Shapiro-Tagebuch (24) Liebherzls Traum (Teil II)

Personen:

James Shapiro (Shap),
Justice John Paul Stevens (Stev),  
Justice Antonin Scalia (Scal)-

Die Sitzung am Vormittag

Stev. Wir fühlen uns geehrt, dass Sie unseren Vorschlag angenommen haben.

Scal. Es freut mich außerordentlich, dass Sie nicht meine Prädisposition zur Sprache bringen wollen.

Shap. Das Thema unseres Gesprächs ist viel zu eng umrissen, um dafür die Voraussetzung zu bieten. Ihr meint, einige Klärungen zum Brief in Greene's Groatsworth of Wit und zu Henry Chettles „Apology" beitragen zu können. Ich wäre Euch dafür zutiefst verbunden. Selbstverständlich würde ich Euren Beitrag, sofern er ein spürbares Ergebnis zeitigt, gebührend würdigen.

Stev. Was unseres Erachtens noch zu leisten wäre, ist eine überzeugende Klärung des Verhältnisses zwischen den Vorwürfen in dem Brief einerseits und anderseits Chettles Entschuldigung und dem Zeugnis der hohen Herren, der „divers of worhip", die zugunsten des dritten Schriftstellers intervenieren. Dem dritten Schriftsteller wird in dem Brief Folgendes vorgehalten:

 „Und Du, nicht weniger verdienstvoll als die beiden anderen, in einigen Dingen seltener, in keinen geringer, der Du wie ich zu extremen Schwankungen neigst, etwas habe ich auch Dir zu sagen: und wäre es nicht ein abgöttischer Eid, ich würde bei Saint George schwören, dass Du kein besseres Los verdienst, als Dein Dasein auf solch minderwertiger Weise fristen zu müssen."

Und dies nimmt Chettle nun zurück, indem er versichert, „denn ich selbst habe gesehen, dass sein Verhalten nicht weniger zivil ist, als er ausgezeichnet in der Qualität, auf die er sich beruft".

Shap. Weil...

Scal. Darf ich erst versuchen, den Problemumriss zu vervollständigen? Chettle widerruft den Vorwurf, indem er versichert, der dritte Mann... hm, in meiner Jugendzeit war das der Titel eines erfolgreichen Thrillers mit Orson Welles als der lange mysteriöse dritte Mann... Chettle sagt also, dass sich der dritte Mann zivil benimmt. In dem Brief muss dann doch der Vorwurf des unzivilen Verhaltens impliziert gewesen sein. Und dann sieht es auf den ersten Blick so aus, als redeten die „divers of worship" und Chettle aneinander vorbei. Denn die „divers of worship" weisen den Vorwurf nicht zurück, indem sie wie Chettle sagen, er benehme sich zivil, sondern er sei „honest", „ehrlich". Und sein Lebenswandel sei aufrichtig oder aufrecht. Im Brief aber kann ich keinen Vorwurf der Unehrlichkeit erkennen. Außerdem hat er gezeigt, dass er ehrlich ist, allerdings, so die hohen Herren, nicht durch sein Verhalten, sondern seinen Schreibstil.

Shap. Ich habe ja in meinem Buch geschrieben, dass vieles unklar sei. Und ich fürchte, dass es dies auf immer bleiben wird. Ich selbst neige dazu, die Angelegenheit zu begraben und zusammen mit ihr eine gewisse heillose Verwirrung. Edmond Malone - Ihr wisst gewiss, dass ich empfehle, auch Malone zu begraben, wenn ich mir dabei auch langsam als Beerdigungsunternehmer vorkomme -, Malone hat das zu lösen versucht, indem er die die Intervention der hohen Herren auf den Vorwurf gegen „Shake-scene" bezieht, dem vorgeworfen worden wäre, er hätte die Stücke anderer geklaut. Malone ging ja zunächst davon aus, dass Robert Greene der Autor der True Tragedy of Richard Duke of York sei, später votierte er für Christopher Marlowe als Hauptverfasser. Oh, oh, ich weiß, was Ihr erwidern werdet. Wenn Shakespeare „Shake-scene" ist, vor dem auch der dritte Schrifsteller gewarnt wird, dann müsste, wenn der dritte Schriftsteller Shakespeare ist, Robert Greene Shakespeare gewarnt haben, er solle sich vor sich selbst in Acht nehmen. Dieser krasse Widerspruch ist Malone nicht aufgefallen. Dennoch halte ich diesen seinen Fehler für entschuldbarer als seine Obsession, die Shakespeare-Stücke müssten biografisches Material enthalten.

Scal. Mit dieser Argumentation hätte Malone vor einem Gericht nicht bestanden.

Stev. Man soll das Positive an seinem Versuch nicht verkennen. Immerhin hat er, der er ja Anwalt war, darauf beharrt, dass es eine logische Verbindung zwischen einem Vorwurf im Brief, sei es gegen Shake-scene, sei es gegen den dritten Schriftsteller geben muss, einen Vorwurf, den die hohen Herren mit dem Hinweis verneinten, sein Stil zeige seine Ehrlichkeit.

Shap. Deshalb hat John Dover Wilson 1951 versucht, Malones Deutung neu zu beleben, trotz Walter W. Gregs ziemlich harsche Verdammung von Malones Interpretation. Wenn ich mich recht erinnere, schrieb Greg, es sei schwer einzusehen, wie diese Deutung habe entstehen können, und noch viel schwerer, wieso sie sich so lange habe halten können.

Stev. Ich habe Wilsons Aufsatz gelesen. Was mir an seinem Argument zusagt, ist, dass er meint, der Vorwurf müsse auf etwas sehr viel Ernsteres als Plagiat zielen, damit sich die hohen Herren einschalten und Chettle offenbar mit ernsten Konsequenzen, sprich: Gefängnis, drohen, wenn er nicht widerruft. Aber wir stellen das vielleicht erste einmal zurück. Nur, Professor Shapiro, muss der dritte Schriftsteller, nur weil die hohen Herren seinen Stil über alles loben, muss er deshalb Shakespeare sein?

Shap. Es gab in der Zeit zwischen Malone und E. K. Chambers eine andere Interpretation. Und es gibt sie neuerdings wieder. Ende des 19. Jahrhunderts identifizierten F. G. Fleay und der angesehene deutsche Shakespeareforscher gregor Sarrazin den dritten Schriftsteller als George Peele. 1998 hat Lukas Erne die These wieder aufgegriffen und zu ergänzen versucht. Er hat dafür den verhaltenen Beifall von Brian Vickers erhalten (Brian Vickers, Shakespeare Co-Author, Oxford 2002, S. 141). Ernes Erklärung hat den Vorteil, dass zum einen den Schwur bei Saint George als Anspielung auf Peeles Vornamen verstanden werden kann, zum andern eine Anknüpfung an Chettles Versicherung, sein Verhalten sei zivil, ermöglicht.

Scal. Dann wäre die Anknüpfung an „zivil" hergestellt, dafür jene an „honesty" wieder preisgegeben. Es ist ein bisschen wie in der Quantenphysik, die eine wichtige Größe hat man im Griff, verliert dabei aber den Griff auf die andere wichtige.

Shap. So sehe ich es auch. Es gibt übrigens noch einen anderen ernsten Grund gegen Peele. Chettle spricht von „the quality he professes". Walter Greg und andere haben darauf hingewiesen, dass damit eindeutig ein Schauspieler bezeichnet wird. In seiner Apology for Actors benutzt Thomas Heywood, selber Schriftsteller und Schauspieler, diesen Ausdruck wiederholt. Auch John Davies of Hereford benutzt ihn einige Male, amtliche Dokumente ebenso.

Scal. Hat Erne dem etwas entgegenzusetzen?

Shap. Er beharrt darauf, dass „quality he professes" auch auf Peeles Tätigkeit als Verfasser der von der City organisierten „pageants", historische Festzüge, verweisen könne. Und an diese Tätigkeit als Verfasser im Dienst der Londoner City würde Chettles Verweis auf sein „ziviles Verhalten" anknüpfen.

Stev. Bringt er Beweise?

Shap. Nicht dass ich wüsste.

Scal. Es sieht nach einer Behauptung aus, sich an den eigenen Haaren aus dem Morast zu ziehen.

Shap. Ich habe da auch meine Zweifel. Was für Peele spricht, ist sein Vorname George.

Stev. Das stimmt zwar, aber sonderlich beweiskräftig scheint mir das nicht. Ein Schwur beim nationalen Schutzheiligen dürfte in England keine Seltenheit gewesen sein. Wäre nicht Saint Andrew, sondern Saint George der Schutzheilige Schottlands gewesen, begänne die Sache bedeutungsvoller auszusehen.

Scal. Der Kern des Problems scheint mir darin zu liegen, dass das „honest" der hohen Herren und das „civil" Chettles miteinander und beides mit dem Vorwurf im Brief etwas zu tun haben müssen. Äußert sich Erne zu dem „honest"?

Shap. Soviel ich weiß, nicht.

Scal. Das heißt: Er bricht einen Teil aus dem Zusammenhang und kümmert sich um das Übrige nicht mehr.

Stev. Er befolgt einen Rat, wie ihn Hamlet seiner Mutter gibt. Schneide die schlechte Hälfte Deines Herzens heraus, wirf sie weg und lebe umso besser mit der anderen Hälfte. Nur ist dieser Rat beim Herzen sehr unpraktisch. Und bei einem Text taugt er auch nicht mehr.

Scal. Sie haben, Professor Shapiro, nachdrücklich empfohlen, die zeitspezifischen Bedingungen zu beachten.

Shap. Ich habe allerdings auch betont, dass aus der Distanz von vierhundert Jahren vieles nicht mehr rekonstruierbar sein dürfte. Nur dort, wo man sich auf festem Boden weiß, sollen sie in Rechnung gestellt werden.

Scal. Halten Sie es für möglich, dass die Shakespeare-Forschung bei der Klärung, was Chettle genau meint, was die „divers of worship" genau meinen und was im Brief genau meint, voreilig resigniert hat?

Shap. Das sehe ich nicht so und ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was Sie meinen oder worauf Sie hinaus wollen.

Scal. Ich habe, wie ich das auch tue, wenn ich ein Kreuzworträtsel löse, ein Wörterbuch zu Rate gezogen, in diesem Fall natürlich ein zeitgenössisches. Das Ergebnis ist verblüffend. Ich habe nach den damaligen Bedeutungen, ich betone „Bedeutungen", denn es gibt wohl mehr als zwanzig, gesucht. Und da sehe ich als eine der sinnverwandten Bedeutungen von „honest" das Wort „upright", und etwas weier sehe ich „civil". Es fiel mir ein Stein vom Herzen, denn sonst hätte ich einstweilen mit dem Gefühl weiterleben müssen, entweder sei ich überhaupt nicht in der Lage, historische Zusammenhänge zu verstehen, oder sowohl Henry Chettle als die „divers of worship" seien ziemliche Tölpel, die aneinander und and der Sache vorbeiredeten. Letzteres berührte mein Selbstgefühl weniger als ersteres, aber mir behagen konnte das doch auch nicht. Jetzt wissen wir durch einen schlichten Blick in ein zeitgenössisches Wörterbuch: Chettle und die „divers of worship" redeten offenbar über dasselbe, sie gebrauchten nur etwas andere Ausdrücke. Man versteht auf einmal auch, warum die hohen Herren mit Chettles Widerruf zufrieden waren.

Doch was ist mit dem Brief?

Stev. Ich mag die einfachen Lösungen des Kollegen Scalia zwar, die etwas komplizierteren aber liebe ich. Meinerseits habe ich deshalb in Stefano Guazzos Civil Conversation etwas herumgelesen. Damit erwarb ich eine Erkenntnis, Kollege Scalia, die sie sich viel cleverer geholt haben. Denn Guazzo bestätigt in seinem Werk, dass „honest" und „civil" austauschbare Begriffe sind. Das Werk wurde 1575 ins Englische übertragen. Ich vermute - selbstverständlich mit einem anständigen Vorbehalt -, dass durch den Einfluss, den Guazzo ausübte, der Begriff „civil" ab 1575 den Begriff „honest" zurückzudrängen begann, denn weniger als zehn Jahre früher verwendet Roger Ascham in The Scholemaster noch vorwiegend den Begriff „honest", um dasselbe auszudrücken wie Guazzo, nämlich generell „gute, verfeinerte Manieren". Im Übrigen trennt Guazzo den Begriff von jeder Anlehnung an die „City"; er habe nichts mit der „City" zu tun, sagt er, sondern drückt eine Eigenschaft der Gesinnung aus. Ihr Kollege Erne, Professor Shapiro, hat hier wohl eher in die Kristallkugel als in Guazzos Buch geschaut. Ich bin dann auch noch einmal zu meinem alten Schulfreund Cicero zurückgekehrt. Sein Werk De officiis hat wahrhaftig direkt und indirekt vor allem über Castiglione mächtig auf die Sittenbildung der Frühen Neuzeit gewirkt. In Buch II.5 definiert er die Vollkommenheit, der mit seinen Begriffen „honestum" und „decorum" zusammenhängt, als die Beherrschung der aufgewühlten Gemütsbewegungen und der Begierden, die Beherrschung der Leidenschaften somit. Dieselbe Beherrschung, die Selbstdiziplin, bezeichnet Ascham als „honest" und Guazzo als „civil".

Scal. Ich bereue nun, dass ich soviel cleverer als Sie gewesen bin, Kollege Stevens. Denn jetzt haben Sie, wenn ich das richtig sehe, eine Erklärung, plausibel, gar triftig, dünkt mir, für den Ausdruck „extreme shifts" geliefert: heftige emotionale Ausschläge, wie schreibt Ihr Schulfreund?

Stev. „Aufgewühlte Gemütsbewegungen".

Scal. Bringt das nicht etwas mehr Klarheit als bisher da war, Professor Shapiro?

Shap. Eine durchaus interessante Perspektive.

Stev. Professor Shapiro, es ist über zwölf. Dürfen wir Sie zum Mittagessen einladen?

Shap. Nichts würde ich mit größerer Freude annehmen, wenn ich damit nicht meine Frau vergräulte. Sie hat heute meine Lieblingsspeise zubereitet. Dann nicht zu erscheinen, wäre ähnlich wie ein Treuering verschenken. Sie werden sicher verstehen, dass ich nicht in die peinliche Lage Bassanios kommen möchte.

Scal. Volkommen. Aber Sie kommen heute Nachmittag doch wieder? Um 15 Uhr oder so?

Shap. Aber, meine Herren, wie können Sie mit der Möglichkeit rechnen, ich ließe mir ein solch anregendes Gespräch entgehen.

Stev. Bis nachher.

Shap. Bis dann.

© Robert Detobel 2010