Shapiro-Tagebuch (25) Liebherzls Traum (Teil III)

Die Sitzung am Nachmittag

Scal. Wo bleibt Shapiro? Er hat die Zeit fast schon um eine Viertelstunde überschritten.

Stev. Nun, seien Sie nicht so ungeduldig, die Akademie ist kein Gericht.

Scal. Deshalb finde ich sie manchmal so unverdaulich.

 [Nach einer weiteren Viertelstunde]

Scal. Nun, Stevens, immer noch so liberal nachsichtig?

Stev. Wenn ich selbst jetzt nicht ungeduldiger würde, müsste ich lieber Aal sein als liberal. Sie haben vielleicht einen taktischen Fehler begangen, wenn Sie auf John Dover Wilson hingewiesen haben und damit ankündigten, wir würden die finale Debatte auf unser ureigenstes Terrain verlegen. Wilsons Argument, es müsse etwas Ernsteres als Plagiat im Spiel gewesen sein, wenn sich so hohe Herren einmischten, ist sehr vernünftig. Nur wusste Wilson selbst nicht, was es war.

Scal. Und doch war John Dover Wilson der Lösung ein Stück näher gekommen. Doch statt zurück zu Malone, hätte er vorwärts zum Privy Council schreiten müssen.

Stev. Dabei hat Chettle mehrmals mit dem Zaunpfahl gewunken.

Scal. Gleich zu Beginn.

„Dass ich den Druck suche, liegt nicht daran, dass ich nach Lob trachte, sondern um Verzeihung bitte; gegenüber dem einen bin ich dazu aufgefordert worden, gegenüber dem anderen erlaube ich mir, darum zu bitten. [„To come in print is not to seeke praise, but to crave pardon: I am urgd to the one; and bold to begge the other."]

Stev. Wir sollen nicht zu streng urteilen. Wir sind Juristen.

Scal. Aber auch Edmond Malone war Jurist.

Stev. Die Rechtsverhältnisse der Tudor- und frühen Stuartzeit lagen schon eine Weile hinter ihm.

Scal. Er wird aber doch noch gewusst haben, was ein Ständestaat war. Und dass die Unterschiedlichkeit der Stände zur Grundordnung des Staates der Frühen Neuzeit gehörte. Wenn Chettle sagt, er sei angewiesen worden, sich gegenüber dem einen zu entschuldigen, während er den anderen um Verzeihung bittet, dann ist es zumindst halbwegs klar, dass es sich bei beiden Schriftstellern um Personen handelt, die einem anderen Stand angehören, der eine ziemlich oben in der Hierarchie, der andere ein Gemeiner wie Chettle selbst, mit Sicherheit Christopher Marlowe. Doch wer war die andere Person? Mit Sicherheit nicht George Peele, der wie Marlowe und Chettle selbst ein Gemeiner war, sondern ein Aristokrat. Auch wenn er hier noch nicht geschaltet hatte, dann hätte Malone es an dieser Stelle tun müssen, als Chettle den Grund für seine „Apology" benennt:

„Vor etwa drei Monaten starb M. Robert Greene und hinterließ mehrere Papiere in den Händen diverser Buchverkäufer, darunter sein Groatsworth of Wit, worin ein an mehrere Stückeschreiber gerichteter Brief bei einem oder zweien von ihnen Anstoß erregt." [„About three moneths since died M. Robert Greene, leaving many papers in sundry Booke sellers hands, among other his Groatsworth of wit, in which a letter written to divers play-makers, is offensively by one or two of them taken"]

Stev. Chettle weiß nicht, ob der andere Schriftsteller tatsächlich beleidigt war. Selbstverständlich weiß er das nicht, wenn der andere ein Aristokrat war. Denn dann ist eine Beleidigung Staatssache, ein „Scandalum magnatum", und nicht mehr die Privatsache des beleidigten Aristokraten. Mag sein, dass sich die Person selbst nicht viel daraus machte. Aber das ging nicht ihn allein an. Der Staat schritt ein, denn die Grundordnung war verletzt worden. Man kann das bei William S. Holdsworth nachlesen, in seinen beiden Artikeln in Law Quarterly Review, CLX, 1924, S. 401, „Defamation in the sixteenth and seventeenth centuries".

Scal. Oder in den Statutes of the Realm, die Gesetze, ich habe sie alle aufgelistet und werde sie Professor Shapiro zeigen, falls er noch kommen sollte. Erst das Gesetz aus dem zweiten Regierungsjahr Richards II.: 2 Richard II, stat. 1, c.5. Dann 12 Richard II, c.11 mit der wichtigen Ergänzung, dass nunmehr nebst den Common-Law-Gerichten auch der Geheimrat, der Privy Council, einschreiten kann, wenn eine hochrangige Persönlichkeit verleumdet worden ist, dann weitere strafrechtliche Verschärfungen dieses Gesetzes im ersten und zweiten Regierungsjahr Marys: 1 & 2 Philip and Mary, c.3, schließlich im ersten Regierungsjahr der Königin Elisabeth: 1 Elizabeth, c. 6. Handfeste Geschichte, die wir Professor Shapiro vorlegen werden, da hier kein Raum für Spekulationen übrig bleibt; harte Rechtstatsachen sind das.

Stev. Ich fürchte, Shapiro wird uns hier warten lassen.

Scal. Dann müssen wir die Tatsachen von ihm anfordern. Es ist Wissenschaft, und auch wenn es nicht sein Wissenschaftszweig ist, so hat die Literaturwissenschaft den Erkenntnissen anderer Wissenschaftszweige anzuerkennen, wenn sich die Wege kreuzen. Und hier, im Falle Chettles, hält die Rechtsgeschichte den Schlüssel zum Verständnis.

Stev. Ich fürchte, die orthodoxen Shakespeareforscher werden es vorziehen, sich in bewundernswerter Demut vor vierhundert Jahren zu verneigen und zu beten „Wir können es nicht mehr wissen".

Scal. Und hier kräht der Hahn zum dritten Mal. Chettle schreibt:

„Was den anderen betrifft, den ich damals nicht so geschont habe, wie ich jetzt wünsche, ich hätte es, so wie ich die Hitze lebender Schreiber gemildert habe, und mein eigenes Urteilsvermögen (besonders in einem solchen Falle) benutzt, da der Autor tot ist, dafür dass ich es nicht tat, empfinde ich Bedauern." [„The other, whome at that time I did not so much spare as since I wish I had, for that as I have moderated the heate of living writers, and might have usde my owne discretion (especially in such a case) the Author beeing dead."]

Stev. Das „besonders in einem solchen Fall" kann man zwar so verstehen, dass Chettle meint „in diesem besonderen Fall eines aristokratischen Autors", man kann es allerdings auch verstehen, „in diesem besonderen Fall, da der Verfasser tot ist".

Scal. Nun gut, dann kräht der Hahn nicht viermal, sondern gemäß der Bibel dreimal.

„Was den ersteren betrifft, dessen Bildung ich bewundere, so habe ich beim Durchlesen von Greenes Manuskript das gestrichen, was er meiner Meinung nach aus einer gewissen Verstimmung heraus geschrieben hatte, oder sollte es gestimmt haben, so wäre es doch unerträglich gewesen, es zu veröffentlichen. Ihn möchte ich bitten, mich nicht schlimmer zu behandeln, als ich es verdiene." [„For the first, whose learning I reverence, and at the perusing of Greenes Booke, stroke out what then in conscience I thought he in some displeasure writ: or had it beene true, yet to publish it, was intollerable: him I would wish to use me no worse than I deserve."]

Stev. Chettle richtet sich persönlich an den anderen Schriftsteller, Christopher Marlowe. Marlowe konnte Chettle verklagen, vor dem Star-Chamber-Gericht. Chettle bittet Marlowe um Nachsicht. Eine solche persönliche Entschuldigung gegenüber dem anderen Autor äußert Chettle nicht. Da dieser andere Autor ein Aristokrat war, war dies auch völlig überflüssig, denn eine Beleidigung war eben Staatssache, weshalb die hohen Herren einschritten, und diese „divers of worship" können gemäß den Gesetzen nur Mitglieder oder Beauftragte des Privy Council gewesen sein.

Scal. Jetzt haben wir auch John Dover Wilsons Argument validiert, dass es sich um eine ernstere Sache als Plagiat gehandelt haben müsse, wenn auch nicht in Wilsons Sinne.

Stev. Es war nicht die Unehrlichkeit eines Diebstahls, die auf dem Spiel stand, sondern die „honesty" eines Aristokraten. Ob das Verhalten eines Aristokraten „honest" genug war, um nicht von seinesgleichen ausgegrenzt zu werden, war eine Frage der Geltung sozialer Gesetze und wurde eventuell sozial vergolten. Den politischen Gesetzen nach blieb der Aristokrat ein Aristokrat. Wenn ein Gemeiner ihm die „honesty" absprach, sprach er ihm die Befähigung ab, ein hohes Amt zu versehen, zu der regierenden Elite zu gehören. Das konnte ein Ständestaat nicht akzeptieren.

Scal. Wir sollten gehen. Shapiro wird nicht mehr kommen. Ich werde aber auf meinem Zettel mit den verschiedenen „Statutes" zum Scandalum Magnatum nicht sitzen bleiben. Ich werde ihm den Zettel per Post zuschicken.

© Robert Detobel 2010