Shapiro-Tagebuch (35) Shapiros Kapitel I „Shakespeare"

Shakespeare, schreibt Shapiro, lebte nicht in einer Zeit der Memoirenschreiber, zumindest nicht in England (in Frankreich lagen die Dinge anders). Zu seiner Zeit führten wenige ein Tagebuch oder schrieben persönliche Essays wie Montaigne. Literarische Biografien standen erst am Anfang. Aber Ende des 19. Jahrhunderts war das anders geworden. Dann begann mit Edmond Malone (1741-1812) die empirische Shakespeare-Forschung.

Im 1821 postum erschienenen zweiten Band von Malones Works of Shakespeare erschien auch eine Biografie „Life of Shakespeare", die sich auf Dokumente stützte, deren Authentizität als gesichert galt. Die Biografie war nicht lang, konnte es auch nicht sein, denn was Malone bis dahin gefunden hatte, war nicht nur dürftig, sondern ließ sich in keinen nützlichen Zusammenhang mit den Werken bringen. Ein junger Mann namens William-Henry Ireland war ungleich erfolgreicher. Er fand und fand neue Dokumente. Unter der Masse neuer „Entdeckungen" befand sich ein Brief der Königin Elisabeth an Shakespeare, ein Brief Shakespeares an Southampton, ein bisher unbekanntes Shakespeare-Stück, ein Manuskript von König Lear in Shakespeares Handschrift, ein Brief Shakespeares an seine Frau, dem eine Haarlocke des Dichters beilag, die Armlehne des Sessels, in dem Shakespeare seiner künftigen Frau den Hof machte, usw. Nur Ireland fand nicht wirklich, er erfand, er war ein Fälscher. Malone, der gewissenhafte Forscher, der auch die Authentizität der einem unbekannten Dichter des 15. Jahrhunderts zugeschriebenen Gedichte Thomas Chattertons verneint hatte, war Irelands eifrigste Nemesis.

Und hier vollführt Shapiro eine bemerkenswerte Pirouette. Nicht Ireland wäre ihm zufolge der wahre Missetäter, sondern Malone selbst, der Adam des „biografischen Sündenfalls", der beharrlich die Erwartung hegte, es könnte eine dokumentarische Biografie Shakespeare geschrieben werden, die sich mit dem Werk sinnvoll verbinden ließe.

Malone war nicht der einzige Forscher, der eine solche Erwartung hegte. Auch James Boswell (1740-1795), der Verfasser einer vielbeachteten Biografie Samuel Johnsons, der zeitweise mit Malone zusammengearbeitet hatte, harrte einer solchen Shakespeare-Biografie und war ob Irelands „Entdeckungen" im höchsten Himmel (drei Monate später starb er). George Chalmers (1742-1825) verteidigte die Irelandschen „Entdeckungen" 1797 in seiner Schrift Apology for the Believers in the Shakespeare Papers which were exhibited in Norfolk Street.

Gar vor nur wenigen Jahren war sich ein Shakespeare-Forscher nicht zu schade, ein altes und etwas surrealistisches Gerücht, demzufolge Shakespeare die Rolle des alten Adam in Wie es Euch Gefällt gespielt haben soll, zu bemühen, um dem Leser ein etwas plastischeres, biografiebezogeneres Stück Shakespeare nahe zu bringen. Etwas, das Edmond Malone genauso wenig wie spätere Forscher als glaubwürdige Evidenz betrachtet hatten. Sein Name? James Shapiro in 1599: A Year in the Life of William Shakespeare.

Was Edmond Malone von James Boswell und George Chalmers unterschied, war nicht sein Verlangen, eine sinnvolle Shakespeare-Biografie zu schreiben, sondern die Weigerung, sein wissenschaftliches Ethos von diesem Verlangen überwältigen und außer Kraft setzen zu lassen. Wie es Stephen Greenblatt in seinem Will in the World tat. Nach Greenblatts Buch kam Shapiros o. g. Werk, das die Phantasie in mäßigeren Dosen und eingekapselt in Redlichkeits- und Weisheitsallüren verabreicht.

Worte der Weisheit beschließen auch den Abschnitt über Malone und Ireland.

„Etliche schimpften; ein Kritiker der St James's Chronicle sprach vielen aus dem Herzen, als er Malones Anstrengungen, die Shakespeareforschung zu dominieren, als den Akt eines 'Diktators auf Lebenszeit' [Anmerkung - Anspielung auf Julius Caesar] verspottete. Aber Malone hatte sein Ziel erreicht: die Ireland-Affäre erwies sich als ein vollkommener Weg zu unterscheiden zwischen denen, die über genug Wissen verfügten, über Shakespeares Verfasserschaft zu urteilen, und jenen, die dazu nicht genug wussten. Die nachhaltigste Lehre dieser Episode ist, dass bestimmte Leute darin verharren werden zu glauben, was sie zu glauben wünschen - in diesem Fall, dass Shakespeare der Autor der Ireland-Dokumente war."

"Many chafed at this; a critic in the St James's Chronicle spoke for many when he derided Malone's efforts to dominate Shakespeare scholarship as an act of a 'Dictator perpetuo'. But Malone had made his point: the Ireland incident had turned out to be a perfect way to distinguish those who knew enough to pass judgement about Shakespeare's authorship from those who didn't. The most enduring lesson of this episode is that some people will persist in believing what they want to believe - in this case that Shakespeare really was the author of the Ireland documents." (S. 37)

Man fragt sich doch: Schwingt im Groll des Unterschwelligkeitsforschers Shapiro gegen Malone nicht auch unterschwellig der Groll mit, dass letzterer zweierlei verband: einen bis zu einem gewissen Grade biografischen Ansatz mit einer möglichst empirischen Verifikation? Und vielleicht die Einsicht, dass Malones Projekt gescheitert ist, weil es scheitern musste? Weshalb es der Orthodoxie gescheiter vorkommen müsste, mit Malone dessen beide Zielsetzungen - natürlich in der Verkleidung der Redlichkeit - über Bord zu werfen.

© Robert Detobel 2010