Shapiro-Tagebuch (23) Liebherzls Traum (Teil I)

Kindheart's Dream ist eine Erzählung Henry Chettles. Sie erschien Ende 1592. Gößere Berühmtheit als die Erzählung selbst erlangte das Vorwort, Chettles „Apology". Darin entschuldigt sich Chettle wegen einiger als ehrenrührig empfundenen Aussagen in einem Brief and drei nicht namentlich genannte Stückeschreiber innerhalb der im September 1592 veröffentlichten Erzählung Greene's Groatsworth of Wit. Das kleine Werk wurde als das letzte des populären Robert Greene vorgestellt. Herausgegeben hatte es Henry Chettle, selbst Verfasser von Bühnenstücken (oft in Kooperation mit anderen Autoren) und Erzählungen, dazu ausgebildeter, aber nicht zugelassener Drucker, der als Setzer beim zugelassenen Drucker John Danter arbeitete (die Zahl der Londoner Drucker wurde durch die Behörden strikt begrenzt und von der anglikanischen Kirche kontrolliert; über die Zulassungen entschied der Erzbischof von Canterbury). Mehrere Zeitgenossen hielten den Herausgeber Chettle für den wirklichen Verfasser, darunter auch einer der drei Autoren, der des Atheismus beschuldigt worden war. Ein zweiter Autor war vielleicht ebenfalls beleidigt, vielleicht auch nicht. Die Frage wird uns im übernächsten Beitrag beschäftigen. Und so linkisch sich das anhören möge, es sei doch noch einmal betont, denn sie enthält eine Schlüsselinformation: der zweite Autor war vielleicht beleidigt, vielleicht aber auch nicht.

Nicht nur mehrere Zeitgenossen, auch mehrere heutige Forscher halten es für ausgemacht, dass der letztendliche Verfasser von Greene's Groatsworth of Wit Henry Chettle ist. 1969 veröffentlichte Warren B. Austin A Computer-Aided Technique for Stylistic Discrimination: The Authorship of "Greene's Groatsworth of Wit". Das Ergebnis bekräftigte, was früher schon anderen Lesern aufgefallen war: lexikalische, syntaktische und stilistische Merkmale legten den dringenden Verdacht nahe, Henry Chettle, der Greenes Werk gut kannte, habe sich bei diesem bedient, um eine Erzählung in Nachahmung von Greenes Stil über dessen letzten Tage zu schreiben und zusätzlich zu seinem Setzergehalt noch einen Batzen zu verdienen, denn die zweite Hälfte der Erzählung wurde von seinem Arbeitgeber John Danter gedruckt.

Kindheart's Dream ist eine schlicht komponierte Erzählung. In fünf Träumen erscheint dem Verfasser jeweils der Geist eines Verstorbenen, darunter auch Robert Greene und der für seine Clownrollen bekannte Richard Tarleton. In jedem der fünf kurzen Kapitel übt Chettle Kritik an der „geistigen Situation seiner Zeit", was wohl der Grund für die Wahl des Namen Kindheart ist, ein geläufiger Beiname für einen wandernden Zähnezieher.

Beim Lesen der beiden Absätze zu Greene's Groatsworth of Wit in Shapiros Contested Will kam mir bei einem Spaziergang an einem wolkenlosen Nachmittag der Gedanke, wie Chettle zur Erleichterung des eigenen Gemüts etwas zu erträumen. Der hellblaue Himmel, der ruhig fließende Fluss, das grüne Gras am Wegesrand, die lieblichen Blumen, Beethovens Pastorale im Ohr, all das wirkte sich in mir zu einem innigen Gefühl vollkommener Harmonie aus, das jede Assoziation mit dem Ziehen eines Zahns verbot. Um jedes Erinnerungsmal daran zu verbannen, habe ich als Überschrift statt „Kindheart's Dream" „Liebherzls Traum" gewählt.

Was mich bedrückte, war, dass Shapiro in einigen Interviews nach der Veröffentlichung von Contested Will sein tiefes Bedauern über zwei ehemalige Richter am Obersten Gerichtshof der USA (Supreme Court), John Paul Stevens und Antonin Scalia, ausgedrückt hatte. Die beiden Richter haben nämlich die „Declaration of Reasonable Doubt" unterschrieben. Diese „Declaration of Reasonable Doubt", die Shapiro in seinem Buch anerkennend erwähnt, ist eine von John Shahan organisierte Initiative, die darauf zielt, in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass Zweifel an der herkömmlichen Verfasserschaftstheorie ihre Berechtigung besitzen. Dass zwei angesehene US-Richter mit ihrer Unterschrift diese Berechtigung abgezeichnet haben, scheint für Shapiro ein Grund zur leichten Betrübnis zu sein. Dass eine dritte Richterin, Sandra Day O'Connor, die erste Richterin am Obersten Gerichtshof, ebenfalls unterzeichnet hat, bereitet ihm allem Anschein nach bisher wenig Sorgen.

Der harmonische Nachmittag bewirkte, dass ich mich lebhaft in Shapiros Sorge einfühlen konnte. Dass sich diese beiden Richter, der konservative Antonin Scalia und der liberale John Paul Stevens, die sich sonst nicht sehr oft einig sind, es in dieser Frage sind, rüttelt an den Grundfesten des methodologischen Ansatzes von Contested Will. Shapiro hat in diesem Buch ein genuines Verfahren entwickelt, das Shapirosche Verfahren, auch Prädispositionsverfahren genannt. Das Verfahren besteht darin, nicht nach dem Was?, das die Zweifler bewogen haben könnte, zu fragen, sondern nach dem Warum-nur-um-Himmels-Willen? Welche fehlgeleitete Prädisposition, unnatürliche oder doch mental gestörte Neigung hat Leute wie Freud, Henry James, John Thomas Looney oder Mark Twain zu Zweiflern werden lassen? Man könnte noch Delia Bacon hinzufügen, die so gütig war, nach der Verkündung einer verrückten These auch verrückt zu werden (Shapiro begegnet ihr, ob gerade deshalb, weiß ich nicht, mit großer Sympathie). Oder auch Percy Allen, der in den 1930er Jahren die Verfasserschaftsfrage in einer spiritistischen Sitzung zu lösen versuchte; wenn nicht er selbst, so war doch seine Idee verrückt genug, ihm ebenfalls mit einer gewissen Sympathie zu begegnen. Aber Freud, Henry James, Mark Twain, John Thomas Looney (Shapiro enthält sich der üblichen platten Anspielung auf den Nachnamen, eine Zurückhaltung, die jüngst einem vergrämten deutschen Anglistikprofessor misslang) wurden nicht verrückt. Und jetzt diese beiden Richter mit ihren offensichtlich so konträren weltanschaulichen Prädispositionen! Wenn es nur der konservative Scalia gewesen wäre, er hätte vielleicht noch einfach auf seine Thesen zu John Thomas Looney verweisen können: seht, dies ist der Weg allen reaktionären Fleisches und Blutes. Wäre es nur der liberale John Paul Stevens, er hätte vielleicht schreiben können: schau, das kommt davon, wenn man zu permissiv ist. Doch jetzt steht da dieses gegensätzliche Richterpaar als fleischgewordene Erkenntnis, dass man sowohl von der einen wie von der anderen weltanschaulichen Richtung her zum Zweifler werden kann.

Durch die Anteilnahme an Shapiros Verstimmung drang in meine nachmittägliche Harmonie ein dissonanter Ton ein, der durch Liebherzls Traum überspielt werden soll.

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Auf Seite 266 befinden sich diese beiden Absätze.
Die Übersetzung (meine Anmerkungen in rechteckigen Klammern):

„Erstmals erwähnt wird Shakespeare in einem Pamphlet, über das vieles unklar bleibt, das dem akademisch ausgebildeten Schriftsteller Robert Greene zugeschrieben wird. 1592 warnte Greene (oder möglicherweise sein Schriftstellerkollege Henry Chettle, der an der posthumen Herausgabe beteiligt war [Chettle war mehr als nur „beteiligt"; nach seiner eigenen Darstellung in der „Apology" schrieb er das Manuskript neu, da Greenes Schrift schwer zu lesen gewesen sei; Chettle war somit der Herausgeber] etablierte Dramatiker:

denn da ist eine steil emporsteigende Krähe, geschmückt mit unseren Federn, der, mit seinem Tigerherzen in Schauspielerhaut versteckt, meint, genausogut einen Blankvers ausbombasten zu können, wie der beste von Euch; und dieser absolute Hans Dampf in allen Gassen dünkt sich selbst der einzige Bühnenerschütterer im Lande.

Der Vorwurf gilt hier nicht so sehr einem Schauspieler, der Stücke zu schreiben bestrebt ist, sondern seiner Zuversicht, dass er das besser kann als sie [genau heißt es „als der beste von Euch"] und dass er sich selbst für den „einzigen Bühnenerschütterer im Lande hält. Schlimmer noch, dass er sich schamlos den populären Stil aneignet, den sie entwickelt haben. Sehr viel ist in diese Attacke gepackt worden, eine Menge mehr als wir heute im Abstand von vierhundert Jahren zu verstehen vermögen. Aber wir gewinnen den Eindruck eines altgedienten Schriftstellers, der gewieft das Maß eines Emporkömmlings nimmt, den er nicht sonderlich mag, und dabei eine Zeile parodiert aus seinem neueren Stück The True Tragedy of Richard Duke of York (besser bekannt unter dem Titel der Folioausgabe, Heinrich VI., dritter Teil) , wo Shakespeare ein exzellentes Ohr für bombastischen Blankvers beweist: „Oh Tigerherz in einer Weiberhaut gehüllt."

[„bombastischer Blankvers" ist eine Fehldeutung; der Vorwurf besteht darin, dass der Angegriffene „Blankverse ausbombastet", d. h. bestehende Theaterstücke „auffüllt", sozusagen „auspolstert", indem er Verse hinzuschreibt. Was zufällig vom Schauspieler Edward Alleyn bekannt ist, der sich 1592 nicht ganz zu Unrecht für den einzigen Bühnenerschütterer im Lande halten konnte, denn Zeitgenossen nannten ihn den „englischen Roscius" - Roscius war der berühmteste Schauspieler im antiken Rom]".

 Im Original (Hervorhebungen in Fettschrift von mir):

„The first notice of Shakespeare appears in a pamphlet, about which much remains unclear, attributed to a university-trained writer named Robert Greene. In 1592, Greene (or possibly his fellow playwright Henry Chettle, who was involved in the volume's posthumous publication) warned established dramatists that

there is an upstart crow, beautified with our feathers, that with his Tiger's heart wrapt in a player's hide, supposes he is as well able to bombast out a blank verse as the best of you: and being an absolute Johannes fac totum, is to his own conceit the only Shake-scene in a country.

The objection here is not so much to an actor aspiring to write plays, but to his confidence that he can do so better than they can, that he thinks himself 'the only Shake-scene in a country'. Worse still, he does so 'beautified with our feathers', that is, shamelessly appropriating the popular styles they forged. A lot is packed into this attack, a good deal more than we can understand four hundred years later. But we are left with the impression of a veteran writer shrewdly taking the measure of an upstart he doesn't much like, even parodying a line from his recent True Tragedy of Richard Duke of York (better known by its Folio title, The Third Part of Henry the Sixth) , where Shakespeare, showing a fine ear for bombastic blank verse, had written 'O tiger's heart wrapped in a woman's hide'."

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Nun halte ich es durchaus für möglich, dass gerade die beiden Richter des Obersten Gerichts in der Lage sein würden, einige Unklarheiten aufzuhellen. Und möglicherweise unser Verständnis des Geschehens zu verbessern, wenigstens dann, wenn das Wissenshindernis nicht nur die Folge der vierhundertjährigen Lücke wäre, sondern des lückenhaften Wissensstandes, zum Beispiel in rechtlichen Dingen.

Deshalb will ich im Traum Shapiro und die beiden Richter zu einem versöhnlichen Gespräch zusammenzuführen. Den Richtern soll die Gelegenheit geboten werden zu einem Stück Wiedergutmachung für ihre Unterschrift unter der „Deklaration des Berechtigten Zweifels", indem sie zur Auflösung der einen oder anderen Unklarheit beitragen. Shapiro könnte dann die Dankbarkeit, zu der dann verpflichtet wäre, von seiner Verärgerung abziehen. Und ich würde mich wieder vollkommen in Harmonie mit mir selbst und der Natur fühlen.

© Robert Detobel 2010