Shapiro-Tagebuch (36) Shapiros Kapitel I „Shakespeare" Teil 2

Der zweite Abschnitt ist in Anspielung auf die zweite Zeile des Sonettes 93, überschrieben „Like a deceived husband" („Wie ein betrogner Gatte"). Shapiro setzt seinen Feldzug gegen Malone fort. Malone hatte die Aussage wörtlich interpretiert. Für Shapiro hat diese Interpretation exemplarischen Stellenwert als „Büchse der Pandora", die Malone in seinem Versuch, eine Chronologie der Stücke zu konstruieren, geöffnet hat. Malones Büchse und Pandoras Büchse haben höchstens dies gemeinsam, dass, nachdem alle Übel in die Welt entwichen waren, auf dem Boden der Büchse die Hoffnung lag. Aber welche Übel hat Malone in die Welt der Shakespeareforschung ausgesandt? Shapiros Antwort lautet: die „topicalities", die Vorstellung, dass Shakespeares Gedichte und Stücke Anspielungen auf aktuelle Ereignisse enthalten müssten, was wiederum ihm, Malone, bei der Datierung der Stücke behilflich sein sollte.  

Malone hatte in einer Fußnote zu Sonett 93 geschrieben: „Jeder Autor, der über eine Vielzahl Themen schreibt, wird gelegentlich die Möglichkeit haben zu beschreiben, was er selbst empfunden hat." Er hatte aus Sonett 93 gefolgert, dass zwischen Shakespeare und Anne Hathaway keine große Liebe bestanden hätte. Ob auch das „zweitbeste Bett" ihm dabei vor Augen gestanden hat, wissen wir nicht. Dass Malone an dieser Stelle ein Fauxpas unterlief, ist kaum zu bestreiten. Doch das Thema der Sonette kann einstweilen zurückgestellt werden, da es im Zentrum des dritten Abschnittes des ersten Kapitels steht.

Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass hinter Shapiros Angriff auf Malone ein Angriff auf den Oxfordianismus lauert.

"Ich glaube nicht, dass Malone dies wirklich zu Ende gedacht hat - er versuchte bloß, eine wackelige Chronologie abzustützen und seine Kenntnisse der elisabethanischen Kultur vorzuzeigen. Aber dabei vergaß er fahrlässig, eine Brandtür zu schließen." („I don't think that Malone really thought this through - he was just trying to bolster a shaky chronology and show off his knowledge of Elizabethan culture. But in doing so he carelessly left open a fire door."- S. 43)

Zwei Fragen müssen hier gestellt werden. Was ist die „wackelige Chronologie", die Malone mit seinen „topicalities" (d. h. Bezügen zu aktuellen Ereignissen) abzustützen versuchte? Es ist der Versuch, eine Chronologie zu etablieren, die von der Prämisse ausging, Shakespeare aus Stratford sei der Verfasser und müsse deshalb die Stücke in der Zeit zwischen 1592 und 1611 geschrieben haben, als er in London verweilte. Es ist die Chronologie, der Edmund K. Chambers möglichst treu zu bleiben versuchte. Es ist die im Wesentlichen immer noch absolute Geltung beanspruchende orthodoxe Chronologie. Ich glaube nicht, dass Shapiro diese seine Aussage ganz zu Ende gedacht hat. Nicht ganz - aber doch ein Stück weit zum Ende hin. Denn Shapiro redet im Zusammenhang mit The Tempest nicht ein einziges Mal von den Bermudas, dem Schiffbruch im Jahre 1609 und dem Strachey-Bericht, der so oft als Königsargument gegen die Verfasserschaft Edward de Veres ins Feld geführt worden ist. Auch dies ist eine Anspielung auf die Aktualität, eine „topicality", die auf Malone zurückgeht (dass Shapiro von einer Chronologie spricht, die „shaky" sei, ist vielleicht eher als „typocality", „Tippfehlerhaftigkeit" zu bezeichnen).

Spätere Forscher, Edmund K. Chambers ist hier in erster Linie zu nennen, haben sich von „topicalities" weitgehend losgesagt und sich damit auch von Malone entfernt. Es wundert denn auch ein wenig, dass Shapiro so vehement auf einen Forscher losgeht wegen einer Methode, die an der eigenen Üppigkeit zeitweilig verwelkte. Bezüge zur Aktualität sind zweifellos bei Shakespeare vorhanden, aber das Spiel der Anspielungen gerät leicht aus den Fugen. Für viele „aktuelle" Bezüge und für viele zeitgenössische Personen lassen sich oft mehr oder wenig lange Doppelgängerreihen bilden.

Was Shapiro m. E. zu befürchten scheint, ist, dass die „Brandtür", die Malone mit seiner Suche nach aktuellen und biografischen Materialien achtlos geöffnet gelassen haben soll, vor allem von den Oxfordianern genutzt werden könnte, um Brand im orthodoxen Gebäude zu stiften und sich dabei auch noch auf den Gründungsvater der Shakespeareforschung zu berufen. So löst innerhalb ein und derselben Religion eine Richtung die andere ab. Für die herrschende Orthodoxie sind diejenigen, die eine Rückkehr zum reinen ursprünglichen Glauben fordern, Ketzer; für letztere sind die Orthodoxen Abgötter anbetende Renegaten.

Malone, schreibt Shapiro, fand einen weiteren Beweis für Shakespeares eifersüchtige Gefühle gegenüber seiner Frau in vier Shakespeare-Stücken, insbesondere in Othello, wo „einige Stellen derart außerordentlich einfühlsam geschrieben sind, dass sie der Vermutung Nahrung geben, der Verfasser sei selbst von Zweifeln zersetzt gewesen, wenn vielleicht auch nicht  dermaßen extrem." (S. 46) Es ist ein Satz, den man recht gut auf das Verhältnis von Edward de Vere zu seiner Gattin Anne übertragen könnte. Was Hamlet Ophelia vorwirft: sich zum Instrument ihres Vaters machen zu lassen, das hat Oxford in einem erhaltenen Brief ähnlich seinem Schwiegervater Lord Burghley vorgeworfen (im Brief vom 27. April 1576: „mehr Euer oder ihrer Mutter Tochter als meine Frau"). Und es gibt solcher Bezüge noch mehr. Malones Streben nach autobiografischen und aktuellen Bezügen wäre bei Oxford auf seine Kosten gekommen. Bei Shakespeare und Anne Hathaway würde es im nicht einmal zweitbesten Kindbett totgeboren.

Das scheint mir auch der Grund zu sein, weshalb Shapiro im Kapitel über Oxford schreibt, Eva Turner Clark habe versucht, für Oxford das zu tun, was Edmund Malone für Shakespeare getan habe. (S. 216) Eva Turner Clark hat ein voluminöses Werk Hidden Allusions in Shakespeare's Plays (1931) geschrieben, über das sich der orthodoxe Shakespeareforscher Alfred Harbage mokiert hat. Zu Recht übrigens, denn Clarks „topicalities" bewegen sich oft in tropisch feuchter Spekulationsluft. Dass allerdings Freud von dem Werk beeindruckt gewesen sein soll, wie Shapiro schreibt, ist mir nicht bekannt. Und Shapiro unterlässt es auch, seine Behauptung zu belegen. Freud hat sich zwar positiv über Gerald H. Rendalls Shakespeare's Sonnets and Edward de Vere (1930) geäußert, doch meines Wissens nie über Eva Turner Clark.

Man müsste nachfragen, auf welche Quelle Shapiro sich hier beruft, um zu erfahren, ob er hier regelgerecht den Ball oder absichtlich Foul am Mann spielt... ehe man die rote Karte zeigt.

© Robert Detobel 2010