gedient hat, mit der Bitte um Erlaubnis behelligt werde, seine letzten Grundstücke verkaufen zu dürfen."

Doch mit keinem Wort erwähnt Jakob das wichtige Amt, das Lord Sheffield zu versehen hat: Lord President of the Council of the North. Denn Lord Sheffield dürften nicht zuletzt die Kosten des Amtes ruiniert haben, doch das scheint dem König der Rede nicht wert.  Es müsste dies heute einem fast schon wie eine höchst königliche heuchlerische Unterschlagung vorkommen. Dem ist freilich nicht so. Das feudale Vasallenverhältnis basierte auf dem Grundsatz von Ehre und Treue zum Herrn; das höfische Dienstverhältnis des Adeligen basierte letztlich auch darauf, nur dass es jetzt nur noch einen Herrn gab, den König oder den Fürsten.

In komödiantischer Weise, aber durchaus treffend dargestellt, begegnet uns dieser Sachverhalt in Molières Le Bourgeois-Gentilhomme (Der Bürger als Edelamnn). Monsieur Jourdain, der Protagonist dieser Komödie, ist ein Händler mit Stoffen und wünscht zum Adeligen, zum „gentilhomme", aufzusteigen. In Akt IV, Szene 3 kommt ihm die Befürchtung, seine Ambitionen könnten vielleicht daran scheitern, dass sein Vater ein Stoffhändler war. Sein gewiefter Diener Covielle überzeugt ihn vom Gegenteil. Sein Vater sei ein höchst ehrenwerter Edelmann gewesen, überaus zuvorkommend und dienend; er sei ein leidenschaftlicher Sammler von Tüchern gewesen, die er seinen Freunden geschenkt habe und diese wiederum hätten sich dafür revanchiert, indem sie ihm ihrerseits Geschenke in Geldform gemacht hätten." Kauf und Verkauf werden zu Schenkungen ohne jede Gewinnabsicht umgedeutelt, Beruf zu einem selbstlosen Dienen. Uneigennütziger Dienst an Fürst und Gemeinwohl war das Prinzip, durch das der Adel gegen die nur nach eigenem Profit strebenden Händler - eine Einschätzung, die auch außerhalb des Adels verbreitet war - seinen Anspruch auf die politische Führungsrolle legitimierte.

Eine Parallele für diese semantischen Metamorphosen findet sich im Stück Return from Parnassus (ca. 1602), Akt II, Szene 4:

STERCUTIO:
Sohn, ist das der Gentleman, der uns die Pfründe verkauft?
IMMERITO:
Pfui, Vater! Du sollst nicht von Verkaufen reden; Du musst sagen: ist dies der Gentleman, der das „Gratisio" haben muss.
...
STERCUTIO.
Oh, ist das der grassierende Gentleman? Und wieviel Pfund soll ich zahlen?
IMMERITO:
Oh, Du sollst es nicht Pfund sondern Dank nennen...
ACADEMICO [beiseite]:
Nicht Pfund, sondern Dank? Sieh, ob nicht dieser einfache Kerl, der von einem Studierenden nichts mehr hat als den schwarzen Stoff, den ihm der Tuchhändler umgewickelt hat, den Stil unserer Zeit zu treffen versteht.

Der gleiche Sachverhalt begegnet uns ebenfalls im Gewand einer geschichtswissenschaftlichen Analyse in G. E. Aylmers The King's Servants - The Civil Service of Charles I 1625-1642 (London and Boston 1974, S. 162). „Unter dem Privy Seal [Geheimsiegel, im Gegensatz zum Großsiegel des Lordkanzlers] gewährte Annuitäten zeigen ein Übergewicht von Amtsinhabern. In der Praxis scheint es sich von selbst zu verstehen, dass es Amtsinhaber waren, die Pensionen und insbesondere viele der unter dem Geheimsiegel gewährten Annuitäten erhielten; sie waren faktisch Vergütungen für die Ausübung eines Amtes, nur dem Namen nach waren sie es nicht." Oder anders ausgedrückt: das spezifische Amt, für das die Annuität gewährt wurde, blieb unerwähnt.

Oxfords Annuität wurde am 25. Juni 1586 ebenfalls unter dem Geheimsiegel gewährt. Einige Oxfordianer haben daraus geschlossen, dass es sich dabei um eine geheimdienstliche Transaktion gehandelt haben müsse, etwa um nationalistische Propaganda im Krieg gegen Spanien. Allein aus der Verwendung des Geheimsiegels kann man sowas allerdings nicht schließen. Wann zum ersten Mal das Geheimsiegel zur Genehmigung von Schenkungen benutzt wurde, ist mir nicht bekannt, doch benutzt dafür wurde es bereits unter Heinrich V., wie man aus dem Calendar of Close Rolls, Henry V, A. D. 1419-1422 ersehen kann (Kraus Reprint, 1971). Einer der Gründe für seine Verwendung war, dass die Prozedur mit dem Großsiegel viel mehr Zeit erforderte.

Dennoch ist es denkbar, dass Oxfords Annuität für irgendein Amt oder eine zu erbringende Dienstleistung gewährt wurde. Wie gesehen, wurde dies in der Begründung der Schenkung selten angegeben. Wenn es so etwas wie ein Amt oder eine Dienstleistung gegeben haben sollte, werden wir es wohl nie erfahren.

Oder vielleicht doch?

In dem Tagebuch des Stratforder Vikars John Ward, der 1662 seine Stelle antrat, findet sich eine Eintragung, wonach Shakespeare „die Bühne jährlich mit zwei Stücken belieferte, wofür er eine solch riesige Zuwendung erhielt, dass er jährlich 1000 Pfund spenden konnte." (Chambers, Shakespeare, Band II, S. 249).

Edmund K. Chambers reiht diese Informationen über Shakespeare aus dem Tagebuch des Vikars Ward unter „Shakespeare-Mythos" ein. Doch in Band I, S. 89, erklärt er in Bezug auf eine andere Tagebucheintragung über ein Saufgelage zwischen Shakespeare, Ben Jonson und Michael Drayton, nach dem Shakespeare ein Fieber befallen haben soll, an dem er starb: „Ich sehe keinen Grund, diesen Bericht zu verwerfen."

Ist denn ein Grund ersichtlich, Vikar Wards Information über die zwei Stücke und die jährliche Ausgabe von 1000 Pfund zu verwerfen und als Mythos einzustufen? Ja, solange man an dem Mythos des Mannes aus Stratford festhält.

Wirft man diesen Mythos über Bord, sind auch Shakespeares jährliche Ausgaben von 1000 Pfund kein Mythos mehr.

Und dann ist da noch die oft gestellte Frage, wieso nichts über die Vertuschung durchgesickert ist. Vielleicht auch deshalb, weil wir Informationen nur als fast-food zu bekommen wünschen. Daher: go to vicar Ward!

© Robert Detobel 2010