Shapiro-Tagebuch (37) Shapiros Kapitel I „Shakespeare" Teil 3

 „Als Boswell 1821 eine auf den neuesten Stand gebrachte Fassung von Malones Shakespeare's Plays and Poems herausgab, war es bereits 'Allgemeingut, dass der Dichter in den Sonetten in eigenem Namen sprach' ". („By the time that Boswell brought out an updated edition of Malone's Shakespeare's Plays and Poems in 1821, it was already 'generally admitted that the poet speaks in his own person' in the Sonnets." - S. 53)

Oder anders ausgedrückt: als ein Ich spricht. Was er auch tut. Es geht Shapiro darum, dass man aus den Sonetten nicht im Geringsten Autobiografisches entnehmen kann. Er zitiert, ablehnend, William Wordsworths (1770-1850) berühmtes Wort „mit diesem Schlüssel [den Sonetten] hat Shakespeare sein Herz geöffnet".

Um solche Behauptungen aus dem Feld zu schlagen, fragt Shapiro spöttisch: „Hatte Shakespeare Syphilis, wie im Sonett 144 angedeutet wird?" Der Spötter hat aber auch hier nicht richtig hingeschaut, sei es bei der Niederschrift, sei es beim Korrekturlesen. Sonett 144 enthält nichts, was sich mit einer Erkrankung an Syphilis in Verbindung bringen ließe, dagegen wohl die beiden letzten Sonette 153 und 154; die Zeilen 11 und 12 des letzteren Sonettes dürften gemeint sein: „Growing a bath and healthful remedy/For men diseased" [Ein Bad nun ward, worin Genesung fand/So manche Kranke".] Tatsächlich gehörte zu den Behandlungsmethoden der Syphilis auch das Heißdampfbad, so dass man die Zeilen 9-12 dieses Sonettes so deuten könnte. Sie sind hier und dort auch derart konkretistisch gedeutet worden. (Man könnte sich hier Shapiros Spott anschließen.)

Aber nicht nur hat er sich wohl um zehn Nummern verzählt, sondern sein Gedächtnis gerät hier ziemlich kurz. Fünf Jahre vorher war er sich in einem ähnlichen Konkretismus ergangen. In 1599: A Year in the Life of William Shakespeare unternahm er selbst Ausgrabungen nach biografischen Anknüpfungspunkten zu den Sonetten (S. 79-81 und S. 263-7).

Am Samstag 13. Januar 1599 wurde Edmund Spenser beerdigt. Shakespeare war nicht anwesend, zumindest besteht im Gegensatz zu mehreren anderen Dichtern kein zeitgenössischer Beleg seiner Anwesenheit. Aber Shapiro zufolge war er anwesend, kehrte nach Hause zurück, blätterte durch eine an den Rändern zerfranste Ausgabe von Spensers Gedichten und schrieb Sonett 106. So hätten wir, dürften wir Shapiros hausbackener Interpretation folgen, ein Datum mehr: Shakespeare schrieb Sonett 106 am 13. Januar 1599 nach seiner Rückkehr von Edmund Spensers Beerdigung in Westminster. Die Zeilen:

                            ..... descriptions of the fairest wights
                         And beauty making beautiful old rhyme
                        In praise of ladies dead and lovely knights.

- so Shapiro im Jahr 2005 - würden sich auf Spensers Poesie beziehen. Auf welche? Welchen an den Rändern ausgefransten Band hätte Shakespeare in die Hand genommen? The Fairie Queene? Dort ist von verschiedenen „ladies" und „knights" die Rede, aber keine „lady" stirbt darin. Weitere abschweifende Kommentare erübrigen sich: denn die Verse, wie Shapiro sie zitiert, sind völlig aus dem Zusammenhang gerissen und bilden einen Torso des ganzen Sonettes, einen Torso der ersten Strophe und einen Torso der zweiten Zeile dieser Strophe. Der erste Satz der ersten Strophe schließt einen Bezug auf Spenser aus. Deshalb lässt Shapiro ihn aus, dazu auch die beiden ersten Worte der zweiten Zeile:

When in the chronicle of wasted time,
I see descriptions of the fairest wights,
And beauty making beautiful old rhyme,
In praise of ladies dead, and lovely knights,

Wenn ich in der zerronnen zeiten buch
Gezeichnet seh der schönsten leute bild 
Macht dort die schönheit schönen alten spruch
Zum preis von damen und von rittern mild:

                                                           (Übersetzung von Stefan George)

Helen Vendler (The Art of Shakespeare's Sonnets) fasst das Sonett 106 so zusammen: „Das Blasphemische an Shakespeares Säkularisierung messianischer Prophezeiungen würde selbstverständlich jedem zeitgenössischen Leser klar gewesen sein." ("Shakespeare's blasphemy in secularizing Messianic prophecy would have been clear, of course, to any contemporary reader.")

Denn das ist das Leitmotiv dieses Sonettes: Der Jüngling wird mit dem Messias verglichen, dessen Kommen von den alttestamentarischen Propheten vorausgesagt worden war. Deren Prophezeiungen hätten aber der Schönheit des Jünglings der Sonette gegolten; da sie ihn aber nur vorausschauen („divining eyes"), nicht anschauen konnten, gelang es ihnen nicht, seinen Wert angemessen zu besingen. Dass der Dichter auf „sehr ferne Zeiten" zurückblickt, kommt in der ersten Zeile zum Ausdruck: „chronicles of wasted time", dass der Dichter zurückblickt, ein Ich hier zurückblickt in den beiden ersten Worten der zweiten Zeile: „I see". Beides hat Shapiro unterdrückt, um - fälschungs- oder faschingsgleich - seine ziemlich possierliche Verbindung zu Spenser herzustellen.

In Shakespeares Sonetten folgen oft zwei, drei oder auch mehr themengleiche Sonette aufeinander: etwa 41, 42 und 43; 64 und 65; 124 und 125. In diesem Fall ist Sonett 105 der Zwillingsbruder von 106. In beiden Fällen ist der Grundgedanke ein verspielt blasphemischer, denn der Jüngling wird über Gott und Götter erhoben. Da es sich um ein reines Gedankenspiel handelt, ist kein autobiografisches Substrat erkennbar. Bei Sonett 106 hat ihn Shapiro dennoch mit einer Willkür herbeigezwungen, der sich Edmond Malone (Shapiros Sündenbock in Contested Will, den er wegen biografischer Auslegung der Sonette tadelt), so krass nicht schuldig gemacht hätte. Shapiro hätte das „Abwegige" dieses Ansatzes an einem viel besseren Beispiel demonstrieren können: an seiner eigenen hochgradig verzerrten Deutung des Sonetts 106  fünf Jahre zuvor.

Oder aber und vielleicht gar noch besser an der eigenen etwas kauzigen Deutung der Sonette 27 und 50 auf Seiten 263-7 von 1599: A Year in the Life of William Shakespeare.

Weary with toil, I haste me to my bed,
The dear respose for limbs with travel tired,
But then begins a journey in my head
To work my mind, when body's work's expired.

[[Von Mühsal abgehärmt, eile ich zu meinem Bett,
Der teuren Ruhestatt für Glieder müde vom Reisen,
Doch dann beginnt eine Reise im Kopf,
Auf meinen Geist zu wirken, nachdem des Körpers Arbeit getan ist.]

Shapiro setzt dieses Sonett in Bezug zu Shakespeares Reisen zwischen Stratford und London und findet ein konkretes Anschlussereignis. „Shakespeares Name wurde auf einer Liste zu den Namen von etwa siebzig anderen Leuten hinzugefügt, die einen parlamentarischen Gesetzentwurf 'für die bessere Instandsetzung der Landstraßen und die Schließung verschiedener Lücken in den bereits verabschiedeten Gesetzen' unterstützten. Er handelte dabei aus Eigennutz, da er wusste, wie mühsam und beschwerlich das Reisen auf dürftig gepflegten Straßen war - was er in Sonett 27 zum Ausdruck gebracht hatte." (S. 263)

Das von Shapiro eingesetzte Instrument zur Veranschaulichung von Shakespeares „mühseligen" Reisen zwischen London und Stratford kann man kaum als Gemälde bezeichnen, auch nicht als Stich, auch nicht als Collage: Es ist vielmehr ein Konditoreischaufenster, in dem verschiedene Tortensorten wohlgeordnet aber beziehungslos nebeneinander stehen. Zu den Tortensorten gehören: ein Hinweis auf den Bericht des deutschen Englandbesuchers Paul Hentzner; ein Vierzeiler, den die Prinzessin Elisabeth im Gefängnis mit Holzkohle auf einer Fensterlade schrieb; dazu gehört auch ein Abstecher zu den Rollright Stones. An dieser Stelle ist der Blick des Lesers durch die irrlichternden Assoziationen schon so trüb geworden, dass es ihm passieren könnte, es so zu verstehen, als würde Shakespeares unterwegs ein Konzert der Rolling Stones besucht haben, doch es handelt sich um eines der unter dem Sammelbegriff Stonehenge gefassten uralten Steinkomplexe der Grafschaft Wiltshire.

Im Konditoreischaufenster befindet sich auch das ganze Sonett 50. In diesem Sonett misst der Dichter die zurückgelegte Strecke in Meilen als Meilenabstand von dem Freund - was Shapiro übergeht, da in seiner Phantasie der Dichter die Meilen zählen müsste, die ihn noch von der Familie in Stratford trennen. In diesem Sonett ist zwar auch von einer Reise die Rede, aber weder hier noch in Sonett 27 ist auch nur die leiseste Anspielung auf unzulängliche Wegepflege zu erkennen.

Welche Liste war das mit den Namen von etwa siebzig Personen, zu denen Shakespeares Name hinzugefügt wurde? In E. K. Chambers' Shakespeare, Band II, S. 152-3 finden sich alle Angaben, die hier, da sie aus nur wenigen Zeilen bestehen, vollständig, einschließlich Chambers' knappem Kommentar, wiedergegeben werden:

<< Wednesdaye the xjth of September 1611
Colected towardes the charge of prosecutyng the Bill in parliament for the better Repayre of the highe waies and amendinge divers defectes in the Statutes alredy made.
List of seventy-one names follows; in margin is added
Mr William Shackspere.
[Bills dealing with highways were before the House of Commons during the sessions of 9 Feb.-23 July 1610 and 5 Apr. - 7 June 1614, but did not get beyond the Commitee stage.]

Demnach würde Mr William Shackspere damit bewiesen haben, dass er es mit den Sonetten 27 und 50 ernst gemeint hatte. Es ist diese Art von Konstruktionen, die Mark Twain zu seinem beißenden Kommentar veranlasst hatte. Was würde er heute zu Shapiros Interpretationen wohl schreiben? Vielleicht dies:

„Obwohl der Name William Shackspere an hervorgehobener Stelle im Rande der Liste erschien und er selbst sich in seinen Sonetten 27 und 50, die seit 1609 im Druck vorhanden waren, sehr vernehmlich über den schlechten Zustand der Landstraßen beklagt hatte, wurde der Eifer der Abgeordneten durch die Kritik des größten englischen Dichters nicht angespornt, denn die Gesetzentwürfe gelangten nicht zur Abstimmung. Ob er im Herbst 1611 noch ein weiteres Anklagesonett geschrieben hat, ist nicht bekannt. Würde er jedoch, so würde er darin wahrscheinlich ganz deutlich geworden sein und diesmal expressis verbis zu verstehen gegeben haben, dass er eine Ausbesserung der Landstraßen anmahnte. Usw."

Niemand sage, Shapiro hätte keinen Humor. Mag dieser auch schwarz sein, es ist doch Humor, aber wie die Ehrlichkeit des Autolykus manchmal unfreiwillig.

© Robert Detobel 2010