Shapiro-Tagebuch (34) Shapiros Prolog: Worte, Worte, Worte

In einem Prolog (S. 1 - 14) umreißt Shapiro die Vorsätze - von Prämissen zu reden, wäre zuviel Ehre - seines Buches. Im Folgenden werden daraus einige dieser Vorsätze im Lichte seines tatsächlichen Vorgehens betrachtet. Zuerst wenden wir uns noch einmal dem Tölpel Gullio zu.

1. Gullio

Auf diesen Gullio beruft sich Shapiro, um die große Bekanntheit Shakespeares (aus Stratford) bei seinen Zeitgenossen zu belegen. Er hebt die Aussagen dieses Trottels im ersten Teil des Stückes Return from Parnassus ins Allgemeine: „Shakespeare war eine lebendige, atmende Präsenz, einer, dessen Gedichte sie auswendig kannten, dessen literarische Übungen sie genau verfolgten, so dass sie sich vorstellen konnten, eine Kopie seines Bildes in ihren Zimmern zu haben." (S. 269).

Doch mehr Evidenz als Gullios blasiert-dummen Spruch, der im Stück seine Hirnrissigkeit betonen sollte, hat Shapiro nicht. Das allgemeine „sie" ist nichts anderes als die sehr partikuläre fiktive Gestalt Gullio.

Auf Seite 3 schreibt Shapiro im Prolog:

„Wie alle guten detektivischen Fiktionen kann das Shakespeare-Geheimnis so gelöst werden, dass bestimmt wird, welche Evidenz glaubwürdig ist, dass Schritte rekonstruiert und falsche Spuren vermieden werden [meine Hervorhebungen]. Meine eigene Darlegung auf den Seiten, die folgen werden, unterscheidet sich darin nicht."

 "Like all good detective fiction, the Shakespeare mystery can be solved by determining what evidence is credible, retracing steps and avoiding false leads. My own account in the pages that follow is not different."

Welche Evidenz bietet Gullio? Eine sehr unglaubwürdige! Welche Spur lässt sich legen? Gar keine oder, was dasselbe bedeutet, eine grundfalsche!

2. F. G. Fleay

Im letzten Beitrag haben wir gesehen, dass beim Nichtzweifler Fleay doch etwas Verwunderung darüber mitschwingt, dass, anders als im Fall der Mehrzahl anderer zeitgenössischer Schriftsteller, von oder an Shakespeare gar keine Lobverse existierten. Es ist dias auch in anderen Hinsichten phantomhafte Dasein, dass zwar keine Zweifel an seiner Existenz, aber doch an seine Präsenz auslöst: seine Sorglosigkeit beim Druck seiner Stücke mit teilweise verhunzten Texten, während man bei anderen Stücken mit guten Texten eine Kooperation des Verfassers voraussetzen muss; die Tatsache, dass eine solche Kooperation 1604 völlig zum Erliegen kommt; die Herausgabe seiner Sonette ohne sein Zutun und ohne jeglichen Einspruch, usw., usf. Die Kette der Merkwürdigkeiten ist lang.

In seinem vorigen Buch 1599: A Year in the Life of William Shakespeare (2005) hatte er dem Problem mit einer Collage aus luftigen Mutmaßungen und der willkürlichen Interpretation eines Sonettes, auf die bisher noch kein Interpret der Sonette verfallen war, beizukommen versucht. Fünf Jahre später löst er es durch Ausklammerung.

„Abermals, mein Interesse betrifft nicht so sehr das, was die Leute denken - das ist immer wieder unmissverständlich ausgedrückt worden -, sondern warum sie das denken."

„ My interest, again, is not in what people think - which has been stated again and again in unambiguous terms - so much as why they think it." (S. 7)

Damit hat er sich, ziemlich geschickt, der Problemkette entledigt, allein nach einem Denkmuster, nach dem nicht so sehr Wissenschaft hervorgebracht wird, sondern Witze gestrickt werden, zum Beispiel dieser:

Ein Mann geht in ein Café und bestellt sich einen Cognac. Als ihm der Kellner den Cognac bringt, sagt er: „ Ich habe es mir anders überlegt, ich hätte lieber ein Kännchen Kaffee." Der freundliche Kellner nimmt den Cognac wieder mit und bringt ihm das Kännchen Kaffee. Als er den Kaffee getrunken hat, steht der Mann auf und will das Lokal verlassen. Der Kellner ruft: „Halt! Sie haben den Kaffee noch nicht bezahlt." Der Mann antwortet: „Dafür habe ich Ihnen doch den Cognac gegeben". Der Kellner: „Den haben Sie aber auch nicht bezahlt." Der Mann: „Den habe ich auch nicht getrunken."

Der Witz eignet sich als Analogie zu Shapiros Vorgehen. Denn der Mann im Witz definiert die kausale Beziehung zwischen Cognac und Kaffee um. Er interpretiert den Tausch von Cognac und Kaffee als ein Tauschgeschäft, so als hätte er den Cognac, der, da er ihn nicht bezahlt hatte, ihm nicht gehörte, dem Kellner geschenkt und als Gegenleistung dafür den Kaffee erhalten. Shapiro verfährt ähnlich. „Euer sachliches Warum?, den Cognac, schenke ich Euch, denn das interessiert mich nicht mehr, das hat mich in meinem vorigen Buch zwar noch interessiert, doch jetzt will ich Kaffee schlürfen, d. h. die Frage untersuchen, warum Ihr Probleme seht, denn ich selbst will in diesem Buch keine sehen; mich interessiert also das Wieso?, jenseits aller sachlichen Argumente."

Shapiro erzählt eigentlich einen Witz. Und witzig ist er, aber gewitzt nur insofern, als man auf diesen Trick nicht reinzufallen wünscht.

3. Eine Frage, von deren Antwort er sich selbst suspendiert hat

Auf Seite 8 heißt es: „Ihre Arbeiten [der Zweifler] haben mir geholfen, ein Rätsel im Herzen der Kontroverse zu lösen: Wieso begannen soviele Leute nach zwei Jahrhunderten zu zweifeln, ob Shakespeare die Stücke schrieb?"

Nun, weil erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Versuch gestartet wurde, vor allem angetrieben von Edmond Malone, empirisch gesicherte Tatsachen über Shakespeares Leben zu sammeln. Und weil der wohl eifrigste Nachfolger Malones (1741-1812), James Orchard Halliwell-Phillipps (1820-1889), eine Masse Daten sammelte, von denen aber keine auch nur die geringste kausale Beziehung zum Werk aufweisen. Unter dem Begriff „kausal" ist mehr zu verstehen als das Band zwischen Leben und Werk Es sind darunter auch Tatsachen zu verstehen wie:

  • Nach 1597 existiert kein Dokument, das ihn als Londoner Bürger ausweist: alle Dokumente bezeichnen ihn als Bürger von Stratford
  • In der Zeit nach 1597 ist kein fester Wohnsitz in London bekannt (in 1599: A Year in the Life of William Shakespeare hatte Shapiro noch versucht, einen solchen völlig unbewiesenen Wohnsitz auszumalen).

Außerdem vermitteln die Dokumente nicht nur den bloßen Eindruck, sondern es geht aus ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit hervor, dass er kaum in der Lage war, seinen Namen zu schreiben. Die Frage ist absurd, muss aber angesichts Shapiros Verlagerung des Problems in die Psyche der Zweifler dennoch gestellt werden: Liegt es vielleicht an unserem falschen Verständnis der Frühen Neuzeit, dass wir uns nicht vorstellen können, einer der seinen Namen kaum oder nicht schreiben konnte, der es unter allen bekannten Umständen vermied, ein Dokument zu unterzeichnen (eine Untersiegelung reicht ja zur Beglaubigung aus), könne auch kein Theaterstück schreiben?

Shapiro sucht den Schlüssel woanders:

„Ich habe die Erkenntnis gewonnen, dass sich die Verfasserschaftskontroverse um eine Handvoll mächtiger Gedanken dreht, die zwar wenig direkten Bezug zu Shakespeare haben, aber gründlich die Art und Weise ändern, wie sein Leben und Werk gelesen und interpretiert wird."

„I've also come to understand that the authorship controversy has turned on a handful of powerful ideas having little directly to do with Shakespeare but profoundly altering how his life and works would be read and interpreted." (S. 10).

Das ist seine Laterna magica, in deren Licht er den Schlüssel gefunden zu haben vermeint.

Und wieder bietet uns ein Witz die treffendste Analogie:

Es ist die Geschichte des Mannes, der unter einer Laterne nach seinem verlorenen Schlüssel sucht. Ein Passant fragt ihn, wonach er sucht. „Nach meinem verlorenen Schlüssel", antwortet der Mann. Der bereitwillige Passant such gemeinsam mit ihm, fragt dann doch nach einer Weile, ob er sicher sei, dass er seinen Schlüssel hier verloren habe. Der Mann antwortet: „Verloren habe ich ihn vor der Haustür, aber dort ist es dunkel und hier ist es hell."

Folgerichtig sucht Shapiro den Schlüssel im Licht seiner Laterna magica, denn geht man von den bekannten Fakten aus, steht man bei Shakespeare aus Stratford vor einem schwarzen Loch.

© Robert Detobel 2010