Shapiro-Tagebuch (27) Shapiro über Francis Meres (I)

Auf Seiten 267 und 268 behandelt Shapiro Francis Meres' „Comparative Discourse" und agiert als Wirt für das nicht ungefährliche PCG-Virus („platitude cascades generating virus"), das, wie man anhand der Rezensionen von Shapiros Buch in der amerikanischen und vor allem in der englischen Presse feststellen kann, eine epidemische Gedankenlosigkeit hervorrufen kann. Hier einige Exzerpte aus Shapiros beiden Paragraphen:

„Gerade hatte Barnfield seine lyrische Begabung gepriesen, da zementierte Francis Meres Shakespeares Ruf als Dichter und Autor von Theaterstücken in Palladis Tamia (1598), einem unschätzbaren Zeugnis von dem, was Shakespeare in einem Jahrzehnt seiner Laufbahn geschaffen hatte... Der spannendste Teil von Palladis Tamia ist sein 'Comparative Discourse of Our English Poets', in dem Meres achtzig englische Schrifsteller erwähnt. Er urteilt erstaunlich scharfsinnig über das große Talent, das allenthalben um in herum am Werke ist, und seine Urteile haben auch heute noch Bestand. Keinen zeitgenössischen Schriftsteller hat Meres so begeistert gepriesen wie Shakespeare."

„Even as Barnfield was praising his lyrical gifts, Francis Meres was cementing Shakespeare's reputation as both poet and playwright in Palladis Tamia (1598), an invaluable account of what Shakespeare had achieved a decade into his career... The most exciting section of Palladis Tamia is his 'Comparative Discourse of Our English Poets', in which Meres touches on eighty English writers. He is surprisingly astute about the great talent at work all around him, and his judgements have stood the test of the time. No contemporary writer earned as much praise from Meres as Shakespeare."

Meres' vollständiger „Comparative Discourse" kann in aufbereiteter Form unter Eintrag 28 eingesehen werden. Aufbereitet ist er insofern, als er zweispaltig wiedergegeben ist; in der linken Spalte stehen die griechischen, lateinischen und italienischen Schriftsteller (gelegentlich kommt auch ein Franzose oder Spanier vor), in der rechten Spalte die englischen Schriftsteller. Außerdem sind Meres' Listen der Schriftsteller, nichtenglischen wie englischen, nummeriert worden. Die Besucher dieser Webseite, die etwas dagegen haben, sich von rhetorischem Schwindel übertölpeln zu lassen, werden die Einwände gegen Shapiros Darstellung selber prüfen können.

Als Erstes ist anzumerken, dass der vollständige Titel des betreffenden Abschnittes lautet: „A Comparative Discourse of Our English Poets, with the Greeke, Latin, and Italian Poets". So unscheinbar dieser Kritik an Shapiros verkürzter Wiedergabe der Überschrift auch anmuten darf: SIE IST WESENTLICH, denn Francis Meres' nahezu einziger originärer Beitrag besteht nicht in einem echten Vergleich zwischen nichtenglischen und englischen Dichtern, sondern im Abzählen ihrer Namen. Dieser „spannende" Abschnitt besteht vor allem in einem eintönigen Herunterleiern von Namen! Wie er das genau macht, werden wir in Beitrag 29 genauer untersuchen.

Und dann Meres' Urteil, das dem Zahn der Zeit getrotzt hätte! Wer sich die Mühe machen will, kann in Beitrag 28 zu den Paragraphen 21 und 22 gehen, wo Meres William Warner einmal als „unseren englischen Homer" bezeichnet und ein anderes Mal mit Euripides vergleicht. Wer kennt heute noch William Warner?

Oder er gehe zu Paragraph 51, wo er den Schauspieler Robert Wilson mit Ovid in Vergleich bringt. Wilson hat selber einige Bühnenstücke verfasst, aber der Vergleich mit Ovid ist allzu weit hergeholt. Ansonsten stammt das Zitat in dieser Form wohl auch nicht von Ovid. In Ovids Tristia (4,10,26) liest man: „et quod temptabam scribere versus erat" („Und was zu schreiben ich versuchte, wurde zum Vers"). Möglicherweise stammt die Variation auf einen Vers Ovids vom deutschen Humanisten Eobanus Helius Hessus (1488-1540) oder, was wahrscheinlicher ist, war eine damals übliche Variation auf Ovids Vers.

Was Meres über den Schauspieler Richard Tarleton (auch er schrieb mindestens ein Bühnenstück) zu sagen hat, ist zwar hochgestochen, Meres selbst jedoch nicht anzukreiden, denn, wie er selbst angibt, zitiert er nur nur einen Dokter Case.

Damit sind wir beim Kern der Sache angekommen: Francis Meres, dem Shapiro eine so gründliche Kenntnis der zeitgenössischen Literatur und ein so treffendes Urteil bescheinigt, dieser Francis Meres gibt fast NIE sein EIGENES Urteil wieder, sondern zitiert aus den Werken anderer. Was er über Chaucer, Gower usw. zu sagen hat, ist wörtlich dem 1589 erschienenen The Art of English Poesie entnommen. Was er über Spenser schreibt, ist wörtlich aus William Webbes 1585 erschienenen Discourse of English Poetry abgeschrieben. Was er in Paragraph 6 über Goncalvo Perez schreibt, ist nichts anderes als ein wörtliches Zitat aus Roger Aschams The Scholemaster (1570), m. a. W.: der so „treffsicher urteilende" Francis Meres fällt keine eigenen Urteile.

Meres zitiert nur! Selbst im Falle Shakespeares war Richard Barnfield ihm vorausgegangen. Und genau wie Barnfield hebt Meres besonders vier Dichter hervor: William Shakespeare, Edmund Spenser, Samuel Daniel und Michael Drayton. Plagiat kann man Meres trotzdem nicht vorwerfen, denn just das war seine Aufgabe: eine Zitatensammlung, ein „commonplace book" zusammenzustellen, aus dem beim Schreiben von Reden, Aufsätzen oder auch Geschichten geschöpft werden konnte. Meres' Palladis Tamia ist nichts weiteres als eine Zitatensammlung zu diversen Themen, die zweite in der Reihe Wit's Commonwealth. Die erste war Politeuphuia, die dritte Theatre of the Little World. Meres macht überhaupt keinen Hehl daraus, dass er eine Zitatensammlung veröffentlicht. In der Einleitung zu Palladis Tamia bekennt er sich vollmundig dazu. Und so wie er in dem Rest des Buches nur Zitate aus dem Lateinischen übersetzt, so benutzt er in seinem „Comparative Discourse" fast nur Zitate von anderen.

Frühere Forscher haben denn auch Meres keine sehr große Bedeutung beigemessen. 1904 bezeichnete Gregory Smith den „Comparative Discourse" als ein „Schriftstellerverzeichnis" und Meres' Methode als „Leimtopf und Schere" (Elizabethan Critical Essays). Sie haben auch auf den Quatsch oder Klatsch der sieben letzten Paragraphen hingewiesen (auch diese bedienen sich aus bestehenden Werken), wobei der Gipfel sicher Paragraph 55 bildet:

 „As Anacreon died by the pot, so George Peele by the pox". Anakreon galt als Trinker; "Pocken" werden im Englischen "smallpox" genannt, "pox" bedeutet "Syphyllis". Man könnte das ins Deutsche übersetzen als „Wie Anakreon durch den Schank starb, so George Peele durch den Schanker."

Dies vor Augen, kann man, wenn man Shapiros feierliche Berufung auf Francis Meres liest, nur vor Lachen prusten. Oder vielleicht auch wegen diesem Versuch zum Bauernfang böse werden. Je nach Stimmung.

Auf jeden Fall wartet auf seinen zweiten Absatz zu Meres in Beitrag 30 eine böse Überraschung.

© Robert Detobel 2010